Unweit
von Bozen, auf einer mäßigen Höhe, im Walde wie
versunken und von der Landstraße aus kaum sichtbar, liegt die kleine
Besitzung
des Freiherrn von Schottenegg. Ein Freund, der seit zehn Jahren als
Arzt in
Meran lebt und dem ich im Herbste dort wieder begegnete, hatte mich mit
dem
Freiherrn bekannt gemacht. Dieser war damals fünfzig Jahre alt und
dilettierte
in mancherlei Künsten. Er komponierte ein wenig, war tüchtig auf
Violine und
Klavier, auch zeichnete er nicht übel. Am ernstesten aber hatte er in
früherer
Zeit die Schauspielerei getrieben. Wie es hieß, war er als ganz junger
Mensch
unter angenommenem Namen ein paar Jahre lang auf kleinen Bühnen draußen
im
Reiche umhergezogen. Ob nun der dauernde Widerstand des Vaters,
unzureichende
Begabung oder mangelndes Glück der Anlaß war, jedenfalls hatte der
Freiherr
diese Laufbahn früh genug aufgegeben, um noch ohne erhebliche
Verspätung in den
Staatsdienst treten zu können und damit dem Beruf seiner Vorfahren zu
folgen,
den er dann auch zwei Jahrzehnte hindurch treu, wenn auch
ohne Begeisterung erfüllte. Aber als er, kaum über vierzig Jahre alt,
gleich
nach dem Tode des Vaters, das Amt verließ, sollte sich erst zeigen, mit
welcher
Liebe er an dem Gegenstand seiner jugendlichen Träume noch immer hing.
Er ließ die
Villa auf dem Abhang des Guntschnaberges instand setzen und versammelte
dort,
insbesondere zur Sommers- und Herbstzeit, einen allmählich immer größer
werdenden Kreis von Herren und Damen, die allerlei leicht zu agierende
Schauspiele oder lebende Bilder vorführten. Seine Frau, aus einer alten
Tiroler
Bürgerfamilie, ohne wirkliche Anteilnahme an künstlerischen Dingen,
aber klug
und ihrem Gatten mit kameradschaftlicher Zärtlichkeit zugetan, sah
seiner
Liebhaberei mit einigem Spotte zu, der sich aber um so gutmütiger
anließ, als
das Interesse des Freiherrn ihren eigenen geselligen Neigungen
entgegenkam. Die
Gesellschaft, die man im Schlosse antraf, mochte strengen Beurteilern
nicht
gewählt genug erscheinen, aber auch Gäste, die sonst nach Geburt und
Erziehung
zu Standesvorurteilen geneigt waren, nahmen keinerlei Anstoß an der
zwanglosen
Zusammensetzung eines Kreises, die durch die dort geübte Kunst genügend
gerechtfertigt schien und von dem überdies der Name und Ruf des
freiherrlichen
Paares jeden Verdacht freierer
Sitten durchaus
fernhielt. Unter manchen anderen, deren ich mich nicht mehr entsinne,
begegnete
ich auf dem Schlosse einem jungen Grafen von der Innsbrucker
Bezirkshauptmannschaft, einem Jägeroffizier aus Riva, einem
Generalstabshauptmann mit Frau und Tochter, einer Operettensängerin aus
Berlin,
einem Bozener Likörfabrikanten mit zwei Söhnen, dem Baron Meudolt, der
damals
eben von seiner Weltreise zurückgekommen war, einem pensionierten
Hofschauspieler aus Bückeburg, einer verwitweten Gräfin Saima, die als
junges
Mädchen Schauspielerin gewesen war, mit ihrer Tochter, und dem
dänischen Maler
Petersen.
Im
Schlosse selbst wohnten nur die wenigsten Gäste.
Einige nahmen in Bozen Quartier, andere in einem bescheidenen Gasthof,
der
unten an der Wegscheide lag, wo eine schmälere Straße nach dem Gute
abzweigte.
Aber meist in den ersten Nachmittagsstunden war der ganze Kreis oben
versammelt, und dann wurden, manchmal unter der Leitung des ehemaligen
Hofschauspielers, zuweilen unter der des Freiherrn, der selbst niemals
mitwirkte, bis in die späten Abendstunden Proben abgehalten, anfangs
unter
Scherzen und Lachen, allmählich aber mit immer größerem Ernste, bis der
Tag der
Vorstellung heran nahte,
und je nach Witterung, Laune,
Vorbereitung, möglichst mit Rücksicht auf den Schauplatz der Handlung,
entweder
auf dem an den Wald grenzenden Wiesenplatz hinter dem Schloßgärtchen
oder in
dem ebenerdigen Saal mit den drei großen Bogenfenstern die Aufführung
stattfand.
Als
ich das erstemal den Freiherrn besuchte, hatte ich
keinen anderen Vorsatz, als an einem neuen Ort unter neuen Menschen
einen
heiteren Tag zu verbringen. Aber wie das so kommt, wenn man ohne Ziel
und in
vollkommener Freiheit umherstreift, und überdies bei allmählich
schwindender
Jugend keinerlei Beziehungen bestehen, die lebhafter in die Heimat
zurückrufen,
ließ ich mich vom Freiherrn zu längerem Bleiben bereden. Aus dem einen
Tag
wurden zwei, drei und mehr, und so, zu meiner eignen Verwunderung
wohnte ich
bis tief in den Herbst oben auf dem Schlößchen, wo mir in einem kleinen
Turm
ein sehr wohnlich ausgestattetes Zimmer mit dem Blick ins Tal
eingeräumt war.
Dieser erste Aufenthalt auf dem Guntschnaberg wird für mich stets eine
angenehme und, trotz aller Lustigkeit und alles Lärms um mich herum,
sehr
stille Erinnerung bleiben, da ich mit keinem der Gäste anders als
flüchtig
verkehrte und überdies einen großen Teil meiner Zeit, zu Nachdenken
und Arbeit gleichermaßen angeregt, auf einsamen Waldspaziergängen
verbrachte.
Auch der Umstand, daß der Freiherr aus Höflichkeit einmal eines meiner
kleinen
Stücke darstellen ließ, störte die Ruhe meines Aufenthaltes nicht, da
niemand
von meiner Eigenschaft als Verfasser Notiz nahm. Vielmehr bedeutete mir
dieser
Abend ein höchst anmutiges Erlebnis, da mit dieser Aufführung auf
grünem Rasen,
unter freiem Himmel ein bescheidener Traum meiner Jugendjahre so spät
als
unerwartet in Erfüllung ging.
Die
lebhafte Bewegung im Schlosse ließ allmählich
nach, der Urlaub der Herren, die in einem Berufe standen, war
großenteils
abgelaufen, und nur manchmal kam Besuch von Freunden, die in der Nähe
ansässig
waren. Erst jetzt gewann ich selbst zu dem Freiherrn ein näheres
Verhältnis und
fand bei ihm zu einiger Überraschung mehr Selbstbescheidung, als sie
Dilettanten sonst eigen zu sein pflegt. Er täuschte sich keineswegs
darüber,
daß das, was auf seinem Schlosse getrieben wurde, nichts anderes war,
als eine
höhere Art von Gesellschaftsspiel. Aber da es ihm im Gange seines
Lebens
versagt geblieben war, in eine dauernde und ernsthafte Beziehung zu
seiner
geliebten Kunst zu treten, so ließ er sich an dem Schimmer genügen, der
wie aus
entlegenen Fernen über
das harmlose Theaterwesen im
Schlosse geglänzt kam, und freute sich überdies, daß hier von mancher
Erbärmlichkeit, die das Berufliche doch überall mit sich bringt, kein
Hauch zu
spüren war.
Auf
einem unserer Spaziergänge sprach er ohne jede
Zudringlichkeit den Einfall aus, einmal auf seiner Bühne im Freien ein
Stück
dargestellt zu sehen, das schon in Hinblick auf den unbegrenzten Raum
und auf
die natürliche Umgebung geschaffen wäre. Diese Bemerkung kam einem
Plan, den
ich seit einiger Zeit in mir trug, so ungezwungen entgegen, daß ich dem
Freiherrn versprach, seinen Wunsch zu erfüllen.
Bald
darauf verließ ich das Schloß.
In
den ersten Tagen des nächsten Frühlings schon
sandte ich mit freundlichen Worten der Erinnerung an die schönen Tage
des
vergangenen Herbstes dem Freiherrn ein Stück, wie es den Forderungen
der
Gelegenheit wohl entsprechen mochte. Bald darauf traf die Antwort ein,
die den
Dank des Freiherrn und eine herzliche Einladung für den kommenden
Herbst
enthielt. Ich verbrachte den Sommer im Gebirge, und in den ersten
Septembertagen bei einbrechender kühler Witterung reiste ich an den
Gardasee,
ohne daran zu denken, daß ich nun dem Schlosse des Freiherrn von
Schottenegg
recht nahe war. Ja mir ist
heute, als hätte ich zu
dieser Zeit das kleine Schloß und alles dortige Treiben völlig
vergessen
gehabt. Da erhielt ich am 8. September aus Wien ein Schreiben des
Freiherrn
nachgesandt. Dieses sprach ein gelindes Erstaunen aus, daß ich nichts
von mir
hören ließe, und enthielt die Mitteilung, daß am 9. September die
Aufführung
des kleinen Stückes stattfände, das ich ihm im Frühling übersandt hatte
und bei
der ich keineswegs fehlen dürfte. Besonderes Vergnügen versprach mir
der
Freiherr von den Kindern, die in dem Stück beschäftigt waren und die es
sich
jetzt schon nicht nehmen ließen, auch außerhalb der Probezeit in ihren
zierlichen Kostümen umherzulaufen und auf dem Rasen zu spielen. Die
Hauptrolle
– so schrieb er weiter – sei nach einer Reihe von Zufälligkeiten an
seinen
Neffen, Herrn Franz von Umprecht, übergegangen, der – wie ich mich
gewiß noch
erinnere – im vorigen Jahre nur zweimal in lebenden Bildern mitgewirkt
habe,
der aber nun auch als Schauspieler ein überraschendes Talent erweise.
Ich
reiste ab, war abends in Bozen und kam am Tage der
Vorstellung im Schlosse an, wo mich der Freiherr und seine Frau
freundlich
empfingen. Auch andere Bekannte hatte ich zu begrüßen: den
pensionierten
Hofschauspieler, die Gräfin Saima mit Tochter,
Herrn
von Umprecht und seine schöne Frau; sowie die vierzehnjährige Tochter
des
Försters, die zu meinem Stücke den Prolog sprechen sollte. Für den
Nachmittag
wurde große Gesellschaft erwartet und abends bei der Vorstellung
sollten mehr
als hundert Zuschauer anwesend sein, nicht nur persönliche Gäste des
Freiherrn,
sondern auch Leute aus der Gegend ringsum, denen heute, wie schon
öfter, der
Zugang zu dem Bühnenplatz freistand. Überdies war diesmal auch ein
kleines
Orchester engagiert, aus Berufsmusikern einer Bozener Kapelle und
einigen
Dilettanten bestehend, die eine Ouvertüre von Weber und überdies eine
Zwischenaktsmusik exekutieren sollten, welch letztere der Freiherr
selbst
komponiert hatte.
Man
war bei Tisch sehr heiter, nur Herr von Umprecht
schien mir etwas stiller als die anderen. Anfangs hatte ich mich seiner
kaum
entsinnen können, und es fiel mir auf, daß er mich sehr oft, manchmal
mit
Sympathie, dann wieder etwas scheu ansah, ohne je das Wort an mich zu
richten.
Allmählich wurde mir der Ausdruck seines Gesichtes bekannter, und
plötzlich
erinnerte ich mich, daß er voriges Jahr in einem der lebenden Bilder
mit
aufgestützten Armen in Mönchstracht vor einem Schachbrett gesessen war.
Ich
fragte ihn, ob ich mich nicht irrte. Er wurde
beinahe verlegen, als ich ihn ansprach; der Freiherr antwortete für ihn
und
machte dann eine lächelnde Bemerkung über das neuentdeckte
schauspielerische
Talent seines Neffen. Da lachte Herr von Umprecht in einer ziemlich
sonderbaren
Weise vor sich hin, dann warf er rasch einen Blick zu mir herüber, der
eine Art
von Einverständnis zwischen uns beiden auszudrücken schien und den ich
mir
durchaus nicht erklären konnte. Aber von diesem Augenblick an vermied
er es
wieder, mich anzusehen.