Der tote Gabriel
»Ist es nicht sonderbar,« sagte Irene mit
lustigen Augen.
»Was hat sich denn geändert, seitdem wir hier in der Loge sitzen und
Champagner
trinken? Nichts. Nicht das geringste. Und plötzlich kommt einem vor,
daß der
Tod gar nicht so Schreckliches ist, als man sich gewöhnlich vorstellt.
Sehen
Sie; ohne weiteres könnte ich mich hier herunterstürzen – oder auch von
einem
Turm. Wie nichts erscheint mir das. Ein Spaß. Und wie gut bekannt wir
zwei
miteinander geworden sind! Aber das verdanken Sie nur Gabriel.«
»Ich habe mir nie eingebildet, ...« sagte
Ferdinand
verbindlich lächelnd und merkte, daß er ein wenig Herzklopfen hatte.
Irenens Augen waren nicht mehr lustig, sie waren
groß,
schwarz und ernst, »Und wissen Sie, wie ich mir das dachte,« sagte sie,
ohne
auf ihn zu hören. »Ich wollte mich als angehende Künstlerin vorstellen
oder
einfach als glühende Verehrerin. Schon lange sehne ich mich ... schon
lange
schmachte ich danach ... in der Art wollte ich beginnen. Sie sind doch
alle
sehr eitel diese Frauen, nicht?«
»Das gehört zum Beruf,« erwiderte Ferdinand.
»Ah, ich hätte ihr so geschmeichelt, daß sie ganz
entzückt gewesen wäre und mich gewiß aufgefordert hätte, wiederzukommen
... Und
ich wär' auch wiedergekommen, öfters sogar, ganz intim wären wir
geworden,
Freundinnen geradezu; bis ich ihr eines Tages ... – ja – bis ich ihr's
ins
Gesicht geschrien hätte, in irgend einer Stunde: ›Wissen Sie auch, was
Sie
getan haben ... Wissen Sie, was Sie sind? Eine Mörderin! Ja, das sind
Sie,
Fräulein Bischof.‹«
Ferdinand betrachtete sie mit Staunen und dachte
wieder:
Was für ein Narr dieser Gabriel gewesen ist.
Die Quadrille war aus, unten summte und rauschte
es, und
alles kam von ferner als vorher. Zwei Paare spazierten vorbei, setzten
sich gar
nicht weit zu einem der Tische an der Wand, unterhielten sich und
lachten ganz
laut. Dann fing die Musik wieder an; es klang und schwoll durch den
Raum.
»Und wenn ich jetzt zu ihr hinginge?« fragte
Irene.
»Jetzt?«
»Was denken Sie, empfinge sie mich?«
»Es wäre eine sonderbare Stunde,« sagte Ferdinand
lächelnd.
»Ach, es kann noch lange nicht Mitternacht sein,
und sie
hat ja heute gespielt.«
»Sie wissen das?«
»Was ist daran verwunderlich, steht es nicht in
der
Zeitung? Sie wird eben erst nach Hause gekommen sein. Wäre es nicht die
einfachste Sache von der Welt? Man läßt sich melden, erzählt irgendeine
Geschichte oder ganz einfach die Wahrheit. Ja. Ich komme geradewegs von
einem
Ball, meine Sehnsucht, Sie kennen zu lernen, war unüberwindlich, nur
einmal
wollt' ich die göttliche Hand küssen ... und so weiter. – Indessen
wartet unten
der Wagen, noch vor der großen Pause ist man zurück. Kein Mensch hat es
bemerkt.«
»Wenn Sie dazu bereit sind, Fräulein,« sagte
Ferdinand,
»so erlauben Sie mir wohl, Sie zu begleiten.«
Irene sah ihn an. Der Ausdruck seiner Mienen war
entschlossen und erregt. »Sie glauben doch nicht, daß ich wirklich ...«
»Aber von einem Turm zu springen, Fräulein, dazu
hätten
Sie Mut genug? ...«
Irene schaute ihm ins Auge, und plötzlich stand
sie auf.
»Dann aber gleich,« sagte sie, und über ihre Stirn lief ein dunkler
Schatten.
Ferdinand rief den Kellner, bezahlte, reichte
Irene den
Arm und führte sie über die zwei Treppen hinab in die Vorhalle. Dort
half er
ihr in den hellgrauen Mantel, sie schlug den Pelzkragen in die Höhe und
nahm
ein Spitzentuch über den Kopf. Ohne ein Wort miteinander zu reden,
traten beide
unter das Tor in die Einfahrt. Ein Wagen fuhr herbei, und lautlos über
die
beschneite Straße rollten sie ihrem Ziele zu.
Ferdinand sah Irene zuweilen von der Seite an.
Sie saß
regungslos, und aus ihrem verhüllten Gesicht starrten die Augen ins
Dunkle. Als
nach wenigen Minuten der Wagen vor dem Hause auf dem Parkring
stehenblieb,
wartete Irene, bis Ferdinand geklingelt hatte und das Tor geöffnet war.
Dann
erst stieg sie aus, und beide gingen langsam die Treppen hinauf.
Ferdinand
fühlte sich wie aus einem Traum erwachen, als das wohlbekannte
Kammermädchen
vor ihm stand und ihn und seine Begleiterin verwundert betrachtete.
»Bitte, fragen Sie das Fräulein,« sagte
Ferdinand, »ob
sie die Güte haben möchte, uns zu empfangen.«
Das Mädchen lächelte dumm und führte das Paar in
den
Salon. Die Flammen des Deckenlusters strahlten auf, und Ferdinand sah
Irene und
sich selbst wie zwei fremde Menschen in dem venezianischen Spiegel
schweben,
der schiefgeneigt über dem schwarzen, glänzenden Flügel hing. Plötzlich
fuhr
ihm ein Gedanke durch den
Kopf. Wie, wenn Irene sich nur darum hieher hätte fuhren lassen, um
Wilhelmine
zu ermorden. Der Einfall schwand so schnell, als er gekommen war; aber
jedenfalls erschien ihm das junge Mädchen, wie es neben ihm stand und
ihm das
Spitzentuch langsam vom Kopf herabglitt, völlig verändert, ja, wie
irgendein
fremdes Wesen, dessen Stimme er noch nicht einmal kannte.
Eine Tür öffnete sich, und Wilhelmine trat ein in
einem
glatten samtnen Hauskleid, das den Hals frei ließ. Sie reichte
Ferdinand die
Hand und betrachtete ihn und das Fräulein mit Blicken, die eher
Heiterkeit als
Verwunderung ausdrückten. Ferdinand versuchte den Anlaß des nächtlichen
Besuches mit scherzhaften Worten zu erklären. Er berichtete, wie seine
Begleiterin während des Tanzes von nichts anderem gesprochen hatte, als
von
ihrer Bewunderung für Fräulein Bischof, und wie er sich in einer Art
von
Faschingslaune erbötig gemacht hatte, das Fräulein zu nachtschlafender
Stunde
in das Haus der Wunderbaren zu geleiten – auf die Gefahr hin, daß sie
beide
gleich wieder die Treppe hinunterbefördert würden.
»Was fällt Ihnen ein,« erwiderte Wilhelmine, »im
Gegenteil, ich bin entzückt,« und sie reichte Irene die Hand. »Nur muß
ich die
Herrschaften bitten, mir beim Abendessen Gesellschaft zu leisten, ich
komme
nämlich eben aus dem Theater.« Man begab sich in den Nebenraum, wo
unter einer
grünlichen Kristallglocke drei matte Glühlampen einen nur zur Hälfte
gedeckten
Tisch beleuchteten. Während Ferdinand seinen Pelz ablegte und ihn auf
den Diwan
warf, nahm Wilhelmine Irene den Mantel selbst von den Schultern und
hing ihn
über eine Stuhllehne. Hierauf nahm sie Gläser aus der Kredenz, füllte
sie mit
weißem Wein, stellte sie vor Ferdinand und Irene hin, dann erst setzte
sie sich
nieder, nahm sich ruhig ein Stück kaltes Fleisch auf den Teller,
zerschnitt es,
sagte »Erlauben Sie« und begann zu essen. Von Zeit zu Zeit warf sie
einen
gutmütigen, wie von fern lächelnden Blick auf Irene und Ferdinand.
Sie findet es natürlich selbstverständlich,
dachte
Ferdinand ein wenig enttäuscht. Und wenn ich mit der Kaiserin von China
gekommen wäre und ihr jetzt meine Ernennung zum Mandarin mitteilte, es
käme ihr
auch nicht sonderbar vor. Schade eigentlich. »Denn Frauen, die niemals
staunen,
gehören niemandem ganz ...« Es war ein Wort von Treuenhof, das ihm
ziemlich
ungenau durch den Kopf ging.
»War es lustig auf dem Ball?« fragte Wilhelmine.
Ferdinand berichtete, daß der Saal überfüllt wäre, meist von häßlichen
Menschen, und auch mit der Musik war' es nicht zum Besten bestellt. Er
redete
so hin. Wilhelmine blickte ihm wohlgelaunt ins Gesicht und wandte sich
an Irene
mit der Frage, ob ihr Begleiter ein flotter Tänzer wäre.
Irene nickte und lächelte. Ihr »Ja« war beinahe
unhörbar.
»Sie haben heute ›Feodora‹ gespielt, Fräulein?«
fragte
Ferdinand, um das Gespräch nicht stocken zu lassen. »War es gut
besucht?«
»Ausverkauft«, erwiderte Wilhelmine.
Irene sprach: »Als Feodora habe ich Sie leider
noch nicht
gesehen, Fräulein Bischof. Aber neulich als Medea. Es war herrlich.«
»Heißen Dank,« entgegnete Wilhelmine.
Irene äußerte noch einige Worte der Bewunderung,
dann
fragte sie Wilhelmine nach ihren Lieblingsrollen und schien ihren
Antworten mit
Anteilnahme zu lauschen; endlich kam es zu einem oberflächlich wirren
Gespräch
darüber, wer der größere Schauspieler sei, der in der darzustellenden
Gestalt
sich völlig verliere oder der über seiner Rolle stehe. Hier erwähnte
Ferdinand,
daß er mit einem jungen Komiker bekannt gewesen sei, der ihm selbst
erzählt
hatte, wie er eine gewisse höchst lustige Rolle gerade am Begräbnistage
seines
Vaters wirkungsvoller gespielt hätte als je.
»Sie haben ja nette Freunde,« bemerkte hierauf
Wilhelmine
und steckte eine Orangenschnitte in den Mund.
Wie ist es nun eigentlich? dachte Ferdinand. Hat
Fräulein
Irene vergessen, daß sie Wilhelmine ins Gesicht eine Mörderin heißen
wollte ...
Und weiß Wilhelmine überhaupt noch, daß ich ihr Geliebter bin, ich, der
mit
einer fremden jungen Dame ihr mitten in der Nacht einen Besuch
abstattet..?
»Sie haben ein so reges Interesse fürs Theater,
Fräulein,« bemerkte Wilhelmine, »sollten Sie vielleicht einmal daran
gedacht
haben, selbst diese Karriere einzuschlagen?«
Irene schüttelte den Kopf. »Ich habe leider kein
Talent.«
»Nun danken Sie Gott,« sagte Wilhelmine, »es ist
ein
Sumpf.«
Und jetzt, während sie begann, von den
Niederträchtigkeiten zu erzählen, die man als Künstlerin von allen
Seiten zu
erdulden habe, sah Ferdinand, wie Irene, gleichsam gebannt, zu einer
Tür
hinschaute, die angelehnt war und durch deren Spalt es bläulich
hereinschimmerte. Und er bemerkte, wie Irenens. Antlitz, das bisher
regungslos
gewesen war, unter seiner Blässe sich leise zu bewegen, wie die
schweigenden
Lippen seltsam zu zucken begannen. Und
ihm war, als gewahrte er in ihren weit geöffneten Augen eine
frevelhafte Lust,
in das bläuliche Zimmer einzudringen und ihr Gesicht in den Polster zu
graben,
auf dem Gabriels Haupt einmal geruht hatte. Dann fiel ihm ein, daß ein
längeres
Ausbleiben Irenens, wenn es schon bis jetzt unbemerkt geblieben sein
mochte,
immerhin von unangenehmen Folgen für sie und vielleicht auch für ihn
begleitet
sein könnte; und er rückte seinen Sessel.
Irene wandte sich ihm zu, wie aus einem Traum
erwachend.
Noch war ein Nachklang von Wilhelminens letzten Worten in der Luft, die
keiner
gehört hatte.
»Es ist wohl Zeit, daß wir gehen,« sagte Irene
und erhob
sich.
»Ich bedaure sehr,« erwiderte Wilhelmine, »daß
ich nicht
länger das Vergnügen habe.«
Irene betrachtete sie mit einem ruhig prüfenden
Blick.
»Nun, mein Kind?« fragte Wilhelmine.
»Es ist sonderbar,« sagte Irene, »wie Sie mich an
ein
Bild erinnern, Fräulein, das bei uns zu Hause hängt. Es stellt eine
kroatische
oder slowakische Bäuerin vor, die auf einer beschneiten Landstraße vor
einem
Heiligenbild betet.«
Wilhelmine nickte gedankenvoll, als erinnerte sie
sich
ganz deutlich des Wintertages, an dem sie irgendwo in Kroatien vor
jenem
Heiligenbild im Schnee gekniet war. Dann ließ sie es sich nicht nehmen,
Irenen
selbst den Mantel um die Schultern zu legen und begleitete ihre Gäste
ins
Vorzimmer. »Nun tanzen Sie lustig weiter,« sagte sie. »Das heißt, wenn
Sie
wirklich auf den Ball zurückfahren.«
Irene wurde totenblaß, aber sie lächelte.
»Man muß sich vor ihm hüten,« fügte Wilhelmine
hinzu und
warf einen Blick auf Ferdinand, den ersten, in dem irgend etwas wie die
Erinnerung in die vergangene Nacht lag.
Ferdinand erwiderte nichts und fühlte nur, wie
Irene ihn
und Wilhelmine mit einem und demselben dunklen Blick umfaßte.
Das Stubenmädchen erschien, Wilhelmine reichte
nochmals
ihren Gästen die Hand, sprach die Hoffnung aus, das junge Mädchen bald
wieder
bei sich zu sehen, und lächelte Ferdinand an, als hätte sie ein
verabredetes
Spiel gegen ihn gewonnen.
Von dem Stubenmädchen mit der Kerze geleitet,
schweigend,
schritten Ferdinand und Irene die Treppe hinunter. Bald schloß sich das
Haustor
hinter ihnen. Der Kutscher öffnete den Schlag, Irene stieg ein,
Ferdinand
setzte sich an ihre Seite. Die Pferde trabten durch den stillen Schnee.
Von
einer Straßenlaterne fiel plötzlich
ein Strahl auf Irenens Antlitz. Ferdinand sah, wie sie ihn anstarrte
und die
Lippen halb öffnete.
»Also Sie,« sagte sie leise. Und es war ihm, als
bebte
Staunen, Grauen, Haß in ihrer Stimme. Sie waren im Dunkeln. Wenn sie
einen
Dolch bei sich hätte, dachte Ferdinand, ob sie ihn mir ins Herz stieße
...? Wie
man's auch nimmt, dazu kam ich recht unschuldig. War ich nicht vielmehr
ein
Prinzip, als ... Und er überlegte, ob er nicht versuchen sollte, ihr
die Sache
zu erklären. Nicht etwa, um sich zu rechtfertigen, sondern eher, weil
dieses kluge
Geschöpf es wohl verdiente, in die tieferen Zusammenhänge der ganzen
Geschichte
eingeweiht zu werden.
Plötzlich fühlte er sich umklammert und auf
seinen Lippen
die Irenens, wild, heiß und süß. Es war ein Kuß, wie er noch niemals
einen
gefühlt zu haben glaubte, so duftend und so geheimnisvoll; und er
wollte nicht
enden. Erst als der Wagen stehenblieb, löste sich Mund von Mund.
Ferdinand verließ den Wagen und war Irenen beim
Aussteigen behilflich.
»Sie werden mir nicht folgen,« sagte sie hart,
und war
auch schon in der Halle verschwunden. Ferdinand blieb draußen stehen.
Er dachte
keinen Augenblick daran, ihren Befehl zu mißachten. Er fühlte ganz
deutlich und
mit plötzlichem Schmerz, daß es vorbei war und daß diesem Kuß nichts
folgen
konnte. –
Drei Tage später berichtete er sein Abenteuer
Anastasius
Treuenhof, dem man nichts zu verschweigen brauchte, da Diskretion ihm
gegenüber
geradeso kindisch gewesen wäre wie vor dem lieben Gott.
»Es ist schade,« sagte Anastasius nach kurzem
Besinnen,
»daß sie nicht Ihre Geliebte geworden ist. Euer Kind hätte mich
interessiert.
Kinder der Liebe haben wir genug, Kinder der Gleichgültigkeit allzu
viel, an
Kindern des Hasses herrscht ein fühlbarer Mangel. Und es ist nicht
unmöglich,
daß uns gerade von ihnen das Heil kommen wird.«
»Sie glauben also,« fragte Ferdinand ...
»Nun was denn bilden Sie sich ein?« entgegnete
Anastasius
streng.
Ferdinand senkte das Haupt und schwieg.
Im übrigen hatte er sein
Schlafwagenbillett nach Triest
in der Tasche, von dort ging es dann weiter nach Alexandrien, Kairo,
Assuan ...
Seit drei Tagen begriff er auch, daß Menschen aus hoffnungsloser Liebe
sterben
können ... andere natürlich ... andere.