Es
hört sich an wie ein Märchen ... Ein Knabe saß beim
Fenster eines Landhauses und blickte nur ab und zu in den Wald
hinunter, der
gleich an die Villa grenzte und so still dalag, als regte sich kein
Zweig in
seinem ganzen Bereiche. Es war ein schläfriger Sommernachmittag, und
die
tiefblaue Luft lag schwer und heiß über der Erde. –
Der
Knabe hatte vor sich auf dem Fensterbrett ein
Notenblatt liegen, auf welches er musikalische Zeichen, wie sie ihm
eben
einfielen, planlos eintrug. Ganz mechanisch, während er an alles
mögliche
dachte, zeichnete er vielerlei Notenköpfe auf das Papier und versah sie
in
einer Art von kindischem Eifer mit Taktzeichen, Kreuzen, bis eine ganze
Zeile
ausgefüllt war, worauf er seine Spielerei mit befriedigtem Lächeln
überblickte.
Er hatte keine Ahnung, was nun eigentlich auf dem Blatte stand. Die
Schwüle,
welche zum offenen Fenster hereingezogen kam, machte ihn müde, er legte
den
Bleistift aus der Hand und schaute nur so vor sich hin, mit offenen
Augen
träumend. Es kam ein leiser, ganz leiser Wind... der wehte das
Notenblatt
hinaus, und ohne Bedauern sah ihm der Knabe nach... wie es sich zuerst
in den
Ästen verfing und dann langsam auf den schmalen Waldweg herunterglitt,
an
dessen Saume es liegen blieb. Der Junge kümmerte sich nicht weiter
darum und
ging nach kurzer Zeit auf sein Zimmer, setzte sich ans Klavier und übte
Skalen. –
Ein
junger Mensch, dessen Äußeres auch einem
flüchtigen Beobachter den angehenden Künstler oder mindestens den
Kunstenthusiasten zu erkennen gab, schritt bald darauf, irgendein Lied
vor sich
hinträllernd, über jenen Waldweg der Hauptstraße zu, als sein Auge auf
dem
Blatt Papier haften blieb, welches der Wind hergeweht hatte und das nun
seine
beschriebene Seite dem Jüngling zukehrte. Dieser hob es behend vom
Boden auf
und betrachtete es neugierig. »Ei, sieh doch!« scherzte er vor sich hin
– »also
nicht einmal in diesem stadtfernen Wäldchen bin ich der einzige
Komponist! –
Nun, rechte Kratzefüße das, die mein unbekannter Kollege im Schatten
dieser
Bäume hergemalt!« Er versuchte nun sich zurechtzufinden und summte
allmählich,
stückweise sozusagen, die Melodie vor sich hin, die er langsam aus dem
Exerzitienblättchen enträtselte. »Nicht übel, wahrhaftig! – Ja,
zweifellos – in
diesen Noten da steckt etwas! Wer so etwas wegwerfen kann, der muß wohl
den
Kopf noch voll von ganz andern Ideen haben – bei Gott, ich ließe so
etwas nicht
im Walde liegen, wenn es mir überhaupt einfiele.« – Dabei begann er
nochmals,
nun im Zusammenhang, die Melodie, welche der Knabe so ahnungslos auf
das Blatt
gezeichnet, vor sich hinzusingen – schüttelte den Kopf und sagte:
»Innig, sehr
innig, etwas für die Weiber, etwas für Ännchen!« –
Und
er eilte zu seinem Mädchen, eilte zu Ännchen. Das
war nun ein ganz reizendes, süßes Kind und ihrer Mutter, einer armen
Witwe,
einzige Freude und Seligkeit. Die helle Unschuld sprach aus den Zügen
ihres
Antlitzes, und der junge Künstler liebte sie mit einem Feuer, mit einer
Leidenschaftlichkeit, deren eigentliches tieferes Wesen dem keuschen
Sinn des
jungen Mädchens noch gar nicht aufgegangen war. Nun trat er zu ihr ins
Zimmer.
Sie war allein, die Mutter bei einer Verwandten. Der Geliebte setzte
sich nach
einer flüchtigen, beinahe hastigen Begrüßung zum Flügel und hob an auf
den
Tasten zu phantasieren. Sie setzte sich zu ihm, blickte ihm still mit
holder,
ruhiger Freundlichkeit ins Auge und lauschte seinem Spiel. Nach einigen
Tönen
und Akkorden aber änderte sich der Ausdruck ihres Gesichtes. Sie hörte
gespannter und aufmerksamer zu. Auf ihren blassen Wangen stieg eine
leise Röte
auf – ihr Auge, eben noch klar und ernst, erschien in einem sonderbaren
feuchten Glanz. – Eine heftige Bewegung gab sich in ihren Mienen kund.
Sie sah
aus, als wäre sie mächtig ergriffen, als hätte sie etwas unendlich tief
berührt. »Welch eine Melodie!« flüsterte sie. Der junge Künstler
improvisierte
weiter, immer über jenes Thema, welches ein lächerlicher Zufall ihm im
Walde
zugetragen. Seine Finger zauberten eine prächtige Fülle von Variationen
aus den
Tasten hervor, und aus allen tönte jene eine wundersame
Melodie, die immer herzlicher, immer schöner erklang, je öfter sie
gebracht
wurde!
–
Welch eine Melodie! Nur ein Genius hat solche Gedanken! Ein Genius
nur
kann durch ein kurzes einfaches Motiv so außerordentlich wirken, daß
der
Zuhörer wie weltentrückt in der höchsten, unvergleichlichsten
Entzückung
schwelgt...
Welch
eine Melodie! Und als sie jetzt, zum letzten
Male angeschlagen, allmählich verhallte, als der junge Künstler geendet
– wie
zitterte sie nach, als schlürfe die Luft den Wohllaut ein und wollte
sich daran
berauschen. –
Und
das Mädchen, hingerissen, wie in einen himmlischen
Traum verloren, saß unbeweglich da. Nur wenige Sekunden freilich, dann
heftete
sie die großen, schimmernden Augen auf ihn, und ihr Blick hing an ihm
mit dem
Ausdruck einer leidenschaftlichen, rückhaltlosen Bewunderung. Er wollte
eben
die Lippen zur Rede auftun – als sie ihm schon zu Füßen gesunken war,
des
Erstaunten Hände an ihren Mund führte und mit heißen Küssen bedeckte.
Er beugte
sich sprachlos zu ihr herab, und nun umschlang sie ihn seufzend und
lachend,
mit einer Wildheit, wie er sie nie von ihr gesehen, nie erwartet. Sie
lag in
seinen Armen, und ihr Atem umflutete den Geliebten mit betäubender
Süßigkeit ...
Welch
eine Melodie! – Sie war das Präludium
unendlicher Seligkeit für ihn und für sie ...
Oh,
nicht etwa, daß er sie geheiratet hätte – so
trivial schließt ein großer Künstler seine interessantesten Abenteuer
nicht ab!
Aber er blieb ihr lange Zeit treu – ein paar Monate, und während dieser
Zeit
schrieb er ein Klavierstück und wurde berühmt.
Wahrhaftig,
das klingt wie ein Märchen!
Es
war ein unglaubliches Motiv darin, wie die
Enthusiasten sagten. »Die Ausführung ist talentvoll, die Idee aber ist
die
eines Genies«, sagte ein Kritiker. Die musikalische Welt war voll von
diesem
Stück und die Frauen besonders. Das hat kein Liebender komponiert – die
Liebe
selbst hat das geschaffen. Ja, es war auch ein Thema – für die Weiber
besonders! – Armes Ännchen, du hast's an dir erfahren!
Selten
war man auf etwas so gespannt wie auf das
nächste größere Werk des Komponisten. Es ließ lange auf sich warten,
während
er, der als der glückliche Erfinder jener schönen musikalischen Idee
angesehen
wurde, in allen Gesellschaften gefeiert, in manchen Kreisen in den
Himmel
erhoben wurde und in den Armen der schönsten und elegantesten Damen der
Stadt
sein Ännchen bald vergaß ... Denn die Frauen sind Künstlern gegenüber
außerordentlich nobel, sie lieben es, sich für die gebotenen Genüsse zu
revanchieren.
Sein
Klavierstück wurde populär – man arrangierte es
für Streichorchester, und das Motiv machte die Runde durch alle
Musiksäle der
Welt ... Aber wann wird er wieder etwas schreiben? Man wartete, wartete
vergebens – und begann enttäuscht zu sein. – Man kannte bald nur mehr
jenes
herrliche Motiv, und es war daran, daß der Name des Komponisten langsam
ins
Vergessen kam.
Da,
nach einem Jahre vielleicht, lief die Nachricht in
der Stadt herum, der kürzlich erst so sehr Gefeierte habe sich eine
Kugel ins
Herz gejagt. Und es war so – der junge Künstler war tot! Warum hatte er
sich
erschossen? Unter allen, mit denen er gelebt, konnte es freilich keiner
wissen.
Ob etwas Großes mit ihm dahingegangen war – wer durfte es
entscheiden?...
Wahrscheinlich
ist nur, daß in einer dunklen Stunde
das Bewußtsein in ihm erwacht war, er verdanke seine plötzliche
Berühmtheit
weniger seiner eigenen Kraft – als dem Wirken eines sonderbaren
Zufalls, dem
glücklichen Gedanken irgendeines Träumers, der jenes Notenblatt im
Walde
verlor; und was ihn getötet, war vielleicht Reue, gekränkte Eitelkeit,
vielleicht selbst Neid auf den, welcher jenes Thema geschaffen.
Gleichviel, er
schied aus der Welt, seines Bleibens war nicht mehr unter denen, die
ihn
verehrten.
Und
der, welcher jene Melodie in der Tat, wenn auch
unbewußt, geschaffen? Hört es sich nicht an wie ein Märchen? Wie eine
Historie,
lächerlich, trübselig und erstaunlich zugleich!
Jener
Knabe versuchte das berühmte Klavierstück zu
spielen – er brachte es nicht zuwege und ließ es sich von seinem Lehrer
vortragen. Den Kopf auf die Hand gestützt, saß er da und lauschte
andächtig den
wunderbaren Klängen –... und es war ihm wie jedem, der sich in die
Schönheit
des Themas versenkte. Eine neue, ungekannte Welt stieg von ihm auf, es
überkam
ihn wie eine Ahnung von einer fernen, phantastischen Herrlichkeit, die
man wohl
tief empfinden, aber kaum zu fassen vermag ...
Es
war die Musik der Sphären, die ihn umquoll. »Welch
eine Melodie!« –