lifedays-seite

moment in time
           Literatur

 

 







Erstes Kapitel

Leben der Seele

Ernst Schur
_____________

Quellenangabe


ie Seele ist ein großes, unergründetes Rätsel. Sie ist ein Land mit ungeheuren Grenzen, in dem alles Einzelneund sei es auch noch so groß und vielfältig — untergeht und verschwindet. Und da, wo diese Kraft sich ganz weitet und ausdehnt, gibt sie uns die Vorstellung, ja das deutliche Gefühl einer Überwindung von Dimensionen und Entfernungen, dem gegenüber wir uns in den Zuständen unserer Erlahmung klein und unansehnlich, blaß, verkümmert und zwergenhaft fühlen müssen.

ie Seele ist Reaktion, ist Bewegung. Und darum ist sie alles und lebt mit und in allem. Was wir aber von ihr wissen, ist nur ein Abglanz. Das, was in unser Bewußtsein als spiegelnder Schein hineinfällt, das erfahren wir. In expansiven Zuständen erweitern wir dieses Gebiet und erhalten Kenntnis von dem, was uns sonst verschlossen bleibt. Wir lüften einen Schleier.

as wir wissen, ist nur ein Teil dessen, was wir sind. Die über­schüssige Kraft drängt uns, mehr von uns zu erfahren. Die Richtungsverschiedenheit dieser Kraft teilt die Charaktere. Die nach außen drängenden w i r k e n und werden ein Teil der Na­turelemente, die Anstoß geben. (Sie müssen sich so erhöhen, daß ihre Kraft so rein und natürlich ist wie die Kraft des Bau­mes, der wächst, Knospen treibt, blüht — alles ein Drängen, ein fortwährendes Erhöhen über sich selbst hinaus.) Die nach in­nen drängenden r u h e n. Sie l a s s e n auf sich wirken. Sie müssen sich so vertiefen, daß ihre Kraft so frisch und erqui­ckend ist wie die Stille des Sees, der träumend eingebettet ist zwischen grünenden, schützenden Waldungen. Wenn der sil­berne Mond aufgeht, ruht die Fläche — alles ist ein Warten, ein Aufsaugen, ein stilles Bereit-Sein. — Das sind — in Reinheit — die weiblichen und männlichen Seelen.

a aber der Wandel der Entwicklung Vermischungen zuläßt, so trübt sich diese Reinheit, und innerhalb eines Menschen kämpfen diese beiden Gegensätze miteinander. Es finden Übergänge und Verschiebungen und Umkehrungen statt. Un­ter diesem Zwiespalt leidet der Wille. Auch gibt es Seelenverei­nigung, d. h. Vereinigung wirkender und ruhender Kräfte, so daß eine Einheit zeitweilig hergestellt wird. In diesem Hinstre­ben zueinander liegt eine Bereicherung. Eines fühlt die Ten­denz des anderen und nimmt fortab, nachdem es die Richtung dieses Strebens, seine Art, seine Dauer gespürt und erfühlt hat, dieses Außer-Ihm-Befindliche in seinen Bereich, in seine Welt auf. So leben beide mit- und ineinander. Und die Seele fühlt diese Bereicherung nicht als Zwiespalt, sondern als Wachstum.

Es gibt Charaktere, die gleichsam von Anbeginn an diese Ver­schiedenheiten in sich vereinigen und diesen Zustand nicht als Störung empfinden. Die wirkend und ruhend, ruhend und wir­kend sind. Die Anstoß geben und Aufnahme erwarten, die war­ten, um aufzunehmen und drängend Anstoß geben. Diese wechseln scheinbar immer und sind bald mehr das Eine, bald mehr das Andere. Sie brauchen eigentlich keine Ergänzung. Sie sind ein Ganzes. Die zerspaltene Natur versöhnt sich in ihnen zu einer Einheit. Dennoch werden sie sich dahin getrieben füh­len, sich zu erweitern, sich mit anderen zu vereinen. Es ist eine Probe für sie, ein nochmaliges, tieferes, wissenderes Erschau­en. Diese Charaktere haben die Tendenz zu allseitigem Erleben. Ihre universale Kraft ist über ihnen und schwebt hö­her, als sie es selbst zu fassen vermögen. Darum binden sie sich zu festerem Beginnen. Sie vertrauen blind auf die Kraft, die sie hält, daß sie über dem Abgrund schwebend hinabblicken kön­nen auf die Welt der Wirrnisse.

Ist die zweite Seele gleichgestimmt, so wird das Leben diesen zu einem Wechselspiel des Erlebens. Die Melodie der ruhelo­sen und doch immer stillen Natur rauscht und singt in ihren Seelen. Die tierische Abhängigkeit wird zum freien Bestimmen. Wo für den Einen als festbegrenzter Erscheinung Halt und Dunkel ist, da ergreift ihn die Hand des Anderen, die ihn lang­sam weiterführt. So hebt ihnen sich immer tiefer ins Dunkel hinein der Schleier der verhüllten Dinge. Die wechselnde Be­freiung erleuchtet immer mehr ihre Pfade und sie wissen mehr voneinander als sie sich sagen können. Sie wissen auch mehr von dem Ewig-Fremden, als andere verstehen.

Seele ist Wirkung, Kraft, Bewegung, Reaktion, Reflex. (Kraft r u h t auch.) Was sie in sich ist, ob sie mehr ist, als sie uns er­scheint, wissen wir nicht. Denn wir wissen nur, was sie uns ist, wie sie uns erscheint. Vielleicht sind wir für sie nur ein Durch­gangsstadium. Der Umkreis unseres Erlebens stellt sich dann dar wie die Wölbung einer ungeheuren Kuppel, unter der wir stehen, an deren bronzenen Wänden wir die silbernen Tropfen fortwährend herunterrinnen sehen. Wohin sie rinnen, wissen wir nicht. Wir sehen aber die Schönheit dieser Erscheinung. Wir spüren die Unendlichkeit dieser Bewegung. Und indem wir wachend und sehend diese Übertragung, die durch uns als Leiter hindurchgeht, als Welle spüren, ahnen wir, daß unser Bewußtsein nur einen Teil dieser dunklen Gebiete aufhellen kann. Wir brauchen darum nicht zu fürchten, daß wir damit unserer Kraft Abbruch tun. Wir bleiben, was wir sind und wir bleiben unserer Kraft treu. Aber wir machen uns ärmer als wir sind, wir entledigen uns sicherer Waffen, wenn wir allzu dicht hinter unserer augenblicklichen Existenz das Tor schließen. Wir verschütten Quellen, wenn wir diese Verbindungswege verwildern lassen. Wir verdunkeln die innere Helligkeit, halten wir nicht diese dunklen Tore offen. Der Vollmensch spürt sich und seine Kraft, wenn er sich schwankend erhält in dem leben­digen Zwischenstadium, wo die Seele nicht zaudert, sich seiner zu bedienen und wo sein Bewußtsein nichts anderes ist als ein Mittel, das ihm dient. Es erscheint nicht als höchster Punkt, sondern als zeitweiliger Durchblick, als gelegentlicher Ruhe­sitz, als Plateau auf dem Felsen, das einen bequemen und  s i ­c h e r e n  Überblick gibt.






  lifedays-seite - moment in time - literatur