Arthur Schnitzler
Der blinde Geronimo und sein Bruder
Der
blinde Geronimo und sein Bruder
Am späten Nachmittage kam die Post aus Tirol und
bald darauf in kleinen Zwischenpausen Wagen, die den
gleichen Weg nach dem Süden nahmen. Noch viermal mußten die Brüder in
den Hof
hinab. Als sie das letztemal heraufgingen, war die Dämmerung
hereingebrochen,
und das Öllämpchen, das von der Holzdecke herunterhing, fauchte.
Arbeiter
kamen, die in einem nahen Steinbruche beschäftigt waren und ein paar
hundert
Schritte unterhalb des Wirtshauses ihre Holzhütten aufgeschlagen
hatten.
Geronimo setzte sich zu ihnen; Carlo blieb allein an seinem Tische. Es
war ihm,
als dauerte seine Einsamkeit schon sehr lange. Er hörte, wie Geronimo
drüben
laut, beinahe schreiend, von seiner Kindheit erzählte: daß er sich noch
ganz
gut an allerlei erinnerte, was er mit seinen Augen gesehen, Personen
und Dinge:
an den Vater, wie er auf dem Felde arbeitete, an den kleinen Garten mit
der
Esche an der Mauer, an das niedrige Häuschen, das ihnen gehörte, an die
zwei
kleinen Töchter des Schusters, an den Weinberg hinter der Kirche, ja an
sein
eigenes Kindergesicht, wie es ihm aus dem Spiegel entgegengeblickt
hatte. Wie
oft hatte Carlo das alles gehört. Heute ertrug er es nicht. Es klang
anders als
sonst: jedes Wort, das Geronimo sprach, bekam einen neuen Sinn und
schien sich
gegen ihn zu richten. Er schlich hinaus und ging wieder auf die
Landstraße, die nun ganz im Dunkel lag. Der Regen hatte
aufgehört, die Luft war sehr kalt, und der Gedanke erschien Carlo
beinahe
verlockend, weiterzugehen, immer weiter, tief in die Finsternis hinein,
sich am
Ende irgendwohin in den Straßengraben zu legen, einzuschlafen, nicht
mehr zu
erwachen. – Plötzlich hörte er das Rollen eines Wagens und erblickte
den
Lichtschimmer von zwei Laternen, die immer näher kamen. In dem Wagen,
der
vorüberfuhr, saßen zwei Herren. Einer von ihnen mit einem schmalen,
bartlosen
Gesichte fuhr erschrocken zusammen, als Carlos Gestalt im Lichte der
Laternen
aus dem Dunkel hervortauchte. Carlo, der stehen geblieben war, lüftete
den Hut.
Der Wagen und die Lichter verschwanden. Carlo stand wieder in tiefer
Finsternis. Plötzlich schrak er zusammen. Das erstemal in seinem Leben
machte
ihm das Dunkel Angst. Es war ihm, als könnte er es keine Minute länger
ertragen. In einer sonderbaren Art vermengten sich in seinem dumpfen
Sinnen die
Schauer, die er für sich selbst empfand, mit einem quälenden Mitleid
für den
blinden Bruder und jagten ihn nach Hause.
Als er in die Wirtsstube trat, sah er die beiden
Reisenden,
die vorher an ihm vorbeigefahren waren, bei einer Flasche Rotwein an
einem
Tische sitzen und sehr angelegentlich miteinander
reden. Sie blickten kaum auf, als er eintrat.
An dem anderen Tische saß Geronimo wie früher
unter
den Arbeitern.
»Wo steckst du denn, Carlo?« sagte ihm der Wirt
schon
an der Tür. »Warum läßt du deinen Bruder allein?«
»Was gibt’s denn?« fragte Carlo erschrocken.
»Geronimo traktiert die Leute. Mir kann’s ja egal
sein, aber ihr solltet doch denken, daß bald wieder schlechtere Zeiten
kommen.«
Carlo trat rasch zu dem Bruder und faßte ihn am
Arme.
»Komm!« sagte er.
»Was willst du?« schrie Geronimo.
»Komm zu Bett,« sagte Carlo.
»Laß mich, laß mich! Ich verdiene das Geld, ich
kann
mit meinem Gelde tun, was ich will – eh! – alles kannst du ja doch
nicht
einstecken! Ihr meint wohl, er gibt mir alles! O nein! Ich bin ja ein
blinder
Mann! Aber es gibt Leute – es gibt gute Leute, die sagen mir: ›Ich habe
deinem
Bruder zwanzig Franken gegeben!‹«
Die Arbeiter lachten auf.
»Es ist genug,« sagte Carlo, »komm!« Und er zog
den
Bruder mit sich, schleppte ihn beinah die Treppe
hinauf bis in den kahlen Bodenraum, wo sie ihr Lager hatten. Auf dem
ganzen
Wege schrie Geronimo: »Ja, nun ist es an den Tag gekommen, ja, nun weiß
ich’s!
Ah, wartet nur. Wo ist sie? Wo ist Maria? Oder legst du’s ihr in die
Sparkassa?
– Eh, ich singe für dich, ich spiele Gitarre, von mir lebst du – und du
bist
ein Dieb!« Er fiel auf den Strohsack hin.
Vom
Gang her schimmerte ein schwaches Licht herein;
drüben stand die Tür zu dem einzigen Fremdenzimmer des Wirtshauses
offen, und
Maria richtete die Betten für die Nachtruhe her. Carlo stand vor seinem
Bruder
und sah ihn daliegen mit dem gedunsenen Gesicht, mit den bläulichen
Lippen, das
feuchte Haar an der Stirne klebend, um viele Jahre älter aussehend, als
er war.
Und langsam begann er zu verstehen. Nicht von heute konnte das
Mißtrauen des
Blinden sein, längst mußte es in ihm geschlummert haben, und nur der
Anlaß,
vielleicht der Mut hatte ihm gefehlt, es auszusprechen. Und alles, was
Carlo
für ihn getan, war vergeblich gewesen; vergeblich die Reue, vergeblich
das
Opfer seines ganzen Lebens. Was sollte er nun tun? – Sollte er noch
weiterhin
Tag für Tag, wer weiß wie lange noch, ihn durch die ewige Nacht führen,
ihn betreuen,
für ihn betteln und keinen anderen Lohn dafür haben
als Mißtrauen und Schimpf? Wenn ihn der Bruder für einen Dieb hielt, so
konnte
ihm ja jeder Fremde dasselbe oder Besseres leisten als er. Wahrhaftig,
ihn
allein lassen, sich für immer von ihm trennen, das wäre das klügste.
Dann mußte
Geronimo wohl sein Unrecht einsehen, denn dann erst würde er erfahren,
was es
heißt, betrogen und bestohlen werden, einsam und elend sein. Und er
selbst, was
sollte er beginnen? Nun, er war ja noch nicht alt; wenn er für sich
allein war,
konnte er noch mancherlei anfangen. Als Knecht zum mindesten fand er
überall
sein Unterkommen. Aber während diese Gedanken durch seinen Kopf zogen,
blieben
seine Augen immer auf den Bruder geheftet. Und er sah ihn plötzlich vor
sich,
allein am Rande einer sonnbeglänzten Straße auf einem Stein sitzen, mit
den
weit offenen, weißen Augen zum Himmel starrend, der ihn nicht blenden
konnte,
und mit den Händen in die Nacht greifend, die immer um ihn war. Und er
fühlte,
so wie der Blinde niemand anderen auf der Welt hatte als ihn, so hatte
auch er
niemand anderen als diesen Bruder. Er verstand, daß die Liebe zu diesem
Bruder
der ganze Inhalt seines Lebens war, und wußte zum ersten Male mit
völliger
Deutlichkeit, nur der Glaube, daß der Blinde diese Liebe erwiderte
und ihm verziehen, hatte ihn alles Elend so geduldig tragen lassen. Er
konnte
auf diese Hoffnung nicht mit einem Male verzichten. Er fühlte, daß er
den
Bruder gerade so notwendig brauchte als der Bruder ihn. Er konnte
nicht, er
wollte ihn nicht verlassen. Er mußte entweder das Mißtrauen erdulden
oder ein
Mittel finden, um den Blinden von der Grundlosigkeit seines Verdachtes
zu
überzeugen ... Ja, wenn er sich irgendwie das Goldstück verschaffen
könnte!
Wenn er dem Blinden morgen früh sagen könnte: »Ich habe es nur
aufbewahrt,
damit du’s nicht mit den Arbeitern vertrinkst, damit es dir die Leute
nicht
stehlen« ... oder sonst irgend etwas ...
Schritte
näherten sich auf der Holztreppe; die
Reisenden gingen zur Ruhe. Plötzlich durchzuckte seinen Kopf der
Einfall,
drüben anzuklopfen, den Fremden wahrheitsgetreu den heutigen Vorfall zu
erzählen und sie um die zwanzig Franken zu bitten. Aber er wußte auch
gleich:
das war vollkommen aussichtslos! Sie würden ihm die ganze Geschichte
nicht
einmal glauben. Und er erinnerte sich jetzt, wie erschrocken der eine
blasse
zusammengefahren war, als er, Carlo, plötzlich im Dunkel vor dem Wagen
aufgetaucht war.
Er
streckte sich auf den Strohsack hin. Es war
ganz finster im Zimmer. Jetzt hörte er, wie die
Arbeiter laut redend und mit schweren Schritten über die Holzstufen
hinabgingen. Bald darauf wurden beide Tore geschlossen. Der Knecht ging
noch
einmal die Treppe auf und ab, dann war es ganz still. Carlo hörte nur
mehr das
Schnarchen Geronimos. Bald verwirrten sich seine Gedanken in
beginnenden
Träumen. Als er erwachte, war noch tiefe Dunkelheit um ihn. Er sah nach
der
Stelle, wo das Fenster war; wenn er die Augen anstrengte, gewahrte er
dort
mitten in dem undurchdring- lichen Schwarz ein tiefgraues Viereck.
Geronimo
schlief noch immer den schweren Schlaf des Betrunkenen. Und Carlo
dachte an den
Tag, der morgen war; und ihn schauderte. Er dachte an die Nacht nach
diesem
Tage, an den Tag nach dieser Nacht, an die Zukunft, die vor ihm lag,
und Grauen
erfüllte ihn vor der Einsamkeit, die ihm bevorstand. Warum war er
abends nicht
mutiger gewesen?
Warum
war er nicht zu den Fremden gegangen und hatte
sie um die zwanzig Franken gebeten? Vielleicht hätten sie doch Erbarmen
mit ihm
gehabt. Und doch – vielleicht war es gut, daß er sie nicht gebeten
hatte. Ja,
warum war es gut?... Er setzte sich jäh auf und fühlte sein Herz
klopfen. Er
wußte, warum es gut war: Wenn sie ihn abgewiesen hätten,
so wäre er ihnen jedenfalls verdächtig geblieben – so aber ... Er
starrte auf
den grauen Fleck, der matt zu leuchten begann ... Das, was ihm gegen
seinen
eigenen Willen durch den Kopf gefahren, war ja unmöglich, vollkommen
unmöglich!... Die Tür drüben war versperrt – und überdies: sie konnten
aufwachen ... Ja, dort – der graue leuchtende Fleck mitten im Dunkel
war der
neue Tag – – –
Carlo stand auf, als zöge
es ihn dorthin, und berührte
mit der Stirn die kalte Scheibe. Warum war er denn aufgestanden? Um zu
überlegen?... Um es zu versuchen?... Was denn?... Es war ja unmöglich –
und
überdies war es ein Verbrechen. Ein Verbrechen? Was bedeuten zwanzig
Franken
für solche Leute, die zum Vergnügen tausend Meilen weit reisen? Sie
würden ja
gar nicht merken, daß sie ihnen fehlten ... Er ging zur Türe und
öffnete sie
leise. Gegenüber war die andere, mit zwei Schritten zu erreichen,
geschlossen.
An einem Nagel im Pfosten hingen Kleidungsstücke. Carlo fuhr mit der
Hand über
sie ... Ja, wenn die Leute ihre Börsen in der Tasche ließen, dann wäre
das
Leben sehr einfach, dann brauchte bald niemand mehr betteln zu gehen
... Aber
die Taschen waren leer. Nun, was blieb übrig? Wieder zurück ins Zimmer,
auf den
Strohsack. Es gab vielleicht doch eine bessere Art,
sich zwanzig Franken zu verschaffen – eine weniger gefährliche und
rechtlichere. Wenn er wirklich jedesmal einige Zentesimi von den
Almosen
zurückbehielte, bis er zwanzig Franken zusammengespart, und dann das
Goldstück
kaufte ... Aber wie lang konnte das dauern – Monate, vielleicht ein
Jahr. Ah,
wenn er nur Mut hätte! Noch immer stand er auf dem Gang. Er blickte zur
Tür
hinüber ... Was war das für ein Streif, der senkrecht von oben auf den
Fußboden
fiel? War es möglich? Die Tür war nur angelehnt, nicht versperrt?...
Warum
staunte er denn darüber? Seit Monaten schon schloß die Tür nicht. Wozu
auch? Er
erinnerte sich: nur dreimal hatten hier in diesem Sommer Leute
geschlafen,
zweimal Handwerksburschen und einmal ein Tourist, der sich den Fuß
verletzt
hatte. Die Tür schließt nicht – er braucht jetzt nur Mut – ja, und
Glück! Mut?
Das Schlimmste, was ihm geschehen kann, ist, daß die beiden aufwachen,
und da
kann er noch immer eine Ausrede finden. Er lugt durch den Spalt ins
Zimmer. Es
ist noch so dunkel, daß er eben nur die Umrisse von zwei auf den Betten
lagernden Gestalten gewahren kann. Er horcht auf: sie atmen ruhig und
gleichmäßig. Carlo öffnet die Tür leicht und tritt mit seinen nackten
Füßen
völlig geräuschlos ins Zimmer. Die beiden Betten
stehen der Länge nach an der gleichen Wand dem Fenster gegenüber. In
der Mitte
des Zimmers ist ein Tisch; Carlo schleicht bis hin. Er fährt mit der
Hand über
die Fläche und fühlt ein Schlüsselbund, ein Federmesser, ein kleines
Buch –
weiter nichts ... Nun natürlich!... Daß er nur daran denken konnte, sie
würden
ihr Geld auf den Tisch legen! Ah, nun kann er gleich wieder fort!...
Und doch,
vielleicht braucht es nur einen guten Griff und es ist geglückt ... Und
er
nähert sich dem Bett neben der Tür; hier auf dem Sessel liegt etwas –
er fühlt
danach – es ist ein Revolver ... Carlo zuckt zusammen ... Ob er ihn
nicht
lieber gleich behalten sollte? Denn warum hat dieser Mensch den
Revolver
bereitliegen? Wenn er erwacht und ihn bemerkt ... Doch nein, er würde
ja sagen:
Es ist drei Uhr, gnädiger Herr, aufstehn!... Und er läßt den Revolver
liegen.
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