Er
träumte diese Nacht von der Toten. Er sah sich mit
ihr in der Waldgegend, wo sie den letzten Sommer verbracht hatten; sie
lagen
zusammen auf einer sehr weiten, lichtgrünen Wiese, nur ihre Wangen
lehnten
und glühten aneinander; aber diese leichte Berührung erfüllte ihn mit
einem so
hohen Glück, wie er es nie in der leidenschaftlichsten Umarmung
empfunden.
Plötzlich
war sie fort, und er sah sie am Ende der
Wiese längs des Waldrandes hinlaufen, die Arme in die Luft gestreckt,
so wie er
in einer illustrierten Zeitung tags vorher ein Ballettmädchen gesehen,
das sich
vor den Flammen retten wollte. In diesem Augenblick empfand er mit
einer
Deutlichkeit, wie nur der Traum sie gibt, daß es vollkommen unmöglich
für ihn
wäre, den Verlust zu überleben, und doch blieb er im Grase liegen und
tat
nichts, als daß er fürchterlich schrie.
Darüber
wachte er auf und hörte sich selbst jammern.
Durch
das offene Fenster klangen die ersten
unentwirrbaren Laute der Frühe, deutlich hörte er nur das Gezwitscher
der
erwachenden Vögel aus dem Stadtpark.
Niemals
früher hatte ihn seine Einsamkeit mit einem
solchen Grauen erfüllt wie heute. Was er für die Frau empfand, die eben
im Gras
neben ihm geruht und deren lebenswarme Wange er an der seinen ruhen
gefühlt,
erfüllte ihn mit einer Sehnsucht nach ihr, die so ungeheuer und
schmerzensvoll
war, daß er lieber daran sterben wollte, als sie weiter erdulden. Er
liebte
diese Tote, wie man nur Lebendige lieben darf, mit einer verzehrenden
Sehnsucht
nach ihrem Besitz, er fühlte sich wieder von dem Duft ihres Leibes
umhüllt, er
bewegte leise seine Lippen, als wäre sie wieder bei ihm und könnte
seinen Kuß
empfangen. Dann rief er ihren Namen, rief ihn immer lauter, breitete
seine Arme
aus, erhob sich, stand auf, ließ die Arme sinken, fühlte eine
Beschämung in
sich aufsteigen, als hätte er sich an einer vergangen, die wie seine
Freuden,
so auch seine Sehnsucht und seine Träume nicht mehr teilen konnte und
die er
nur beweinen, aber nicht verlangen durfte.
Er
stand sehr früh auf, ging eine Stunde im Park
spazieren und arbeitete im Büro so fleißig, als gälte es, durch
redliches
Betragen eine Sünde wieder gutzumachen. Ein Gedanke kam ihm auch, und
es
wunderte ihn nur, daß er nicht früher gekommen war: Wenn er sich ganz
von der
Welt zurückzöge, die ihm wohl noch Versuchungen, aber keine Lust mehr
bringen
durfte? Er dachte an einen entfernten Verwandten seiner Mutter, der als
reifer
Mann in ein Kloster gegangen war. Der Gedanke dieser Möglichkeit
beruhigte ihn.
Nachmittags
lag er wieder auf dem Bette, abends ging
er fort. Er kannte seinen Weg. Er ging an dieselbe Stelle, zu der
gleichen Bank,
auf der er gestern gesessen. Er wartete, und als er seine Gedanken
freiließ und
in der Schwüle des Abends in eine Art von Halbschlummer verfallen war,
erwachte
er mit der Empfindung, daß er seine Frau erwarte. Diese Vorstellung
trat so
entschieden auf, daß er sie mit Aufgebot seines Willens verscheuchen
mußte. Er
wartete und hoffte zugleich, daß die Erwartete nicht kommen würde. Er
war
verwirrt und müde und hatte das Gefühl, irgendwie wehrlos preisgegeben
zu sein
und einem Schicksal entgegenzugehen, das ihm bestimmt war. Viele Leute
kamen
vorüber, auch Frauen und Mädchen; sie hatten nicht mehr Bedeutung für
ihn als
Bilder, die er zufällig im Durchblättern eines Buchs gefunden hätte,
während er
ein ganz bestimmtes suchte. Plötzlich fiel ihm ein: Wenn sie nicht
vorüberkommt?
Nun, wenn auch nicht, er wußte ja, wo sie wohnte, könnte vor dem Tore
warten,
in das Haus treten, die Stiege hinaufgehen ... nein, das würde er
keineswegs;
wer weiß, ob sie allein wohnte ... Aber keinesfalls kann sie ihm
entgehen.
Es
wurde spät; die Dunkelheit schritt vor. Plötzlich
erblickte er die Erwartete. Aber sie war an ihm vorbeigeschritten, ohne
daß er
sie erkannt hatte. Wieder war es erst der Gang, durch den sie ihm
auffiel. Sein
Herz klopfte heftig. Er erhob sich rasch und folgte ihr. Es war ihm,
als müßte
er sie mit dem Namen seiner toten Gattin anrufen; doch fühlte er
gleich, daß er
das nicht durfte. Er ging so rasch, daß er ganz unversehens nahe neben
sie
gekommen war. Sie wandte den Kopf nach ihm und lächelte, als könnte sie
sich
seiner erinnern; dann aber schritt sie nur schneller vorwärts. Er
folgte ihr
wie in einem Rausch. Nun gab er sich vollkommen dem Wahn gefangen, daß
es die
Tote wäre; er kämpfte nicht mehr dagegen an. Seine Augen hafteten
gebannt an
ihrem Nacken. Er flüsterte den Namen der Toten, flüsterte ihn noch
einmal
lauter, er sprach ihn aus . . . »Therese« . . .
Sie
blieb stehen. Er war neben ihr, ganz erschrocken.
Sie schaute ihm ins Gesicht, schüttelte den Kopf, erstaunt, und
schickte sich
an weiterzugehen. Mit halberstickter Stimme sagte er: »Ich bitte Sie
... ich
bitte Sie ...« Sie antwortete ganz sanft: »Was wollen Sie denn?« Es war
eine
ganz fremde Stimme. Wenn er sich später dieses Moments erinnerte, sah
er sich
selbst immer um viele Jahre jünger, bartlos, fast wie ein Kind, denn
sie
schaute ihn an, wie man Kinder ansieht, die einem gefallen.
Sie
sprach weiter: »Woher kennen Sie mich denn? Woher
wissen Sie denn, wie ich heiße?«
Es
kam ihm gar nicht sonderbar vor, daß sie wirklich
so hieß wie die Verstorbene. Er sagte: »Ich habe Sie schon gestern ...
gesehen.«
»Ach
so.« Sie glaubte offenbar, daß er sich im Hause
nach ihrem Namen erkundigt. Er fühlte seinen Mut wachsen.
»Ich
hab's aber gespürt«, sagte sie, »gestern abend,
daß wer hinter mir geht. Ich dreh' mich ja nie auf der Straßen um, aber
man
spürt's gleich. Is' 's nicht wahr?«
Sie
gingen nebeneinander her, und Gustav fühlte eine
plötzliche Aufgeräumtheit, als hätte er ein paar Glas Wein getrunken.
»Aber
daß mich einer anred't, das is' mir schon lang
net passiert. Freilich, es is' auch eine Seltenheit, daß ich so allein
auf der
Straße geh', am Abend. Bei Tag freilich, da is' 's was anderes – no,
nicht
wahr? – bei Tag hat man doch immer was in der Stadt zu tun?«
Er
hörte ihr zu. Ein Gefühl des Behagens kam über ihn.
Der Klang dieser Frauenstimme tat ihm wohl. Als sie jetzt schwieg und
ihn von
der Seite lächelnd ansah, als erwartete sie ein Wort von ihm, sagte er:
»Jetzt
is' 's aber bei Tag so heiß; wenn man nicht muß, sollte man immer erst
abends
ins Freie. So kühl wie im Zimmer is' es bei Tag doch nirgends.« Er
freute sich,
daß er so leicht und gewandt reden konnte. Er hatte es gar nicht
gehofft.
»Da
hab'n Sie schon recht. Und besonders dort, wo ich
wohne ... na, Sie wissen ja ...«, sie lächelte dabei freundlich ...,
»da kommt
nie eine Sonne hin. Wirklich, ich muß schon sag'n: Wenn ich so zu
Mittag auf'n
Ring hinausgeh', das is' grad, wie wenn man in einen Glutofen käm'.«
Dies
gab ihm Anlaß, von der Hitze zu sprechen, die in
seinem Büro herrschte, und von seinen Kollegen, die manchmal über der
Arbeit
einschliefen. Sie lachte darüber, das ermutigte ihn, und mit einer
wahren
Freude an seinen eigenen Worten und an ihrem Zuhören kam er immer mehr
ins
Erzählen: wie er seine Tage verbringe, daß er seit einiger Zeit
verwitwet sei .
. . er sprach das Wort aus, als sei es etwas ganz Gewöhnliches, und
doch wußte
er, daß er es bis heute, auf sich bezüglich, noch nie ausgesprochen. Es
tat ihm
wohl, daß seine Begleiterin ihn darauf mit einem bedauernden Blicke
ansah.
Dann
berichtete sie von sich. Er erfuhr, daß sie die
Geliebte eines sehr jungen Mannes sei, der jetzt eben mit seinen Eltern
für
einige Wochen auf dem Lande lebe und erst in drei Wochen zurückkommen
sollte.
»Sonst
is' er immer um sieben Uhr abends bei mir, und
das bin ich schon so gewohnt, daß ich gar nicht weiß, was ich mit der
Zeit
anfangen soll, wenn er nicht da is'. Sonst is' natürlich er mit mir
spazierengegangen, jetzt muß ich allein herumlaufen; er weiß gar nix
davon . . .
oh, er dürft' gar nix davon wissen, er is' ja so eifersüchtig! Aber ich
bitt'
Sie, kann man denn verlangen, daß ich an den schönen Abenden im Zimmer
sitz' –
no, nicht wahr? Da red' ich alleweil mit Ihnen . . . das sollt' ich
doch schon
gewiß nicht. Aber schaun S', wenn man so acht Tag' lang mit niemandem
ein
vernünftiges Wort gesprochen hat, so is' es eine rechte Erholung.«
Sie
waren in der Nähe ihrer Wohnung.
»Wollen
Sie schon nach Haus gehen, Fräulein?« sagte
er. »Setzen wir uns doch noch ein bißl in den Stadtpark und plauschen
weiter.«
Sie
kehrten um, gingen die paar Schritte zum
Stadtpark, und in einer recht dunklen Allee setzten sie sich auf eine
Bank. Sie
saß ganz nahe bei ihm, er schloß halb die Augen, und da sie schwieg,
hatte er
wieder ganz die Empfindung, als säße seine Frau neben ihm. Doch als sie
wieder
zu reden anfing, zuckte er zusammen. Es war ihm, als hätte diese Frau
neben ihm,
gerade während sie schwieg und ihn ihre Nähe und Wärme fühlen ließ, wie
mit
Absicht die Tote nachzuäffen versucht. Und wieder fuhr ihm die Idee
durch den
Kopf, sie wüßte, was in ihm vorging. Ein leichter Ärger regte sich in
ihm. Er
fühlte, daß hier eine gewisse Macht über ihn ausgeübt wurde, zu der es
kein
Recht gab und von der er sich befreien muß. Wer war denn diese Person?
Eine
Frau wie viele andere, die ihn gar nichts anging; die Geliebte eines
jungen
Mannes, der jetzt mit seinen Eltern auf dem Land war, und vorher wohl
die
Geliebte von zehn oder hundert andern. Und doch – es half nichts, durch
ihr
Kleid strömte dieselbe Wärme zu ihm herüber wie von seiner gestorbenen
Frau.
Sie hatte den gleichen Gang, den gleichen Nacken und ein sonderbares
Zucken um die
Lippen, ganz wie sie.
Er
drängte sich näher an sie. Von ihren Haaren kam ein
Duft, den er begierig einatmete. Es verlangte ihn, ihren Hals zu
küssen, er tat
es, sie ließ es geschehen. Jetzt sagte sie irgend etwas, so leise, daß
er es
nicht verstand. Er fragte, die Lippen noch an ihrem Hals: »Was,
Therese?«
»Ich
muß nach Hause gehen, es wird spät.«
»Was
haben Sie denn zu tun?«
»Ah,
nicht deswegen«, antwortete sie und stand
plötzlich auf. Jetzt war sie wieder vollkommen eine andere. Er bekam
eine wahre
Lust, ihr zu drohen wie jemandem, der sich etwas anmaßt, das ihm nicht
zukommt.
Es war ihm, als hätte er eine zu verteidigen, die selbst nicht mehr
dazu
imstande wäre. Er stand auf, griff nach ihrer Hand, drückte ihr
Handgelenk,
wollte ihr weh tun. Aber da schwand sein Zorn wieder, sein Druck wurde
leiser,
zärtlicher, und nah, beinah aneinandergeschmiegt, verließen sie den
Garten.
Sie
sprachen auf dem Heimweg nichts. Beim Haustor
blieb sie stehen. »Ich danke schön für die Begleitung«, sagte sie.
»Darf
ich nicht mit Ihnen . . .?«
»Oh!«
sagte sie, »was fallt Ihnen ein! Wenn der
Hausmeister was merkt – gleich wüßt's das ganze Haus. Na, und dann . .
.«
Gustavs
Augen glühten. Sie sah ihn beinah mitleidig,
aber sehr angenehm berührt an.
»Wissen
Sie was«, sagte sie dann ganz leise, »morgen
Nachmittag um vier – da is' 's nicht auffallend. Da kommen Sie noch bei
Tag aus
'm Haus.«
Er
nickte wie befreit.
»Also
adieu, jetzt müssen S' gehen.« Sie entzog ihm
ihre Hand, die er noch in der seinen hatte, und eilte die Treppen
hinauf.
Gustav
tat in dieser Nacht kein Auge zu. Im dumpfen
Halbschlummer dachte er an die Tote, und es war ihm, als müßte er sie
an der
Lebenden rächen, die ebenso duftete, die gleiche Wärme von sich strömte
und
dieselben Begierden entfesselte wie jene, die nun im Grabe ruhte. Er
dachte
auch daran, daß es noch hundert, noch tausend Weiber gäbe wie die, mit
der er
heut nacht im Stadtpark gesessen und die nichts viel Besseres war als
eine
Dirne. Er fühlte mit einer Deutlichkeit wie nie zuvor die ungeheure
Ungerechtigkeit, die an der Toten geschehen war, und ahnte einen
lächerlichen
Betrug, der an ihm verübt werden sollte. Und wenn er an den kommenden
Nachmittag dachte, war es ihm unmöglich, sich eine andere in seinen
Armen
vorzustellen als seine Frau. Er fühlte sich wehrlos, und das erfüllte
ihn mit
Zorn.
Vormittags
im Büro kam für eine kurze Zeit Ruhe über
ihn. Einen Moment dachte er daran, jene Person gar nicht zu besuchen.
Dieser
Einfall machte ihn geradezu leichter atmen. Dann tauchte ein anderer
Gedanke
auf: wohl zu ihr zu gehen, sich aber nach einer letzten Wonnestunde von
ihr und
zugleich von allen Freuden der Welt zu verabschieden und so, wie er
sich
neulich vorgenommen, in ein Kloster zu treten.
Er
saß lang bei Tisch, trank einen besseren Wein als
gewöhnlich und ging dann zu ihr. Es war ein sehr heißer Nachmittag, und
das
Pflaster war ganz weiß von Sonne.
Als
er in die Wollzeile kam, wehte ihm eine kühlere
Luft entgegen. Die Straße, in der ihr Haus stand, lag im tiefsten
Schatten und
war menschenleer. Das Fenster, aus dem er sie vor zwei Tagen hatte
blicken
sehen, war geöffnet, doch waren die Vorhänge heruntergelassen und
bewegten sich
leicht im Luftzug.
Er
trat durch das Haustor, schritt die Stiege hinauf.
Währenddem erinnerte er sich jenes Abenteuers aus der Jugendzeit. Auch
damals
pflegte er um diese Stunde zu seiner Geliebten zu gehen. Die Türe oben
war
angelehnt, er öffnete sie, Therese stand vor ihm, doch nahm er ihre
Züge in dem
dunklen Vorzimmer nicht deutlich wahr. Sie schloß die Türe rasch und
öffnete
die Türe zum nächsten Zimmer so schnell, daß der Fenstervorhang durch
den
Luftzug in die Höhe flog und Gustav einen Augenblick den Dachfirst des
Hauses
gegenüber sehen konnte. Die Türe zum anstoßenden Zimmer stand offen.
Gustav
legte den Hut auf den Tisch, setzte sich, sie neben ihn.
»Haben
Sie einen weiten Weg her gehabt?« fragte sie.
Er
blickte durch die offene Tür. Er sah ein schlechtes
Ölbild, die Madonna mit dem Jesukinde vorstellend, das über dem Bette
hing.
»Nein,
ganz nah«, sagte er.
Sie
hatte einen dunkelroten Schlafrock an, mit sehr
weiten Ärmeln, der den Hals frei ließ. Ihr Blick schien ihm frech, ihre
Züge
minder jung als gestern abend. Er glaubte jetzt, daß er weggehen werde,
ohne
auch nur ihre Fingerspitzen berührt zu haben.
»Hier
wohn' ich«, sagte sie, »aber noch nicht gar
lang.« Sie fing wieder zu plaudern an, erzählte von ihrer früheren
Wohnung, die
»ihm« nicht gefallen hätte, weshalb er ihr diese hier gemietet; dann
redete sie
von einer Schwester, die in Prag verheiratet sei, dann von ihrem
»Ersten«,
einem Hausbesitzersohn, der sie hatte sitzen lassen, dann von einer
Reise nach
Venedig, die sie mit einem »Ausländer« unternommen.
Gustav
saß regungslos da und ließ sie reden ... Wo war
er da hingeraten! Er, der noch vor wenigen Monaten der Gatte einer
tugendhaften
Frau gewesen war, die ihm allein gehört und keinem vor ihm . . . Was
wollte er
da? Was hatte er mit der zu tun? . . . Wo war sein Verlangen, wo seine
Wünsche?
. . . Er stand auf, als wollte er sich entfernen.
Da
erhob auch sie sich, breitete die Arme um seinen
Hals und zog ihn an sich. Er war ihr so nah, daß er nur das Leuchten
ihrer
Augen sehen konnte. Wieder stieg der Duft von ihrem Hals empor zu ihm,
zugleich
fühlte er ihre Lippen heiß auf den seinen . . . Wahrhaftig, es war kein
anderer
Kuß, als er ihn noch im vorigen Herbst empfangen. Es lag in ihm
dieselbe
Weichheit, dieselbe Wärme, dieselbe Nähe, dieselbe Lust . . .
Er
wachte jäh auf. Er hatte die Arme unter seinem Kopf
gekreuzt wie oft des Nachts, aber er sah eine andere Decke über sich.
Und hier,
über ihm, die Madonna mit dem Jesukind, und neben ihm lag eine fremde
Frau mit
schwergeschlossenen Augen und einem Lächeln um den Mund, und vor
wenigen
Minuten hatte er Therese in den Armen gehalten, seine verstorbene Frau.
Er
hatte jetzt nur einen Wunsch: Die da möge ruhig liegenbleiben, die
Augen nicht
öffnen, die Lippen nicht bewegen, bis er aufgestanden war und sich
entfernt
hätte. Er wußte, wenn sie von neuem begänne, so zu blicken, so zu
lächeln, so
zu seufzen und insbesondere so mit den Lippen zu zucken wie die, welche
jetzt
tot war – er konnte es nicht ertragen, er durfte es nicht dulden. Es
war zu
infam, was dieses Weib gewagt hatte.
Er
betrachtete sie mit einem wütenden Blick. War es
nur möglich, daß dieses erbärmliche Weib, das hundert Liebhaber gehabt,
mit
jeder Miene, mit jeder Bewegung, während sie ihm die höchste Wonne gab,
die
arme Tote, die jetzt verweste, geradezu nachgeäfft? Und er lag da neben
ihr . .
. Er schüttelte sich.
Er
erhob sich rasch, aber geräuschlos. Sie regte sich
nicht. Er kleidete sich eilig an. Dann stand er vor ihr, neben dem
Bett. Sein
Blick verfolgte die Linien ihres Halses. Es war ihm jetzt, als hätte
dieses
Weib einen fürchterlichen Diebstahl verübt und als wäre seine tote
Therese eine
Beraubte und Betrogene ... Nein, das dürfte nicht sein, daß sie tot im
Sarge
läge und das Fleisch von ihren Knochen fiele, während die andern
weiterleben
und lachen und ihm sein dürfen, was ihm Jene war, ihm gewähren, was
Jene ihm
früher gewährt! Er schämte sich, daß nicht alles Glück der Erde
zugleich mit
ihr begraben war.
Jetzt
regte sie sich wieder, geradeso wie Therese sich
im Schlummer gestreckt und gedehnt. Sie öffnete die Augen ... ja, wie
sie. Es
zuckte um ihre Lippen – ja, ganz so ... Ah, und jetzt auch noch das? .
. . Sie
öffnete die Arme, als wollte sie ihn an sich ziehen . . .
»Sprich!« rief
er. Er wollte die Stimme hören. Das hätte ihm die entweichende
Besinnung
wiedergegeben. Aber sie sprach nicht. »Sprich!« rief er noch einmal mit
halberstickter Stimme. Aber sie sah ihn an, ohne zu verstehen, und
streckte
wieder die Arme aus. Er sah um sich, suchte irgend etwas, das ihn
befreien
konnte. Hier auf der Kommode, dem Bett gegenüber, lag der Hut, noch
steckte die
Nadel drin; er zog sie heraus, und indem er sie in die linke Faust
nahm, stach
er sie dem Weibe durchs Hemd in die Brust . . .
Er
hatte gut getroffen. Sie hob sich krampfhaft in die
Höhe, stieß einen Schrei aus, fuhr mit den Armen hin und her, packte
die Nadel,
hatte die Kraft nicht, sie aus der Wunde zu ziehen, und sank zurück.
Gustav
stand neben ihr, sah sie zucken, die Augen
verdrehen, nochmals den Kopf heben, wieder zurücksinken . . . sterben .
. .
Dann erst zog er die Nadel aus der Wunde . . . es war gar kein Blut
daran. Er
verstand eigentlich gar nicht, was geschehen war.
Plötzlich
aber wußte er es. Er lief zum Fenster ins
Nebenzimmer, hielt den Vorhang hoch, steckte den Kopf hinaus und schrie
hinunter, so laut er konnte: »Mörder! Mörder!« Er sah noch, wie die
Leute
zusammenliefen, sah, wie man heraufdeutete, dann entfernte er sich vom
Fenster,
setzte sich ruhig auf den Sessel und wartete.
Ihm
war, als wäre das sehr gut, was er getan. Er
dachte an seine Frau, die schon lang im Sarge lag und der die Würmer in
die
Augenhöhlen kröchen, und zum ersten Mal seit ihrem Tod fühlte er irgend
etwas
wie Frieden in seiner Seele.
Jetzt
wurde heftig geklingelt, Gustav stand rasch auf
und öffnete. – – –