Es
war Herbst gewesen, da
Dionysia in das Schloß gekommen war; das Frühjahr nahte, und noch
weilte sie,
doch längst nicht mehr als Gast, sondern als Gefährtin des Hausherrn,
und als
Herrin des Hauses. Von ihrem Balkon aus war der Blick frei auf weites
hügeliges
Land. Aus fernen Talmulden ragten Schlöte auf, der Wind brachte das
Geräusch
von Räderschnurren und Hämmerschlag, und an dunklen Abenden verglühten
über den
Rauchfängen hastige Funken in den Lüften. Nah ans Schloß gerückt, eng
aneinander gedrängt und von ärmlichen Gärtchen umgeben, standen
Wohnhäuser in
langen Reihen, aber ein dichter Wald hielt auch die nächsten vom
Schlosse ab.
Hinter den letzten Maschinenhäusern strebte Ackerland hügelaufwärts und
senkte
sich wieder nach unsichtbaren Ebenen, doch verrieten ferne Rauchsäulen,
daß
auch jenseits der Hügel ein Bezirk der Arbeit sich dehnte. Das Schloß
selbst
stand in einem Park, der sich so weithin streckte, daß Dionysia, die
sich
täglich darin zu ergehen pflegte, noch in den letzten Wintertagen ihr
unbekannt
gebliebene Stellen entdeckte. Zuweilen um die Mittagsstunde oder des
Abends
begleitete sie auf ihren Spaziergängen der Gutsherr, und sie erfuhr von
ihm,
daß noch vor kaum zwei Jahrzehnten dieser Park eine Art von Urwald
gewesen, daß
an der Stelle des Schlosses ein kleines Haus gestanden und daß unten,
wo jetzt
hundert Schlöte rauchten, unter Bauernhütten eine einzige arme Schmiede
Arbeit
verrichtet hatte. Aber alles, was seither ringsum entstanden war,
sollte nicht
mehr zu bedeuten haben als den Anfang größeren Werkes. Schon rührte es
sich an
den Gemarken des freien Hügellandes, sumpfige Stellen wurden trocken
gelegt,
Bächen wurde durch Wehr und Damm Widerstand und neue Kraft gegeben,
Wälder
wurden ausgeholzt, im nächsten Sommer sollte eine Riesenhalle fertig
stehen, um
die Modelle aller Maschinen aufzubewahren, die jemals von hier in die
Welt
gegangen waren und noch gehen sollten.
Oft
erschienen Gäste auf
dem Schloß; Erfinder, Baumeister, Abgesandte des Fürsten,
Bevollmächtigte
fremder Staaten. Einige schieden befriedigt und leichtgemut, andere
unlustig
und betroffen. Des Gutsherrn Wort aber schien stets von gleichem Ernst
und
Gewicht, und immer fühlte Dionysia, daß keiner der Gäste einen Vorteil
über ihn
zu gewinnen vermocht hatte, daß er klüger und stärker gewesen war als
die
andern alle.
Manchmal
durfte sie selbst
an seiner Seite zwischen glühenden Hämmern und schnurrenden Rädern,
schlürfenden Seilen und brausenden Röhren einhergehen. Auch die
Kanzleiräume
blieben ihr nicht fremd, wo Zeichnungen und Entwürfe auflagen, Briefe
empfangen
und abgesandt und die Bücher des Hauses geführt wurden. Mit jedem
Schreiber und
jedem Arbeiter schien der Gutsherr sich zu beraten, überall war er
Lehrer und
Lernender zugleich; aber aus welcher Türe er auch trat, stets wußte er
sicherer
Bescheid darüber, was in dem eben verlassenen Raum gedacht und
geschaffen
wurde, als diejenigen, die ihre ganzen Tage dort verbrachten. An
manchen
Abenden ließen Künstler des Gesangs und verschiedener Instrumente sich
hören,
ja eine vorzügliche Schauspielgesellschaft gab etliche Male im Schloß
ihre
Vorstellungen, zu der aus der Umgebung und auch aus dem weiteren
Umkreis sich
Zuschauer einfanden. So war dafür gesorgt, daß keine Stunde für
Dionysia auch
nur von der Ahnung einer möglichen Leere durchweht war, und doch blieb
ihr das Recht der Einsamkeit durchaus gewahrt. Der Gutsherr selbst
versäumte es nie
anzufragen, ob seine Gesellschaft erwünscht sei, und wenn es Dionysia
gefiel,
sich allein auf Spaziergänge zu begeben, so bedurfte es nur eines
Winks, um
jede Begleitung von ihrer Seite zu weisen.
Einmal
zu Sommerbeginn, als
sie durch ein Dörfchen spazierte, das, wiewohl drei Stunden entfernt,
noch
immer den Ländereien des Gutsherrn zugerechnet wurde, lief ihr ein
blasses
kleines Mädchen entgegen und flehte mit ausgestreckten Händen um einen
Bissen
Brot. Dionysia, befremdet, schüttelte den Kopf und war geneigt, das
Kind für
ein vorlaut bettelhaftes Geschöpf anzusehen, an denen es am Ende auch
hier
nicht mangeln mochte; da machte ein traurig ängstlicher Blick aus den
Augen des
Mädchens sie nachdenklich, und sie beschloß im Hause selbst Nachschau
zu
halten. Eine nicht mehr junge Frau stand im Vorraum, ein Kind auf dem
Arm, zwei
andere spielten auf dem Fußboden mit Holzstückchen und Obstkernen. Auf
Dionysias
Frage erwiderte die Frau, daß jene bettelnde Kleine heute nichts
anderes
genossen hätte, als ein halbes Gläschen Milch; ohne weitere Fragen
abzuwarten,
ließ sie ihren Klagen freien Lauf, und so erfuhr Dionysia, daß hier im
Ort
zumindest innerhalb der mit Kindern gesegneten Familien Mangel und
Sorge zu
Hause waren. Dionysia, höchst betroffen, ließ all ihr Geld zurück und
eilte
nach Hause, um den Geliebten von diesen Zuständen in Kenntnis zu
setzen, an
denen ihrer Überzeugung nach nur Untreue und böser Wille
untergeordneter
Beamten Schuld tragen konnten. Der Gutsherr klärte sie auf, daß selbst
innerhalb der einfachsten, scheinbar gleichmäßigsten Verhältnisse das
Schicksal
der einzelnen je nach persönlichen Eigenschaften und allerlei
Zufälligkeiten
sich höchst verschieden zu gestalten pflegte, und riet ihr, sich um
dergleichen
Dinge fernerhin nicht zu kümmern. Sie erklärte sich außerstande diesem
Rat zu
folgen, vielmehr erbat sie die Erlaubnis, auf ihre Art und soweit ihre
Kräfte
reichten, die Mißstände, unter denen ja nicht die Schuldigen allein
litten,
aufheben oder wenigstens verbessern zu dürfen. Der Gutsherr hatte
nichts
dagegen, daß sie die Summen, die ihr reichlich zur Verfügung standen,
nach
Gutdünken verwendete, und erhob auch keinerlei Einspruch gegen die
Nachforschungen und Wanderungen, die sie schon vom nächsten Tage an zu
unternehmen begann. Bald gewahrte sie, daß mehr zu helfen not tat, als
sie je
geahnt hätte und daß auch dort, wo die Gegenwart keine Sorgen zu bergen
schien,
eine düstere und Ungewisse Zukunft herandrohte. Wo aber
die Leute sich leidlich behagten, dort war es gerade die unbewußte,
dumpfe Hoffnungslosigkeit
ihres Daseins, die Dionysia mit Verwunderung und Kummer erfüllte. Es
kam
endlich dahin, daß sie ihren eigenen Überfluß wie ein Unrecht an jenen
empfand,
denen selbst das Notwendige versagt war, und wenn sie auch hier und
dort von
einem Tag auf den andern ein Schicksal günstiger zu gestalten imstande
war, begriff
sie bald, daß sie die Ordnung des Staates, ja die Gesetze der Welt
hätte ändern
müssen, um vollkommen und für die Dauer zu helfen. Kummervoll stellte
sie ihre
Wanderungen ein, und weder die Vergnügungen der Geselligkeit, die ihr
zahlreicher und lebhafter geboten waren als je, noch die Zärtlichkeiten
ihres
Geliebten konnten ihre Schwermut besiegen.
Zu
dieser Zeit meldeten
Gerüchte eine wachsende Unzufriedenheit der arbeitenden Bevölkerung,
und der
Gutsherr, ohne ein Wort des Vorwurfs, verhehlte Dionysia nicht, daß
gerade sie
an solcher in dieser Gegend bisher nicht erhörten Bewegung nicht minder
durch
ihre früher geübte Wohltätigkeit als durch deren unerwartete
Einstellung
mitschuldig sein mochte. Abgesandte erschienen im Schlosse, Erhöhung
der Löhne
und Herabsetzung der Arbeitszeit zu fordern; und einiges, im Verhältnis
wachsenden eigenen Wohlstandes vermochte der Gutsherr zu gewähren. Eine
Beruhigung trat ein, die nicht lange anhielt. Neue, immer lebhaftere
Forderungen wurden erhoben, denen Erfüllung versagt werden mußte. Die
Unruhe
stieg an, wandte sich in Erbitterung, in einzelnen Gebieten wurde die
Arbeit
unterlassen, bald zwangen die Aufständischen auch dort dazu, wo man
bisher noch
weiter geschafft hatte; es kam zu Gewalttätigkeiten, der Gutsherr sah
sich
genötigt, die Regierung um Unterstützung anzugehen, Soldaten rückten
herbei,
der Grimm stieg, und Kämpfe erfolgten, mit Opfern auf beiden Seiten.
Bald aber
war der Sieg der Staatsgewalt völlig erklärt, einige Führer der
Bewegung wurden
ins Gefängnis geworfen, andere entlassen, neue Arbeitskräfte, die von
überall
zuzogen, aufgenommen, und es dauerte nicht lange, so rollten die Räder,
rauchten die Schlöte und keuchten die Maschinen rings im Gelände wie
zuvor.
In
jenen schweren Zeiten
hatte Dionysia sich stille verhalten. Sie bangte um den Gutsherrn, der
stets im
Bannkreis der höchsten Gefahr zu finden war, zugleich aber jammerte sie
das Los
der Schwachen, deren Auflehnung sie besser zu begreifen vermeinte, als
irgendwer. Wie immer die Entscheidung fallen sollte, Dionysia sah
vorher, daß sie ihr keine Beruhigung bringen konnte; und am Tage der
Entscheidung, da der Geliebte als Sieger in sein Schloß zurückgekehrt
war, traf
er Dionysia nicht mehr an. Arm und frei, wie sie gekommen, hatte sie
den Weg
nach der Heimat angetreten in der festen Meinung, daß nun keine Lockung
mehr
ihrer harren könnte.
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