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Fünftes Kapitel

Leben der Seele

Ernst Schur
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Quellenangabe




ch bin einsam. Es ist kühl. Mich fröstelt. — Ich blicke um mich und erschaure: ein fremdes Land. Ich kenne es nicht. Weit und unendlich sind seine Grenzen. Düster ist die Nacht, die es umfangen hält. Ich lausche hinaus. Mir ist, als gleite ich dahin und führe immer  weiter, und keinen Einhalt kann ich gebieten. Dahin geht es auf reißendem Strom. Die Wellen höre ich schlagen. Immer weiter, kein Halt. — Wohin? Ich weiß es nicht! — So lebt wohl!


So lebt wohl, ich fahre dahin. Meine Hände sind gefesselt und meine Lippen sind stumm. Meine Augen sehen weithin und gewöhnen sich an das Dunkel. Denn Dunkelheit umgibt mich und das Licht ist ferne. Trübe Schatten umschweben mich und die Fittiche unsichtbarer Sorgen streifen mich unaufhörlich. Doch wie ich auch bange, ich fahre dahin auf dem Strom, gefangen sitzt meine Seele und ihre Schwingen sind gefesselt.


acht — Und die Nacht ist voller Gestalten. Das Gewesene steigt herauf und huscht ängstlich und drohend. Das Zukünftige kommt und bittet und fleht. Lauter unheimliche Gesichter um mich. Und nur die Gegenwart darf nicht leben. Es ist Nacht. Eine harte, unerbittliche Notwendigkeit hat alles Sein in Dunkelheit gestürzt. Stundenlang sitze ich so und bohre mich mit den Augen ins Dunkle und warte. Und alle Hoffnung ist von mir genommen, alles Tun ist mir genommen. Und plötzlich weiß ich wieder, ich fahre dahin, ich bin nicht hier. Auf einem dunklen Strom gleite ich ins Dunkle. Betrachte die Gegenwart wie Ufer, die an mir vorübergleiten und lausche dem Raunen. Die Gegenwart ist über mir zusammengestürzt und zerborsten und was ich sehe, ist haltlos und verschwimmend. Doch eine geheimnisvolle Kraft lebt hinter den wogenden Schleiern.


Die dunklen Ufer eilen vorbei und entschwinden. Kein Licht. Kein Laut. Still, stumm, traurig alles ringsum. Die dunklen Ufer entfernen sich eilends. Die dunklen Ufer der Gegenwart, die Vergangenheit wird. Ich lasse sie hinter mir. Nie wird sie wiederkehren! Doch dunkel ist ebenso die Zukunft, dunkel wie die Ferne, in der das sehnsüchtige Auge nichts unterscheidet, nichts Tröstliches, nichts Lachendes. Dunkel wie die Ferne liegt die Zukunft vor mir.


Ungewiß werden alle Grenzen. Wie Küsten und kleine Inseln entdecke ich nur unsicher in mir feste Gebiete, an denen ein deutliches Erinnern mir begegnet. Ich nähere mich ihnen. Ich bin beglückt. Ich grüße sie. Sie kommen näher — willkommen! Da entschwinden sie schon— vorbei! Vorüber! Ich winke ihnen nach. Bald habe ich sie vergessen. Denn über mir flutet das Geschehen, das mich tollkühn packt und in den Wogen des Sturzbachs der Entwicklung umherschleudert. Ich lasse es tun und treiben. Ab und zu schreie ich auf und erwache und blicke erstaunt um mich. Dann überfällt mich wieder der Schlaf, und wie im Traum höre ich um mich die erstickten Schreie. Träumend durchlebe ich alle Zeiten und überdenke die Gegenwart, die mich von dannen trägt.


ich überflutet das Geschehen, ich höre das Gurgeln des Wassers, die Wellen raunen und schlagen an das Ufer. Ich ahne die Nähe fremder Seelen, die mir nahen, die sich zu mir drängen. Eine Wolke von Seelen, die streben und drängen. Gefesselt sind sie und haben nur ihre Sehnsucht. Aber Sehnsucht ist Kraft; Sehnsucht ist Bewegung.


ie eine Wolke fliehender Gespenster sehe ich die Scharen der Gepeinigten. Ruhelos wälzen sie sich im Schlaf, immer wieder weckt sie der Wille, der in ihnen tobt, zu nutzlosem Be­ginnen. Sie folgen, aber die Ohnmacht, der Widerstand stöhnt schwer in ihnen. Ruhelos wälzt ihr euch im Schlaf, ich kenne euch wohl, ihr seid verborgen. Ihr haltet euch verborgen und schleicht still dahin. Ruhelos wie ich selbst, ruhelos wie die Gestirne, ruhelos wie der sinnlose Sinn des Weltalls.

och die Sterne leuchten. Wie Sterne schimmern die Hoff­nungen. Irgendwo im dunklen Raum leuchten die fernen Punkte. Ruhig und kalt ist ihre Pracht. Stumm ist ihr glitzern­des Prangen. Sie sind tot. Und auch die Seele ist bald tot. Auf­gehend, absteigend will sie sich erlösen, um frei zu sein von den Fesseln. Aber überall stößt sie sich an Wände, die sich ihr entgegenstellen.


nd sie läßt die Hände sinken und sitzt und lauscht. Versinkt in sich und lauscht den flutenden Wassern. Nacht deckt das Land. Die Sehnsucht wird frei. In einem tiefen Aufatmen liegt ein Vergessen. Gefangen sind die Seelen, gefangen und gefes­selt . . . Und die Sterne leuchten!






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