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Literatur


04.3


Arthur Schnitzler

Masken und Wunder
Novellen



Der tote Gabriel

»Ist es nicht sonderbar,« sagte Irene mit lustigen Augen. »Was hat sich denn geändert, seitdem wir hier in der Loge sitzen und Champagner trinken? Nichts. Nicht das geringste. Und plötzlich kommt einem vor, daß der Tod gar nicht so Schreckliches ist, als man sich gewöhnlich vorstellt. Sehen Sie; ohne weiteres könnte ich mich hier herunterstürzen – oder auch von einem Turm. Wie nichts erscheint mir das. Ein Spaß. Und wie gut bekannt wir zwei miteinander geworden sind! Aber das verdanken Sie nur Gabriel.«

»Ich habe mir nie eingebildet, ...« sagte Ferdinand verbindlich lächelnd und merkte, daß er ein wenig Herzklopfen hatte.

Irenens Augen waren nicht mehr lustig, sie waren groß, schwarz und ernst, »Und wissen Sie, wie ich mir das dachte,« sagte sie, ohne auf ihn zu hören. »Ich wollte mich als angehende Künstlerin vorstellen oder einfach als glühende Verehrerin. Schon lange sehne ich mich ... schon lange schmachte ich danach ... in der Art wollte ich beginnen. Sie sind doch alle sehr eitel diese Frauen, nicht?«

»Das gehört zum Beruf,« erwiderte Ferdinand.

»Ah, ich hätte ihr so geschmeichelt, daß sie ganz entzückt gewesen wäre und mich gewiß aufgefordert hätte, wiederzukommen ... Und ich wär' auch wiedergekommen, öfters sogar, ganz intim wären wir geworden, Freundinnen geradezu; bis ich ihr eines Tages ... – ja – bis ich ihr's ins Gesicht geschrien hätte, in irgend einer Stunde: ›Wissen Sie auch, was Sie getan haben ... Wissen Sie, was Sie sind? Eine Mörderin! Ja, das sind Sie, Fräulein Bischof.‹«

Ferdinand betrachtete sie mit Staunen und dachte wieder: Was für ein Narr dieser Gabriel gewesen ist.

Die Quadrille war aus, unten summte und rauschte es, und alles kam von ferner als vorher. Zwei Paare spazierten vorbei, setzten sich gar nicht weit zu einem der Tische an der Wand, unterhielten sich und lachten ganz laut. Dann fing die Musik wieder an; es klang und schwoll durch den Raum.

»Und wenn ich jetzt zu ihr hinginge?« fragte Irene.

»Jetzt?«

»Was denken Sie, empfinge sie mich?«

»Es wäre eine sonderbare Stunde,« sagte Ferdinand lächelnd.

»Ach, es kann noch lange nicht Mitternacht sein, und sie hat ja heute gespielt.«

»Sie wissen das?«

»Was ist daran verwunderlich, steht es nicht in der Zeitung? Sie wird eben erst nach Hause gekommen sein. Wäre es nicht die einfachste Sache von der Welt? Man läßt sich melden, erzählt irgendeine Geschichte oder ganz einfach die Wahrheit. Ja. Ich komme geradewegs von einem Ball, meine Sehnsucht, Sie kennen zu lernen, war unüberwindlich, nur einmal wollt' ich die göttliche Hand küssen ... und so weiter. – Indessen wartet unten der Wagen, noch vor der großen Pause ist man zurück. Kein Mensch hat es bemerkt.«

»Wenn Sie dazu bereit sind, Fräulein,« sagte Ferdinand, »so erlauben Sie mir wohl, Sie zu begleiten.«

Irene sah ihn an. Der Ausdruck seiner Mienen war entschlossen und erregt. »Sie glauben doch nicht, daß ich wirklich ...«

»Aber von einem Turm zu springen, Fräulein, dazu hätten Sie Mut genug? ...«

Irene schaute ihm ins Auge, und plötzlich stand sie auf. »Dann aber gleich,« sagte sie, und über ihre Stirn lief ein dunkler Schatten.

Ferdinand rief den Kellner, bezahlte, reichte Irene den Arm und führte sie über die zwei Treppen hinab in die Vorhalle. Dort half er ihr in den hellgrauen Mantel, sie schlug den Pelzkragen in die Höhe und nahm ein Spitzentuch über den Kopf. Ohne ein Wort miteinander zu reden, traten beide unter das Tor in die Einfahrt. Ein Wagen fuhr herbei, und lautlos über die beschneite Straße rollten sie ihrem Ziele zu.

Ferdinand sah Irene zuweilen von der Seite an. Sie saß regungslos, und aus ihrem verhüllten Gesicht starrten die Augen ins Dunkle. Als nach wenigen Minuten der Wagen vor dem Hause auf dem Parkring stehenblieb, wartete Irene, bis Ferdinand geklingelt hatte und das Tor geöffnet war. Dann erst stieg sie aus, und beide gingen langsam die Treppen hinauf. Ferdinand fühlte sich wie aus einem Traum erwachen, als das wohlbekannte Kammermädchen vor ihm stand und ihn und seine Begleiterin verwundert betrachtete.

»Bitte, fragen Sie das Fräulein,« sagte Ferdinand, »ob sie die Güte haben möchte, uns zu empfangen.«

Das Mädchen lächelte dumm und führte das Paar in den Salon. Die Flammen des Deckenlusters strahlten auf, und Ferdinand sah Irene und sich selbst wie zwei fremde Menschen in dem venezianischen Spiegel schweben, der schiefgeneigt über dem schwarzen, glänzenden Flügel hing. Plötzlich fuhr ihm ein Gedanke durch den Kopf. Wie, wenn Irene sich nur darum hieher hätte fuhren lassen, um Wilhelmine zu ermorden. Der Einfall schwand so schnell, als er gekommen war; aber jedenfalls erschien ihm das junge Mädchen, wie es neben ihm stand und ihm das Spitzentuch langsam vom Kopf herabglitt, völlig verändert, ja, wie irgendein fremdes Wesen, dessen Stimme er noch nicht einmal kannte.

Eine Tür öffnete sich, und Wilhelmine trat ein in einem glatten samtnen Hauskleid, das den Hals frei ließ. Sie reichte Ferdinand die Hand und betrachtete ihn und das Fräulein mit Blicken, die eher Heiterkeit als Verwunderung ausdrückten. Ferdinand versuchte den Anlaß des nächtlichen Besuches mit scherzhaften Worten zu erklären. Er berichtete, wie seine Begleiterin während des Tanzes von nichts anderem gesprochen hatte, als von ihrer Bewunderung für Fräulein Bischof, und wie er sich in einer Art von Faschingslaune erbötig gemacht hatte, das Fräulein zu nachtschlafender Stunde in das Haus der Wunderbaren zu geleiten – auf die Gefahr hin, daß sie beide gleich wieder die Treppe hinunterbefördert würden.

»Was fällt Ihnen ein,« erwiderte Wilhelmine, »im Gegenteil, ich bin entzückt,« und sie reichte Irene die Hand. »Nur muß ich die Herrschaften bitten, mir beim Abendessen Gesellschaft zu leisten, ich komme nämlich eben aus dem Theater.« Man begab sich in den Nebenraum, wo unter einer grünlichen Kristallglocke drei matte Glühlampen einen nur zur Hälfte gedeckten Tisch beleuchteten. Während Ferdinand seinen Pelz ablegte und ihn auf den Diwan warf, nahm Wilhelmine Irene den Mantel selbst von den Schultern und hing ihn über eine Stuhllehne. Hierauf nahm sie Gläser aus der Kredenz, füllte sie mit weißem Wein, stellte sie vor Ferdinand und Irene hin, dann erst setzte sie sich nieder, nahm sich ruhig ein Stück kaltes Fleisch auf den Teller, zerschnitt es, sagte »Erlauben Sie« und begann zu essen. Von Zeit zu Zeit warf sie einen gutmütigen, wie von fern lächelnden Blick auf Irene und Ferdinand.

Sie findet es natürlich selbstverständlich, dachte Ferdinand ein wenig enttäuscht. Und wenn ich mit der Kaiserin von China gekommen wäre und ihr jetzt meine Ernennung zum Mandarin mitteilte, es käme ihr auch nicht sonderbar vor. Schade eigentlich. »Denn Frauen, die niemals staunen, gehören niemandem ganz ...« Es war ein Wort von Treuenhof, das ihm ziemlich ungenau durch den Kopf ging.

»War es lustig auf dem Ball?« fragte Wilhelmine. Ferdinand berichtete, daß der Saal überfüllt wäre, meist von häßlichen Menschen, und auch mit der Musik war' es nicht zum Besten bestellt. Er redete so hin. Wilhelmine blickte ihm wohlgelaunt ins Gesicht und wandte sich an Irene mit der Frage, ob ihr Begleiter ein flotter Tänzer wäre.

Irene nickte und lächelte. Ihr »Ja« war beinahe unhörbar.

»Sie haben heute ›Feodora‹ gespielt, Fräulein?« fragte Ferdinand, um das Gespräch nicht stocken zu lassen. »War es gut besucht?«

»Ausverkauft«, erwiderte Wilhelmine.

Irene sprach: »Als Feodora habe ich Sie leider noch nicht gesehen, Fräulein Bischof. Aber neulich als Medea. Es war herrlich.«

»Heißen Dank,« entgegnete Wilhelmine.

Irene äußerte noch einige Worte der Bewunderung, dann fragte sie Wilhelmine nach ihren Lieblingsrollen und schien ihren Antworten mit Anteilnahme zu lauschen; endlich kam es zu einem oberflächlich wirren Gespräch darüber, wer der größere Schauspieler sei, der in der darzustellenden Gestalt sich völlig verliere oder der über seiner Rolle stehe. Hier erwähnte Ferdinand, daß er mit einem jungen Komiker bekannt gewesen sei, der ihm selbst erzählt hatte, wie er eine gewisse höchst lustige Rolle gerade am Begräbnistage seines Vaters wirkungsvoller gespielt hätte als je.

»Sie haben ja nette Freunde,« bemerkte hierauf Wilhelmine und steckte eine Orangenschnitte in den Mund.

Wie ist es nun eigentlich? dachte Ferdinand. Hat Fräulein Irene vergessen, daß sie Wilhelmine ins Gesicht eine Mörderin heißen wollte ... Und weiß Wilhelmine überhaupt noch, daß ich ihr Geliebter bin, ich, der mit einer fremden jungen Dame ihr mitten in der Nacht einen Besuch abstattet..?

»Sie haben ein so reges Interesse fürs Theater, Fräulein,« bemerkte Wilhelmine, »sollten Sie vielleicht einmal daran gedacht haben, selbst diese Karriere einzuschlagen?«

Irene schüttelte den Kopf. »Ich habe leider kein Talent.«

»Nun danken Sie Gott,« sagte Wilhelmine, »es ist ein Sumpf.«

Und jetzt, während sie begann, von den Niederträchtigkeiten zu erzählen, die man als Künstlerin von allen Seiten zu erdulden habe, sah Ferdinand, wie Irene, gleichsam gebannt, zu einer Tür hinschaute, die angelehnt war und durch deren Spalt es bläulich hereinschimmerte. Und er bemerkte, wie Irenens. Antlitz, das bisher regungslos gewesen war, unter seiner Blässe sich leise zu bewegen, wie die schweigenden Lippen seltsam zu zucken begannen.  Und ihm war, als gewahrte er in ihren weit geöffneten Augen eine frevelhafte Lust, in das bläuliche Zimmer einzudringen und ihr Gesicht in den Polster zu graben, auf dem Gabriels Haupt einmal geruht hatte. Dann fiel ihm ein, daß ein längeres Ausbleiben Irenens, wenn es schon bis jetzt unbemerkt geblieben sein mochte, immerhin von unangenehmen Folgen für sie und vielleicht auch für ihn begleitet sein könnte; und er rückte seinen Sessel.

Irene wandte sich ihm zu, wie aus einem Traum erwachend. Noch war ein Nachklang von Wilhelminens letzten Worten in der Luft, die keiner gehört hatte.

»Es ist wohl Zeit, daß wir gehen,« sagte Irene und erhob sich.

»Ich bedaure sehr,« erwiderte Wilhelmine, »daß ich nicht länger das Vergnügen habe.«

Irene betrachtete sie mit einem ruhig prüfenden Blick.

»Nun, mein Kind?« fragte Wilhelmine.

»Es ist sonderbar,« sagte Irene, »wie Sie mich an ein Bild erinnern, Fräulein, das bei uns zu Hause hängt. Es stellt eine kroatische oder slowakische Bäuerin vor, die auf einer beschneiten Landstraße vor einem Heiligenbild betet.«

Wilhelmine nickte gedankenvoll, als erinnerte sie sich ganz deutlich des Wintertages, an dem sie irgendwo in Kroatien vor jenem Heiligenbild im Schnee gekniet war. Dann ließ sie es sich nicht nehmen, Irenen selbst den Mantel um die Schultern zu legen und begleitete ihre Gäste ins Vorzimmer. »Nun tanzen Sie lustig weiter,« sagte sie. »Das heißt, wenn Sie wirklich auf den Ball zurückfahren.«

Irene wurde totenblaß, aber sie lächelte.

»Man muß sich vor ihm hüten,« fügte Wilhelmine hinzu und warf einen Blick auf Ferdinand, den ersten, in dem irgend etwas wie die Erinnerung in die vergangene Nacht lag.

Ferdinand erwiderte nichts und fühlte nur, wie Irene ihn und Wilhelmine mit einem und demselben dunklen Blick umfaßte.

Das Stubenmädchen erschien, Wilhelmine reichte nochmals ihren Gästen die Hand, sprach die Hoffnung aus, das junge Mädchen bald wieder bei sich zu sehen, und lächelte Ferdinand an, als hätte sie ein verabredetes Spiel gegen ihn gewonnen.

Von dem Stubenmädchen mit der Kerze geleitet, schweigend, schritten Ferdinand und Irene die Treppe hinunter. Bald schloß sich das Haustor hinter ihnen. Der Kutscher öffnete den Schlag, Irene stieg ein, Ferdinand setzte sich an ihre Seite. Die Pferde trabten durch den stillen Schnee. Von einer Straßenlaterne fiel plötzlich ein Strahl auf Irenens Antlitz. Ferdinand sah, wie sie ihn anstarrte und die Lippen halb öffnete.

»Also Sie,« sagte sie leise. Und es war ihm, als bebte Staunen, Grauen, Haß in ihrer Stimme. Sie waren im Dunkeln. Wenn sie einen Dolch bei sich hätte, dachte Ferdinand, ob sie ihn mir ins Herz stieße ...? Wie man's auch nimmt, dazu kam ich recht unschuldig. War ich nicht vielmehr ein Prinzip, als ... Und er überlegte, ob er nicht versuchen sollte, ihr die Sache zu erklären. Nicht etwa, um sich zu rechtfertigen, sondern eher, weil dieses kluge Geschöpf es wohl verdiente, in die tieferen Zusammenhänge der ganzen Geschichte eingeweiht zu werden.

Plötzlich fühlte er sich umklammert und auf seinen Lippen die Irenens, wild, heiß und süß. Es war ein Kuß, wie er noch niemals einen gefühlt zu haben glaubte, so duftend und so geheimnisvoll; und er wollte nicht enden. Erst als der Wagen stehenblieb, löste sich Mund von Mund.

Ferdinand verließ den Wagen und war Irenen beim Aussteigen behilflich.

»Sie werden mir nicht folgen,« sagte sie hart, und war auch schon in der Halle verschwunden. Ferdinand blieb draußen stehen. Er dachte keinen Augenblick daran, ihren Befehl zu mißachten. Er fühlte ganz deutlich und mit plötzlichem Schmerz, daß es vorbei war und daß diesem Kuß nichts folgen konnte. –

Drei Tage später berichtete er sein Abenteuer Anastasius Treuenhof, dem man nichts zu verschweigen brauchte, da Diskretion ihm gegenüber geradeso kindisch gewesen wäre wie vor dem lieben Gott.

»Es ist schade,« sagte Anastasius nach kurzem Besinnen, »daß sie nicht Ihre Geliebte geworden ist. Euer Kind hätte mich interessiert. Kinder der Liebe haben wir genug, Kinder der Gleichgültigkeit allzu viel, an Kindern des Hasses herrscht ein fühlbarer Mangel. Und es ist nicht unmöglich, daß uns gerade von ihnen das Heil kommen wird.«

»Sie glauben also,« fragte Ferdinand ...

»Nun was denn bilden Sie sich ein?« entgegnete Anastasius streng.

Ferdinand senkte das Haupt und schwieg.

Im übrigen hatte er sein Schlafwagenbillett nach Triest in der Tasche, von dort ging es dann weiter nach Alexandrien, Kairo, Assuan ... Seit drei Tagen begriff er auch, daß Menschen aus hoffnungsloser Liebe sterben können ... andere natürlich ... andere.

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