lifedays-seite

moment in time

 

 
Literatur


04.3



Arthur Schnitzler

Die Nächste
Erzählende Geschichten


Die Nächste 2

Er träumte diese Nacht von der Toten. Er sah sich mit ihr in der Waldgegend, wo sie den letzten Sommer verbracht hatten; sie lagen zusammen auf einer sehr weiten, lichtgrünen Wiese, nur ihre Wangen lehnten und glühten aneinander; aber diese leichte Berührung erfüllte ihn mit einem so hohen Glück, wie er es nie in der leidenschaftlichsten Umarmung empfunden.
 
Plötzlich war sie fort, und er sah sie am Ende der Wiese längs des Waldrandes hinlaufen, die Arme in die Luft gestreckt, so wie er in einer illustrierten Zeitung tags vorher ein Ballettmädchen gesehen, das sich vor den Flammen retten wollte. In diesem Augenblick empfand er mit einer Deutlichkeit, wie nur der Traum sie gibt, daß es vollkommen unmöglich für ihn wäre, den Verlust zu überleben, und doch blieb er im Grase liegen und tat nichts, als daß er fürchterlich schrie.
Darüber wachte er auf und hörte sich selbst jammern.
 
Durch das offene Fenster klangen die ersten unentwirrbaren Laute der Frühe, deutlich hörte er nur das Gezwitscher der erwachenden Vögel aus dem Stadtpark.
 
Niemals früher hatte ihn seine Einsamkeit mit einem solchen Grauen erfüllt wie heute. Was er für die Frau empfand, die eben im Gras neben ihm geruht und deren lebenswarme Wange er an der seinen ruhen gefühlt, erfüllte ihn mit einer Sehnsucht nach ihr, die so ungeheuer und schmerzensvoll war, daß er lieber daran sterben wollte, als sie weiter erdulden. Er liebte diese Tote, wie man nur Lebendige lieben darf, mit einer verzehrenden Sehnsucht nach ihrem Besitz, er fühlte sich wieder von dem Duft ihres Leibes umhüllt, er bewegte leise seine Lippen, als wäre sie wieder bei ihm und könnte seinen Kuß empfangen. Dann rief er ihren Namen, rief ihn immer lauter, breitete seine Arme aus, erhob sich, stand auf, ließ die Arme sinken, fühlte eine Beschämung in sich aufsteigen, als hätte er sich an einer vergangen, die wie seine Freuden, so auch seine Sehnsucht und seine Träume nicht mehr teilen konnte und die er nur beweinen, aber nicht verlangen durfte.
 
Er stand sehr früh auf, ging eine Stunde im Park spazieren und arbeitete im Büro so fleißig, als gälte es, durch redliches Betragen eine Sünde wieder gutzumachen. Ein Gedanke kam ihm auch, und es wunderte ihn nur, daß er nicht früher gekommen war: Wenn er sich ganz von der Welt zurückzöge, die ihm wohl noch Versuchungen, aber keine Lust mehr bringen durfte? Er dachte an einen entfernten Verwandten seiner Mutter, der als reifer Mann in ein Kloster gegangen war. Der Gedanke dieser Möglichkeit beruhigte ihn.
 
Nachmittags lag er wieder auf dem Bette, abends ging er fort. Er kannte seinen Weg. Er ging an dieselbe Stelle, zu der gleichen Bank, auf der er gestern gesessen. Er wartete, und als er seine Gedanken freiließ und in der Schwüle des Abends in eine Art von Halbschlummer verfallen war, erwachte er mit der Empfindung, daß er seine Frau erwarte. Diese Vorstellung trat so entschieden auf, daß er sie mit Aufgebot seines Willens verscheuchen mußte. Er wartete und hoffte zugleich, daß die Erwartete nicht kommen würde. Er war verwirrt und müde und hatte das Gefühl, irgendwie wehrlos preisgegeben zu sein und einem Schicksal entgegenzugehen, das ihm bestimmt war. Viele Leute kamen vorüber, auch Frauen und Mädchen; sie hatten nicht mehr Bedeutung für ihn als Bilder, die er zufällig im Durchblättern eines Buchs gefunden hätte, während er ein ganz bestimmtes suchte. Plötzlich fiel ihm ein: Wenn sie nicht vorüberkommt? Nun, wenn auch nicht, er wußte ja, wo sie wohnte, könnte vor dem Tore warten, in das Haus treten, die Stiege hinaufgehen ... nein, das würde er keineswegs; wer weiß, ob sie allein wohnte ... Aber keinesfalls kann sie ihm entgehen.
 
Es wurde spät; die Dunkelheit schritt vor. Plötzlich erblickte er die Erwartete. Aber sie war an ihm vorbeigeschritten, ohne daß er sie erkannt hatte. Wieder war es erst der Gang, durch den sie ihm auffiel. Sein Herz klopfte heftig. Er erhob sich rasch und folgte ihr. Es war ihm, als müßte er sie mit dem Namen seiner toten Gattin anrufen; doch fühlte er gleich, daß er das nicht durfte. Er ging so rasch, daß er ganz unversehens nahe neben sie gekommen war. Sie wandte den Kopf nach ihm und lächelte, als könnte sie sich seiner erinnern; dann aber schritt sie nur schneller vorwärts. Er folgte ihr wie in einem Rausch. Nun gab er sich vollkommen dem Wahn gefangen, daß es die Tote wäre; er kämpfte nicht mehr dagegen an. Seine Augen hafteten gebannt an ihrem Nacken. Er flüsterte den Namen der Toten, flüsterte ihn noch einmal lauter, er sprach ihn aus . . . »Therese« . . .
 
Sie blieb stehen. Er war neben ihr, ganz erschrocken. Sie schaute ihm ins Gesicht, schüttelte den Kopf, erstaunt, und schickte sich an weiterzugehen. Mit halberstickter Stimme sagte er: »Ich bitte Sie ... ich bitte Sie ...« Sie antwortete ganz sanft: »Was wollen Sie denn?« Es war eine ganz fremde Stimme. Wenn er sich später dieses Moments erinnerte, sah er sich selbst immer um viele Jahre jünger, bartlos, fast wie ein Kind, denn sie schaute ihn an, wie man Kinder ansieht, die einem gefallen.
 
Sie sprach weiter: »Woher kennen Sie mich denn? Woher wissen Sie denn, wie ich heiße?«
 
Es kam ihm gar nicht sonderbar vor, daß sie wirklich so hieß wie die Verstorbene. Er sagte: »Ich habe Sie schon gestern ... gesehen.«
 
»Ach so.« Sie glaubte offenbar, daß er sich im Hause nach ihrem Namen erkundigt. Er fühlte seinen Mut wachsen.
 
»Ich hab's aber gespürt«, sagte sie, »gestern abend, daß wer hinter mir geht. Ich dreh' mich ja nie auf der Straßen um, aber man spürt's gleich. Is' 's nicht wahr?«
Sie gingen nebeneinander her, und Gustav fühlte eine plötzliche Aufgeräumtheit, als hätte er ein paar Glas Wein getrunken.
 
»Aber daß mich einer anred't, das is' mir schon lang net passiert. Freilich, es is' auch eine Seltenheit, daß ich so allein auf der Straße geh', am Abend. Bei Tag freilich, da is' 's was anderes – no, nicht wahr? – bei Tag hat man doch immer was in der Stadt zu tun?«
 
Er hörte ihr zu. Ein Gefühl des Behagens kam über ihn. Der Klang dieser Frauenstimme tat ihm wohl. Als sie jetzt schwieg und ihn von der Seite lächelnd ansah, als erwartete sie ein Wort von ihm, sagte er: »Jetzt is' 's aber bei Tag so heiß; wenn man nicht muß, sollte man immer erst abends ins Freie. So kühl wie im Zimmer is' es bei Tag doch nirgends.« Er freute sich, daß er so leicht und gewandt reden konnte. Er hatte es gar nicht gehofft.
 
»Da hab'n Sie schon recht. Und besonders dort, wo ich wohne ... na, Sie wissen ja ...«, sie lächelte dabei freundlich ..., »da kommt nie eine Sonne hin. Wirklich, ich muß schon sag'n: Wenn ich so zu Mittag auf'n Ring hinausgeh', das is' grad, wie wenn man in einen Glutofen käm'.«
 
Dies gab ihm Anlaß, von der Hitze zu sprechen, die in seinem Büro herrschte, und von seinen Kollegen, die manchmal über der Arbeit einschliefen. Sie lachte darüber, das ermutigte ihn, und mit einer wahren Freude an seinen eigenen Worten und an ihrem Zuhören kam er immer mehr ins Erzählen: wie er seine Tage verbringe, daß er seit einiger Zeit verwitwet sei . . . er sprach das Wort aus, als sei es etwas ganz Gewöhnliches, und doch wußte er, daß er es bis heute, auf sich bezüglich, noch nie ausgesprochen. Es tat ihm wohl, daß seine Begleiterin ihn darauf mit einem bedauernden Blicke ansah.
 
Dann berichtete sie von sich. Er erfuhr, daß sie die Geliebte eines sehr jungen Mannes sei, der jetzt eben mit seinen Eltern für einige Wochen auf dem Lande lebe und erst in drei Wochen zurückkommen sollte.
 
»Sonst is' er immer um sieben Uhr abends bei mir, und das bin ich schon so gewohnt, daß ich gar nicht weiß, was ich mit der Zeit anfangen soll, wenn er nicht da is'. Sonst is' natürlich er mit mir spazierengegangen, jetzt muß ich allein herumlaufen; er weiß gar nix davon . . . oh, er dürft' gar nix davon wissen, er is' ja so eifersüchtig! Aber ich bitt' Sie, kann man denn verlangen, daß ich an den schönen Abenden im Zimmer sitz' – no, nicht wahr? Da red' ich alleweil mit Ihnen . . . das sollt' ich doch schon gewiß nicht. Aber schaun S', wenn man so acht Tag' lang mit niemandem ein vernünftiges Wort gesprochen hat, so is' es eine rechte Erholung.«
 
Sie waren in der Nähe ihrer Wohnung.
 
»Wollen Sie schon nach Haus gehen, Fräulein?« sagte er. »Setzen wir uns doch noch ein bißl in den Stadtpark und plauschen weiter.«
 
Sie kehrten um, gingen die paar Schritte zum Stadtpark, und in einer recht dunklen Allee setzten sie sich auf eine Bank. Sie saß ganz nahe bei ihm, er schloß halb die Augen, und da sie schwieg, hatte er wieder ganz die Empfindung, als säße seine Frau neben ihm. Doch als sie wieder zu reden anfing, zuckte er zusammen. Es war ihm, als hätte diese Frau neben ihm, gerade während sie schwieg und ihn ihre Nähe und Wärme fühlen ließ, wie mit Absicht die Tote nachzuäffen versucht. Und wieder fuhr ihm die Idee durch den Kopf, sie wüßte, was in ihm vorging. Ein leichter Ärger regte sich in ihm. Er fühlte, daß hier eine gewisse Macht über ihn ausgeübt wurde, zu der es kein Recht gab und von der er sich befreien muß. Wer war denn diese Person? Eine Frau wie viele andere, die ihn gar nichts anging; die Geliebte eines jungen Mannes, der jetzt mit seinen Eltern auf dem Land war, und vorher wohl die Geliebte von zehn oder hundert andern. Und doch – es half nichts, durch ihr Kleid strömte dieselbe Wärme zu ihm herüber wie von seiner gestorbenen Frau. Sie hatte den gleichen Gang, den gleichen Nacken und ein sonderbares Zucken um die Lippen, ganz wie sie.
 
Er drängte sich näher an sie. Von ihren Haaren kam ein Duft, den er begierig einatmete. Es verlangte ihn, ihren Hals zu küssen, er tat es, sie ließ es geschehen. Jetzt sagte sie irgend etwas, so leise, daß er es nicht verstand. Er fragte, die Lippen noch an ihrem Hals: »Was, Therese?«
»Ich muß nach Hause gehen, es wird spät.«
»Was haben Sie denn zu tun?«
»Ah, nicht deswegen«, antwortete sie und stand plötzlich auf. Jetzt war sie wieder vollkommen eine andere. Er bekam eine wahre Lust, ihr zu drohen wie jemandem, der sich etwas anmaßt, das ihm nicht zukommt. Es war ihm, als hätte er eine zu verteidigen, die selbst nicht mehr dazu imstande wäre. Er stand auf, griff nach ihrer Hand, drückte ihr Handgelenk, wollte ihr weh tun. Aber da schwand sein Zorn wieder, sein Druck wurde leiser, zärtlicher, und nah, beinah aneinandergeschmiegt, verließen sie den Garten.
 
Sie sprachen auf dem Heimweg nichts. Beim Haustor blieb sie stehen. »Ich danke schön für die Begleitung«, sagte sie.
»Darf ich nicht mit Ihnen . . .?«
»Oh!« sagte sie, »was fallt Ihnen ein! Wenn der Hausmeister was merkt – gleich wüßt's das ganze Haus. Na, und dann . . .«
 
Gustavs Augen glühten. Sie sah ihn beinah mitleidig, aber sehr angenehm berührt an.
»Wissen Sie was«, sagte sie dann ganz leise, »morgen Nachmittag um vier – da is' 's nicht auffallend. Da kommen Sie noch bei Tag aus 'm Haus.«
 
Er nickte wie befreit.
 
»Also adieu, jetzt müssen S' gehen.« Sie entzog ihm ihre Hand, die er noch in der seinen hatte, und eilte die Treppen hinauf.
 
Gustav tat in dieser Nacht kein Auge zu. Im dumpfen Halbschlummer dachte er an die Tote, und es war ihm, als müßte er sie an der Lebenden rächen, die ebenso duftete, die gleiche Wärme von sich strömte und dieselben Begierden entfesselte wie jene, die nun im Grabe ruhte. Er dachte auch daran, daß es noch hundert, noch tausend Weiber gäbe wie die, mit der er heut nacht im Stadtpark gesessen und die nichts viel Besseres war als eine Dirne. Er fühlte mit einer Deutlichkeit wie nie zuvor die ungeheure Ungerechtigkeit, die an der Toten geschehen war, und ahnte einen lächerlichen Betrug, der an ihm verübt werden sollte. Und wenn er an den kommenden Nachmittag dachte, war es ihm unmöglich, sich eine andere in seinen Armen vorzustellen als seine Frau. Er fühlte sich wehrlos, und das erfüllte ihn mit Zorn.
 
Vormittags im Büro kam für eine kurze Zeit Ruhe über ihn. Einen Moment dachte er daran, jene Person gar nicht zu besuchen. Dieser Einfall machte ihn geradezu leichter atmen. Dann tauchte ein anderer Gedanke auf: wohl zu ihr zu gehen, sich aber nach einer letzten Wonnestunde von ihr und zugleich von allen Freuden der Welt zu verabschieden und so, wie er sich neulich vorgenommen, in ein Kloster zu treten.
 
Er saß lang bei Tisch, trank einen besseren Wein als gewöhnlich und ging dann zu ihr. Es war ein sehr heißer Nachmittag, und das Pflaster war ganz weiß von Sonne.
 
Als er in die Wollzeile kam, wehte ihm eine kühlere Luft entgegen. Die Straße, in der ihr Haus stand, lag im tiefsten Schatten und war menschenleer. Das Fenster, aus dem er sie vor zwei Tagen hatte blicken sehen, war geöffnet, doch waren die Vorhänge heruntergelassen und bewegten sich leicht im Luftzug.
 
Er trat durch das Haustor, schritt die Stiege hinauf. Währenddem erinnerte er sich jenes Abenteuers aus der Jugendzeit. Auch damals pflegte er um diese Stunde zu seiner Geliebten zu gehen. Die Türe oben war angelehnt, er öffnete sie, Therese stand vor ihm, doch nahm er ihre Züge in dem dunklen Vorzimmer nicht deutlich wahr. Sie schloß die Türe rasch und öffnete die Türe zum nächsten Zimmer so schnell, daß der Fenstervorhang durch den Luftzug in die Höhe flog und Gustav einen Augenblick den Dachfirst des Hauses gegenüber sehen konnte. Die Türe zum anstoßenden Zimmer stand offen. Gustav legte den Hut auf den Tisch, setzte sich, sie neben ihn.
 
»Haben Sie einen weiten Weg her gehabt?« fragte sie.
Er blickte durch die offene Tür. Er sah ein schlechtes Ölbild, die Madonna mit dem Jesukinde vorstellend, das über dem Bette hing.
»Nein, ganz nah«, sagte er.
 
Sie hatte einen dunkelroten Schlafrock an, mit sehr weiten Ärmeln, der den Hals frei ließ. Ihr Blick schien ihm frech, ihre Züge minder jung als gestern abend. Er glaubte jetzt, daß er weggehen werde, ohne auch nur ihre Fingerspitzen berührt zu haben.
 
»Hier wohn' ich«, sagte sie, »aber noch nicht gar lang.« Sie fing wieder zu plaudern an, erzählte von ihrer früheren Wohnung, die »ihm« nicht gefallen hätte, weshalb er ihr diese hier gemietet; dann redete sie von einer Schwester, die in Prag verheiratet sei, dann von ihrem »Ersten«, einem Hausbesitzersohn, der sie hatte sitzen lassen, dann von einer Reise nach Venedig, die sie mit einem »Ausländer« unternommen.
 
Gustav saß regungslos da und ließ sie reden ... Wo war er da hingeraten! Er, der noch vor wenigen Monaten der Gatte einer tugendhaften Frau gewesen war, die ihm allein gehört und keinem vor ihm . . . Was wollte er da? Was hatte er mit der zu tun? . . . Wo war sein Verlangen, wo seine Wünsche? . . . Er stand auf, als wollte er sich entfernen.
 
Da erhob auch sie sich, breitete die Arme um seinen Hals und zog ihn an sich. Er war ihr so nah, daß er nur das Leuchten ihrer Augen sehen konnte. Wieder stieg der Duft von ihrem Hals empor zu ihm, zugleich fühlte er ihre Lippen heiß auf den seinen . . . Wahrhaftig, es war kein anderer Kuß, als er ihn noch im vorigen Herbst empfangen. Es lag in ihm dieselbe Weichheit, dieselbe Wärme, dieselbe Nähe, dieselbe Lust . . .
 
Er wachte jäh auf. Er hatte die Arme unter seinem Kopf gekreuzt wie oft des Nachts, aber er sah eine andere Decke über sich. Und hier, über ihm, die Madonna mit dem Jesukind, und neben ihm lag eine fremde Frau mit schwergeschlossenen Augen und einem Lächeln um den Mund, und vor wenigen Minuten hatte er Therese in den Armen gehalten, seine verstorbene Frau. Er hatte jetzt nur einen Wunsch: Die da möge ruhig liegenbleiben, die Augen nicht öffnen, die Lippen nicht bewegen, bis er aufgestanden war und sich entfernt hätte. Er wußte, wenn sie von neuem begänne, so zu blicken, so zu lächeln, so zu seufzen und insbesondere so mit den Lippen zu zucken wie die, welche jetzt tot war – er konnte es nicht ertragen, er durfte es nicht dulden. Es war zu infam, was dieses Weib gewagt hatte.
 
Er betrachtete sie mit einem wütenden Blick. War es nur möglich, daß dieses erbärmliche Weib, das hundert Liebhaber gehabt, mit jeder Miene, mit jeder Bewegung, während sie ihm die höchste Wonne gab, die arme Tote, die jetzt verweste, geradezu nachgeäfft? Und er lag da neben ihr . . . Er schüttelte sich.
 
Er erhob sich rasch, aber geräuschlos. Sie regte sich nicht. Er kleidete sich eilig an. Dann stand er vor ihr, neben dem Bett. Sein Blick verfolgte die Linien ihres Halses. Es war ihm jetzt, als hätte dieses Weib einen fürchterlichen Diebstahl verübt und als wäre seine tote Therese eine Beraubte und Betrogene ... Nein, das dürfte nicht sein, daß sie tot im Sarge läge und das Fleisch von ihren Knochen fiele, während die andern weiterleben und lachen und ihm sein dürfen, was ihm Jene war, ihm gewähren, was Jene ihm früher gewährt! Er schämte sich, daß nicht alles Glück der Erde zugleich mit ihr begraben war.
 
Jetzt regte sie sich wieder, geradeso wie Therese sich im Schlummer gestreckt und gedehnt. Sie öffnete die Augen ... ja, wie sie. Es zuckte um ihre Lippen – ja, ganz so ... Ah, und jetzt auch noch das? . . . Sie öffnete die Arme, als wollte sie ihn an sich ziehen . . . »Sprich!« rief er. Er wollte die Stimme hören. Das hätte ihm die entweichende Besinnung wiedergegeben. Aber sie sprach nicht. »Sprich!« rief er noch einmal mit halberstickter Stimme. Aber sie sah ihn an, ohne zu verstehen, und streckte wieder die Arme aus. Er sah um sich, suchte irgend etwas, das ihn befreien konnte. Hier auf der Kommode, dem Bett gegenüber, lag der Hut, noch steckte die Nadel drin; er zog sie heraus, und indem er sie in die linke Faust nahm, stach er sie dem Weibe durchs Hemd in die Brust . . .
 
Er hatte gut getroffen. Sie hob sich krampfhaft in die Höhe, stieß einen Schrei aus, fuhr mit den Armen hin und her, packte die Nadel, hatte die Kraft nicht, sie aus der Wunde zu ziehen, und sank zurück.
 
Gustav stand neben ihr, sah sie zucken, die Augen verdrehen, nochmals den Kopf heben, wieder zurücksinken . . . sterben . . . Dann erst zog er die Nadel aus der Wunde . . . es war gar kein Blut daran. Er verstand eigentlich gar nicht, was geschehen war.
 
Plötzlich aber wußte er es. Er lief zum Fenster ins Nebenzimmer, hielt den Vorhang hoch, steckte den Kopf hinaus und schrie hinunter, so laut er konnte: »Mörder! Mörder!« Er sah noch, wie die Leute zusammenliefen, sah, wie man heraufdeutete, dann entfernte er sich vom Fenster, setzte sich ruhig auf den Sessel und wartete.
 
Ihm war, als wäre das sehr gut, was er getan. Er dachte an seine Frau, die schon lang im Sarge lag und der die Würmer in die Augenhöhlen kröchen, und zum ersten Mal seit ihrem Tod fühlte er irgend etwas wie Frieden in seiner Seele.
 
Jetzt wurde heftig geklingelt, Gustav stand rasch auf und öffnete. – – –

 

_____________________________



  lifedays-seite - moment in time