Der Tod
des Junggesellen 2
Der
Arzt hatte den Blick
auf die offene Schreibtischschublade gerichtet und plötzlich, in
großen,
römischen Lettern, starrten ihm von einem Kuvert die drei Worte
entgegen: »An
meine Freunde«. »O,« rief er aus, nahm das Kuvert, hielt es in die Höhe
und
wies es den anderen. »Dies ist für uns,« wandte er sich an den Diener
und
deutete ihm durch eine Kopfbewegung an, daß er hier überflüssig sei.
Der Diener
ging. »Für uns,« sagte der Dichter mit weit offenen Augen. »Es kann
doch kein
Zweifel sein,« meinte der Arzt, »daß wir berechtigt sind, dies zu
eröffnen.«
»Verpflichtet,« sagte der Kaufmann und knöpfte seinen Überzieher zu.
Der
Arzt hatte von einer
gläsernen Tasse ein Papiermesser genommen, öffnete das Kuvert, legte
den Brief
hin und setzte den Zwicker auf. Diesen Augenblick benutzte der Dichter,
um das
Blatt an sich zu nehmen und zu entfalten. »Da er für uns alle ist,«
bemerkte er
leicht und lehnte sich an den Schreibtisch, so daß das Licht des
Deckenlüsters
über das Papier hinlief. Neben ihn stellte sich der Kaufmann. Der Arzt
blieb
sitzen. »Vielleicht lesen Sie laut,« sagte der Kaufmann. Der Dichter
begann:
»An
meine Freunde.« Er
unterbrach sich lächelnd. »Ja, hier steht es noch einmal, meine
Herren,« und
mit vorzüglicher Unbefangenheit las er weiter. »Vor einer Viertelstunde
ungefähr hab' ich meine Seele ausgehaucht. Ihr seid an meinem Totenbett
versammelt und bereitet Euch vor, gemeinsam diesen Brief zu lesen, –
wenn er
nämlich noch existiert in der Stunde meines Todes, füg ich hinzu. Denn
es
könnte sich ja ereignen, daß wieder eine bessere Regung über mich
käme.« »Wie?«
fragte der Arzt. »Bessere Regung über mich käme,« wiederholte der
Dichter und
las weiter, »und daß ich mich entschlösse, diesen Brief zu vernichten,
der ja
mir nicht den geringsten Nutzen bringt und Euch zum mindesten
unangenehme
Stunden verursachen dürfte, falls er nicht etwa einem oder dem
anderen von Euch
geradezu das Leben vergiftet.«
»Leben
vergiftet,«
wiederholte fragend der Arzt und wischte die Gläser seines Zwickers.
»Rascher,«
sagte der Kaufmann mit belegter Stimme. Der Dichter las weiter.
»Und
ich frage mich, was
ist das für eine seltsame Laune, die mich heute an den Schreibtisch
treibt und
mich Worte niederschreiben läßt, deren Wirkung ich ja doch nicht mehr
auf Euern
Mienen werde lesen können? Und wenn ich's auch könnte, das Vergnügen
wäre zu
mäßig, um als Entschuldigung gelten zu dürfen für die fabelhafte
Gemeinheit,
der ich mich soeben, und zwar mit dem Gefühle herzlichsten Behagens
schuldig
mache.«
»Ho,«
rief der Arzt mit
einer Stimme, die er an sich nicht kannte. Der Dichter warf dem Arzt
einen
hastig-bösen Blick zu und las weiter, schneller und tonloser als
früher.
»Ja,
Laune ist es, nichts
anderes, denn im Grunde habe ich gar nichts gegen Euch. Hab' Euch sogar
alle
recht gern, in meiner, wie Ihr mich in Eurer Weise. Ich achte Euch
nicht einmal
gering, und wenn ich Eurer manchmal gespottet habe, so hab' ich Euch
doch nie
verhöhnt. Nicht einmal, ja am allerwenigsten in den Stunden, von denen
in Euch
allen sogleich die lebhaftesten und peinlichsten Vorstellungen sich
entwickeln
werden. Woher also diese Laune? Ist sie vielleicht doch aus einer
tiefen und im
Grunde edlen Lust geboren nicht mit allzuviel Lügen aus der Welt zu
gehen? Ich
könnte mir's einbilden, wenn ich auch nur ein einzigesmal die leiseste
Ahnung
von dem verspürt hätte, was die Menschen Reue nennen.«
»Lesen
Sie doch endlich den Schluß,« befahl
der Arzt mit seiner neuen Stimme. Der Kaufmann nahm dem Dichter, der
eine Art
Lähmung in seine Finger kriechen fühlte, den Brief einfach fort, ließ
die Augen
rasch nach unten fahren und las die Worte:
»Es
war ein Verhängnis,
meine Lieben, und ich kann's nicht ändern. Alle Eure Frauen habe ich
gehabt.
Alle.«
Der
Kaufmann hielt
plötzlich inne und blätterte zurück. »Was haben Sie?« fragte der Arzt.
»Der
Brief ist vor neun Jahren geschrieben,« sagte der Kaufmann. »Weiter,«
befahl
der Dichter. Der Kaufmann las:
»Es
waren natürlich sehr
verschiedene Arten von Beziehungen. Mit der einen lebte ich beinahe wie
in
einer Ehe, durch viele Monate. Mit der anderen war es ungefähr das, was
man ein
tolles Abenteuer zu nennen pflegt. Mit der dritten kam es gar so weit,
daß ich
mit ihr gemeinsam in den Tod gehen wollte. Die vierte habe ich die
Treppe
hinunter geworfen, weil sie mich mit einem anderen betrog. Und eine war
meine
Geliebte nur ein einziges Mal. Atmet Ihr alle zugleich auf, meine
Teuern? Tut es nicht. Es war vielleicht die
schönste Stunde meines . . . und ihres Lebens. So meine Freunde. Mehr
habe ich
Euch nicht zu sagen. Nun falte ich dieses Papier zusammen, lege es in
meinen
Schreibtisch, und hier mag es warten, bis ich's in einer anderen Laune
vernichte, oder bis es Euch übergeben wird in der Stunde, da ich auf
meinem
Totenbette liege. Lebt wohl.«
Der
Arzt nahm dem Kaufmann
den Brief aus der Hand, las ihn anscheinend aufmerksam vom Anfang bis
zum Ende.
Dann sah er zum Kaufmann auf, der mit verschränkten Armen dastand und
wie
höhnisch zu ihm heruntersah. »Wenn Ihre Frau auch im vorigen Jahre
gestorben
ist,« sagte der Arzt ruhig, »deswegen bleibt es doch wahr.« Der Dichter
ging im
Zimmer auf und ab, warf einige Male den Kopf hin und her, wie in einem
Krampf,
plötzlich zischte er zwischen den Zähnen hervor »Kanaille« und blickte
dem
Worte nach, wie einem Ding, das in der Luft zerfloß. Er versuchte sich
das Bild
des jungen Wesens zurückzurufen, das er einst als Gattin in den Armen
gehalten.
Andere Frauenbilder tauchten auf, oft erinnerte und vergessen
geglaubte, gerade
das erwünschte zwang er nicht hervor. Denn seiner Gattin Leib war welk
und ohne
Duft für ihn, und allzu lange war es her, daß sie aufgehört hatte ihm
die
Geliebte zu bedeuten. Doch anderes war sie ihm geworden, mehr und
edleres: eine
Freundin, eine Gefährtin; voll Stolz auf seine Erfolge, voll Mitgefühl
für
seine Enttäuschungen, voll Einsicht in sein tiefstes Wesen. Es erschien
ihm gar
nicht unmöglich, daß der alte Junggeselle in seiner Bosheit nichts
anderes
versucht hatte, als ihm, dem insgeheim beneideten Freunde die Kameradin
zu
nehmen. Denn all jene anderen Dinge, – was hatten sie im Grunde zu
bedeuten? Er
gedachte gewisser Abenteuer aus vergangener und naher Zeit, die ihm in
seinem
reichen Künstlerleben nicht erspart geblieben waren, und über die seine
Gattin
hinweggelächelt oder -geweint hatte. Wo war dies heute alles hin? So
verblaßt,
wie jene ferne Stunde, da seine Gattin sich in die Arme eines nichtigen
Menschen geworfen, ohne Überlegung, ohne Besinnung vielleicht; so
ausgelöscht
beinahe, wie die Erinnerung dieser selben Stunde in dem toten Haupt,
das da
drinnen auf qualvoll zerknülltem Polster ruhte. Ob es nicht sogar Lüge
war, was
in dem Testament geschrieben stand? Die letzte Rache des armseligen
Alltagsmenschen, der sich zu ewigem Vergessen bestimmt wußte, an dem
erlesenen
Mann, über dessen Werke dem Tode keine Macht gegeben war? Das
hatte manche Wahrscheinlichkeit für sich. Aber wenn es
selbst Wahrheit war, – kleinliche Rache blieb es doch und eine
mißglückte in
jedem Fall.
Der
Arzt starrte auf das
Blatt Papier, das vor ihm lag, und er dachte an die alternde, milde, ja
gütige
Frau, die jetzt zu Hause schlief. Auch an seine drei Kinder dachte er;
den
Ältesten, der heuer sein Freiwilligenjahr abdiente, die große Tochter,
die mit
einem Advokaten verlobt war, und die Jüngste, die so anmutig und
reizvoll war,
daß ein berühmter Künstler neulich erst auf einem Balle gebeten hatte,
sie
malen zu dürfen. Er dachte an sein behagliches Heim, und alles das, was
ihm aus
dem Brief des Toten entgegenströmte, schien ihm nicht so sehr unwahr,
als
vielmehr von einer rätselhaften, ja erhabenen Unwichtigkeit. Er hatte
kaum die
Empfindung, daß er in diesem Augenblick etwas Neues erfahren hatte.
Eine
seltsame Epoche seines Daseins kam ihm ins Gedächtnis, die vierzehn
oder
fünfzehn Jahre weit zurücklag, da ihn gewisse Unannehmlichkeiten in
seiner
ärztlichen Laufbahn betroffen und er, verdrossen und endlich bis zur
Verwirrung
aufgebracht, den Plan gefaßt hatte, die Stadt, seine Frau, seine
Familie zu
verlassen. Zugleich hatte er damals begonnen eine Art von wüster,
leichtfertiger Existenz zu führen, in die ein sonderbares, hysterisches
Frauenzimmer hineingespielt hatte, das sich später wegen eines anderen
Liebhabers umbrachte. Wie sein Leben nachher allmählich wieder in die
frühere
Bahn eingelaufen war, daran vermochte er sich überhaupt nicht mehr zu
erinnern.
Aber in jener bösen Epoche, die wieder vergangen war, wie sie gekommen,
einer
Krankheit ähnlich, damals mußte es geschehen sein, daß seine Frau ihn
betrogen
hatte. Ja, gewiß verhielt es sich so, und es war ihm ganz klar, daß er
es
eigentlich immer gewußt hatte. War sie nicht einmal nahe daran gewesen,
ihm die
Sache zu gestehen? Hatte sie nicht Andeutungen gemacht? Vor dreizehn
oder
vierzehn Jahren . . . Bei welcher Gelegenheit nur . . .? War es nicht
einmal im
Sommer gewesen, auf einer Ferienreise – spät abends auf einer
Hotelterrasse? . .
. Vergebens sann er den verhallten Worten nach.
Der
Kaufmann stand am
Fenster und sah in die milde, weiße Nacht. Er hatte den festen Willen,
sich
seiner toten Gattin zu erinnern. Aber so sehr er seine innern Sinne
bemühte,
anfangs sah er immer nur sich selbst im Lichte eines grauen Morgens
zwischen
den Pfosten einer ausgehängten Türe stehen, in schwarzem Anzug,
teilnahmsvolle
Händedrücke empfangen und erwidern, und
hatte einen faden Geruch von Karbol und Blumen in der Nase. Erst
allmählich
gelang es ihm, sich das Bild seiner Gattin ins Gedächtnis
zurückzurufen. Doch
war es zuerst nichts als das Bild eines Bildes. Denn er sah nur das
große,
goldgerahmte Porträt, das daheim im Salon über dem Klavier hing und
eine stolze
Dame von dreißig Jahren in Balltoilette vorstellte. Dann erst erschien
ihm sie
selbst als junges Mädchen, das vor beinahe 25 Jahren, blaß und
schüchtern,
seine Werbung entgegengenommen hatte. Dann tauchte die Erscheinung
einer
blühenden Frau vor ihm auf, die neben ihm in der Loge gethront hatte,
den Blick
auf die Bühne gerichtet und innerlich fern. Dann erinnerte er sich
eines
sehnsüchtigen Weibes, das ihn mit unerwarteter Glut empfangen hatte,
wenn er
von einer langen Reise zurückgekehrt war. Gleich darauf gedachte er
einer
nervösen, weinerlichen Person, mit grünlich matten Augen, die ihm seine
Tage
durch allerlei schlimme Laune vergällt hatte. Dann wieder zeigte sich
in hellem
Morgenkleid eine geängstigte, zärtliche Mutter, die an eines kranken
Kindes
Bette wachte, das auch hatte sterben müssen. Endlich sah er ein
bleiches Wesen
daliegen mit schmerzlich heruntergezogenen Mundwinkeln, kühlen
Schweißtropfen
auf der Stirn, in einem von Äthergeruch erfüllten Raum, das seine Seele
mit
quälendem Mitleid erfüllt hatte. Er wußte, daß alle diese Bilder und
noch
hundert andere, die nun unbegreiflich rasch an seinem innern Auge
vorüberflogen, ein und dasselbe Geschöpf vorstellten, das man vor zwei
Jahren
ins Grab gesenkt, das er beweint, und nach dessen Tod er sich erlöst
gefühlt
hatte. Es war ihm, als müßte er aus all den Bildern sich eines wählen,
um zu
einem unsicheren Gefühl zu gelangen; denn nun flatterten Beschämung und
Zorn
suchend ins Leere. Unentschlossen stand er da und betrachtete die
Häuser drüben
in den Gärten, die gelblich und rötlich im Mondschein schwammen und nur
blaßgemalte Wände schienen, hinter denen Luft war.
»Gute
Nacht,« sagte der
Arzt und erhob sich. Der Kaufmann wandte sich um. »Ich habe hier auch
nichts
mehr zu tun.« Der Dichter hatte den Brief an sich genommen, ihn
unbemerkt in
seine Rocktasche gesteckt und öffnete nun die Tür ins Nebenzimmer.
Langsam trat
er an das Totenbett, und die anderen sahen ihn, wie er stumm auf den
Leichnam
niederblickte, die Hände auf dem Rücken. Dann entfernten sie sich.
Im
Vorzimmer sagte der
Kaufmann zum Diener: »Was das Begräbnis anbelangt, so wär' es ja doch
möglich,
daß das Testament beim Notar nähere Bestimmungen enthielte.« »Und
vergessen Sie nicht,« fügte der Arzt hinzu, »an die Schwester des
gnädigen Herrn
nach London zu telegraphieren.« »Gewiß nicht,« erwiderte der Diener,
indem er
den Herren die Türe öffnete.
Auf
der Treppe noch holte
sie der Dichter ein. »Ich kann Sie beide mitnehmen,« sagte der Arzt,
den sein
Wagen erwartete. »Danke,« sagte der Kaufmann, »ich gehe zu Fuß.« Er
drückte den
beiden die Hände, spazierte die Straße hinab, der Stadt zu und ließ die
Milde
der Nacht um sich sein.
Der
Dichter stieg mit dem
Arzt in den Wagen. In den Gärten begannen die Vögel zu singen. Der
Wagen fuhr
an dem Kaufmann vorbei, die drei Herren lüfteten jeder den Hut, höflich
und
ironisch, alle mit den gleichen Gesichtern. »Wird man bald wieder etwas
von
Ihnen auf dem Theater zu sehen bekommen?« fragte der Arzt den Dichter
mit
seiner alten Stimme. Dieser erzählte von den außerordentlichen
Schwierigkeiten,
die sich der Aufführung seines neuesten Dramas entgegenstellten, das
freilich,
wie er gestehen müsse, kaum erhörte Angriffe auf alles mögliche
enthielte, was
den Menschen angeblich heilig sei. Der Arzt nickte und hörte nicht zu.
Auch der
Dichter tat es nicht, denn die oft gefügten Sätze kamen längst wie
auswendig
gelernt von seinen Lippen.
Vor
dem Hause des Arztes
stiegen beide Herren aus, und der Wagen fuhr davon.
Der
Arzt klingelte. Beide
standen und schwiegen. Als die Schritte des Hausmeisters nahten, sagte
der
Dichter: »Gute Nacht, lieber Doktor« und dann mit einem Zucken der
Nasenflügel,
langsam: »ich werd' es übrigens der meinen auch nicht sagen.« Der Arzt
sah an
ihm vorbei und lächelte süß. Das Tor wurde geöffnet, sie drückten
einander die
Hand, der Arzt verschwand im Flur, das Tor fiel zu. Der Dichter ging.
Er
griff in seine
Brusttasche. Ja, das Blatt war da. Wohlverwahrt und versiegelt sollte
es die
Gattin in seinem Nachlaß finden. Und mit der seltenen Einbildungskraft,
die ihm
nun einmal eigen war, hörte er sie schon an seinem Grabe flüstern: Du
Edler . .
. Großer . . .