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           Literatur

 

 







Elftes Kapitel

Leben der Seele

Ernst Schur
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m Leben der Seele begegnen wir Gefühls- und Empfindungs­tiefen, einer Reinheit des Ursprünglichen, einer ewigen Neu­heit und Erneuerung, einer Frische der Aufnahme und Abgabe, die sich bis zum orgiastischen Taumel erhebt. Sie versetzt den feinen Beobachter, den leisesten Erlauscher immer wieder in Erstaunen. All das lebt und ruht unterirdisch unter einer zeit­lich - augenblicklichen Hülle und Decke, die Kultur heißt und die nur angenommen ist. Die der Mensch, der ganz Mensch sein will, der Mensch, der Tier und Pflanze und Stein und At­mosphäre fühlt, in sich fühlt, nur als Kleid gebraucht und zeit­weilig als Waffe. Nackt ist er, nackt sein Leib, seine Glieder, nackt auch die Seele; denn sie ist für ihn ebenso sehr Leib. Un­terirdisch fluten unter der Decke des geregelten Beginnens und Handelns, das der Verstand regelt, die Wünsche. Eigen und vielfältig ist die Mischung, unentschieden, kindisch, roh, viel­leicht, aber in diesem Nebeneinander auch tiefsinnig, weis­heitsvoll, glühend und aufstrebend zur Sonne. — Man hat oft gefragt in unserer Zeit, ob Tiere und Pflanzen Seele haben. Und diese Fragestellung ist gerade heute besonders wichtig, da die naturwissenschaftliche Forschung diese Gebiete neu gelockert. Aber die Frage scheint eher umgekehrt gestellt werden zu müs­sen: Haben die  M e n s ch e n  n o c h  Seele?

nterirdisch rauscht das tiefere Geschehen, das den nach in­nen gekehrten Blick in seinen Bann zieht. Wir finden in diesen vorüberflutenden Wirbeln, die kommen und gehen, und das wir unser Inneres nennen, alles, was je an der Entwicklung ar­beitete. Rudimente, Entstellungen erinnern daran. Ein un­geheures Arsenal von Möglichkeiten finden wir hier. Überra­schend erscheint uns oft die Ähnlichkeit mit vergangenem Fühlen, das sich uns plötzlich erhellt. Wir fühlen einmal wie Kinder und dann wie Frauen, und die Frauen verstehen die Männer und beide ahnt oft in erstaunlichen Offenbarungen ei­ner plötzlichen Wendung das Kind. So verknüpft durch die Wiederholung der Geschehnisse der Kreis der Empfindungen die Geschlechter, die, ursprünglich eins, sich sonderten, und in Erinnerungen ihrer ursprünglichen Einheiten versenken sie sich in längstvergessene Perioden ihres Werdens. Darum auch überrascht uns oft das plötzliche Verstehen fremder Empfin­dungskreise. Wir fühlen mit Menschen früherer Zeiten, wir fühlen mit den Tieren, mit den Pflanzen, ja mit den Steinen, deren geheimnisvoll bewegende Kraft, sich zu festen Gebilden formt, wir ahnen. Es ist die Wiederholung der Geschehnisse, die uns aufdämmert. Sie enthüllt uns mehr, als unser Verstand glauben will. Wir durchleben, wir durchfühlen die Perioden, die einmal waren und stehen immer am Anfang. Und der Ver­stand überredet uns nur, an eine Entwicklung innerhalb unse­res kleinen, begrenzten Kreises zu glauben. Freilich ist sie da. Aber würden wir die Arbeitstätigkeit der Ameisen — vorausge­setzt diese schnürten sich ganz ab von dem allgemeinen Ge­schehen und glaubten, weil sie emsig und verständig und be­rechnend sich tummeln und allerlei sinnreiche Apparate erfin­den, hätten sie eine beherrschende Stellung im All — für eine geistige Entwicklung halten? Wenn wir fähig sind, unseren Standpunkt hoch genug zu wählen sind wir mehr als — wim­melnde Ameisen? —

er im Menschen wirkende Herrschtrieb läßt ihn oft die tolls­ten Beweisexkurse sich erlauben. So wird oft die Überlegenheit des Menschen über die andere Lebewelt damit begründet, daß dem Tier z. B. das geschichtliche Bewußtsein fehle. Das heißt: erst wird klüglich festgestellt, was der Mensch hat und was das Tier nicht hat. Dann wird daraus bewiesen, daß dies für den Menschen eine höhere Stufe bedinge. Das wäre geradeso, als wollte das Tier, nachdem es herausbekommen hat, daß dem Menschen der Spürsinn in dem Maße fehlt, wie es ihn selbst besitzt, daraus nun für sich eine höhere Stellung herleiten. — Das sind alles Tatsachen, die eben Tatsachen sind und deren Feststellung und Erwähnung keine Bevorzugung erheblicher Art zur Folge hat. Die Verteilung dieser Tatsachen gibt kein Recht, die Aufeinanderfolge einer Stufenleiter, einer Rangord­nung abzuleiten. — Gewiß hat jede Lebenserscheinung seine Spezialfunktion. Aber wenn etwas den Menschen erheben wür­de über ein anderes Geschlecht, so müßte es die Fähigkeit sein, die er auszubilden hätte, daß er eben nicht nur sein Spezialbe­wußtsein kultiviert, wie jedes Tier, jede Pflanze, jeder Stein dem in ihm wirkenden Drängen folgt, sondern daß er gewisser­maßen sich selbst außer sich stellt, sich selbst sieht und so sich in den Zusammenhang einfügt, wodurch er Kraft gewinnt. Dem Tier ist es eigen, seinem Instinkt zu folgen. Des Menschen Instinkt ist sein Verstand. Er muß also, um sich über die Tier­heit zu erheben, die Kraft herausspüren, die mehr ist als Ver­stand. Er muß zugleich über sich hinaus- und zurück-streben. Aus der Resultante dieser beiden Zielrichtungen ergibt sich der Weg der Freiheit.




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