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Fünfzehntes Kapitel

Leben der Seele

Ernst Schur
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insam und in ewiger Armut geht unser Leben dahin. Wir schleppen uns dahin in harten Ketten. Immer wieder fließen die Wasser den Fluß hinab, unaufhörlich. Wir aber sehen zu und sehen die Bewegung. Zweige und Baumstämme gleiten vorbei. Ach, die Zweige sind alle entlaubt, die Stämme sind alt und vermodert. Keine Wohnstätte weit und breit. Jahrelang, ein Leben lang geht es so dahin, am Fluß entlang, am traurig eintönig murmelnden Fluß, in der breiten, stummen Ebene. Der Strom zieht schweigend dahin und sieht uns nicht. Geh du mit mir, du fremde Seele!

n diesem grauen Gestade begegnete ich dir, wo die Entbeh­rung lauert. Wo härteste Arbeit erniedrigt, täglich, stündlich. Ich suchte die Notwendigkeit. Ich blieb allein. Ich sprach kaum mit den Gefährten. Nur ab und zu hörte ich einen Ruf. Irgend einen Warnruf, gewohnheitsmäßig ausgestoßen. Ich beachtete ihn nicht und ging blindlings weiter. Ich suchte  dich, ich hoffte auf dich. Mich trieb die Kraft.

o flattert die Sehnsucht umher. Jede Einzelseele sucht und rastet nicht. Verborgen sind alle Triebfedern, und was wir be­ginnen, ist nur ein Hindeuten. — Ich will nichts von dir. Die Einsamkeit ist groß und schaurig und weitet die Seele. Fremd alles, was ich sehe. Abgewandt allem Menschlichen, gehe ich an trüben Gestaden entlang. Geh du mit mir, du fremde Seele!

ings brütet das eisige, große Schweigen. Es lastet auf den Gemütern. Kannst du es ertragen? Noch fand ich niemanden, der es ertrüge. Komm mit, es ist die Wahrheit. Ich will dir zei­gen, was wenige sahen: die endlosen Scharen derer, die trübe dahinziehen am fließenden Strom der Entwicklung. Sie ken­nen kein Ziel. Wer kennt es? Es gibt nur die Kraft, die von in­nen wirkt. Die Bewegung. Die Seele. — Wenn die Müden ange­langt sind an einer Station, so jubeln sie auf und rasten. Aber sie wissen, bald drängt es sie weiter. Es ist nur eine kurze Pau­se. Vielleicht geht es denselben Weg wieder zurück. Und dann beginnt das Wandern wieder von neuem. So wickelt das Leben sich ab. Lichtblicke sucht jeder. Und jeder strebt dahin, wo die Freude winkt.

s gibt ein Rad, ein ungeheures, unerbittliches Rad, das dreht sich un­aufhörlich, das Rad: Schicksal. Über einem Abgrund drehen sich die Speichen und sausend schwirrt der Schwung. Die Opfer fallen hinein, werden hineingedrängt und sinken zerstückelt unten in den Abgrund. Es hilft kein Versuch, es gibt keine Befreiung. Jeder weiß, es nützt kein Unterfangen. Ja, wer hinauszukommen versucht, der fällt um so schneller zum Opfer, ihn zermalmen noch früher die sausenden Spei­chen. So erfüllt jeder seine Linie, bis sein Leben endet. Nur einen Teil gibt er dazu her. Er selbst ist nur ein Teil. Nach ihm setzen andere die Linie fort. Und die Seele steht stumm und groß dabei und sieht zu, ohne sich zu rühren. Denn die Seele ist Kraft, also ein Teil jener Wut, die vernichtet. Das ist Geheimnis, sie reißt nieder und baut auf. Sie ist Opfer und Herr zugleich.

ie Seele dürstet und sucht sich zu vollenden und scheut kei­ne Verschwendung und keine Opfer. Diese große, grausame Monotonie des Weltgeschehens erfüllt uns, die Einzelseelen, mit Staunen und Grauen. Wir sind von Nacht umgeben, aber wir fühlen unsichtbare Hände. Wir sind in der Stille, aber wir hören Stimmen. Ja, selbst oft in ganz unscheinbaren Sätzen, die nicht viel mehr als Tatsächlichkeiten enthalten, spüren wir den Glanz dieser großen, ganzen Seele suggestiv aus den Wor­ten. Das Schlichte wird groß. Das Einfache wird kraftvoll. Das Ende scheint ein Anfang. Und nur uns erscheint der Sinn, der hinter dem Ganzen steht, trostlos, verzweiflungsvoll, einsam und kalt.

n dieser Weite der seelischen Räumlichkeit, in dieser Expan­sionskraft, der Fähigkeit, diese Weite zu füllen, spüren wir einen neuen Beginn. Wenn das Einzelschicksal ertrinkt, so ist es seine Pflicht, Opfer zu sein. Die Aufschreie, die wir verneh­men, die Trauer, die wir mitansehen, bleiben uns nicht fremd, aber sie erfüllen uns nicht ganz. Wir finden die Zeichen dieser Hand überall wieder, auf dem Antlitz, in den Zügen der Men­schen, in den Büchern, in den Ereignissen.

n diesem Zusammenhang begreift sich das Menschen- schicksal. Die drohende Faust, die äußerlich gewalthaberisch die Menschen knechtet, die uns so spukhaft gräßlich erscheint, daß wir oft glauben, uns äffte nur der nüchtern-kalte Traum eines Pessimisten, ist nur äußere Macht. In uns selbst, die wir Teilerscheinungen sind, überträgt sich dieses Gesicht ins Le­benswahre, Innerlich-Wirkende. Das Leiden ist nur eine Be­gleiterscheinung des Geschehens und scheint symbolischen Wert zu bekommen. — Wir glauben oft, die Verzweiflung sei greifbar ins Sichtbare, Lebendige projiziert, wenn ein Unglück sich ereignet, ein Leiden beginnt. Und dennoch bleibt all dies tief unten. Oder besser, es befindet sich an irgend einem behiebigen Teil einer großen Linie, deren Kurven wir nicht über­blicken.

ann besinnen wir uns darauf, daß dies Geschehen, das uns täglich in die tiefsten Regionen hinabführt, uns daran erinnert, immer wahr und wirklich zu sein. Das heißt, wir sollen nicht unsere Bequemlichkeit, unsere Gewohnheit, unsere Sentimen­talität, unsere Hoffnung, unseren Haß, unsere Liebe, allzusehr zum Maßstab werden lassen. Der unend­liche Luftraum umgibt uns. Er nimmt alles auf, die Flüche, die Schreie, die Bitten, und nach einer kurzen Strecke beginnt die Kälte und das Schweigen. Aber auch dieses noch ist Vorstellung, die noch nicht das Ende gibt. Denn innerhalb dieser Kälten fließen Wärmewellen. Durch das Schweigen tönen Luftakkorde. Das Leiden ganzer Menschengruppen füllt nur wenig den Luftraum. Und die eingehende Darstellung dieses Leidens hat nur vorübergehenden Einfluß. Wir vergessen es.

enn wir fühlen, wir alle sind zusammengepfercht in diesen Höllenauf­enthalt und mögen wir auch noch so weit entfernt sein, wir bleiben immer noch auf der Erde. Weit, weit entfernt — tönt ein Ruf. Aber immer noch auf diesem Stern — antwor­tet das Echo. Ja, denken wir uns eine noch viel raffiniertere Hölle aus, mit Qualen, Verzweiflungen und noch viel reuevol­leren Fragen, gegen die alles, was wir kennen, klein und un­be­deutend ist, wir würden dennoch einen Punkt ahnen, wo wir uns über diese Schrecklichkeit stellen. Denn all dieses Leiden ist nur Eindruck, Impression, und der Schrei, der den Schmerz ankündigt, Reaktion. Dies aber hat mit der innersten, mit der im Menschen als der Teilerscheinung eines universalen Orga­nismus wirkenden Kraft, den das Blut der Seele wie ein ein­heitlicher Strom durchfließt, nichts zu tun. Diese wirkt von in­nen heraus. Ein Samenkorn, das aufbricht, den Erdboden lo­ckert, emporstrebt, mag in seiner umgewandelten Folgeer­scheinung, im Einzelnen gebrochen oder auch im Ganzen ver­nichtet werden. Mit diesem Einzelerleben geht das Seelische nicht unter. Darum hängt auch die Seele in ihren feierlichsten, erhabensten Stunden nicht an der Einzel­existenz. Ihr Leben ist ein Fluten, hin und her. Nicht einmal vorwärts und rückwärts könnte man die Richtung nennen, denn das wäre nur für uns giltiges Bezeichnen. Der Raum aber, in dem sie sich ganz aus­wirkt, ist so unendlich, wie der ungeheure Luftraum, der uns umgibt.In ihm lebt und atmet sie und strömt durch die Dinge, sie mit geheimnisvoller Kraft anfüllend, die sie von ihnen zu­rückerhält, anziehend, abstoßend, sich mischend, sich tren­nend, ewig ein Wechsel in Ruhe und Kampf, sich wiegend und träumend. Und nur uns erscheint diese Notwendigkeit, diese Bedingtheit kalt, ehern, rücksichtslos und brutal. Wir gaben ihr diese Namen und nennen das Gegenteil milde, weich, liebend. Aber auch das wissen wir ja, daß dies nur Worte sind. Und feierlicher erscheint uns die Stunde, wo wir dies einsehen und bejahen, wo wir die Notwendigkeit begrüßen, wo die klei­ne Seele in uns sich befreit und den Weg zu der großen Ganz­heit sucht, die keine Gesetze respektiert, weil sie wirkt, schafft, ist, weil sie Erfüllung der Gesetzmäßigkeit ist, oberster Maß­stab und Sinn aller Dinge zugleich und selbst da noch Kraft be­sitzt, wo sie unterliegt, indem sie sich über sich selbst setzt und sich dem Ganzen nähert, eins wird mit dem, das sie zuerst fürchten und hassen zu müssen meint.





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