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           Literatur

 

 







Neuntes Kapitel

Leben der Seele

Ernst Schur
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ief unten aber rauschen die dunklen Wasser Und auch in uns rauscht es in immerwährender Bewegung. Immerfort fin­det ein Ausgleich, ein Friedenschließen, ein neues Sehen, ein Aufraffen, ein Widerstand, ein Kämpfen statt. Die Seele ist Ruhe, sie ist aber auch Kampf. Sie ist Bewegung. Und Ruhe ist nur ein Teil der Bewegung. Und selbst wenn sie ruhig ist, schlingen sich tausend Arme in ihr durcheinander, und wo wir tote Stille wähnen, herrscht um so geheimnisvol­leres, verborgenes Leben. Bewegungen, die wir kaum spüren, die uns blind zu sein scheinen, wie die Bewegungen der rätselhaften Tiere der Tiefsee. Und wo wir ein Träumen se­hen, ein Hindämmern, da waltet nur ein Gesetz, das sich selbst behorcht.

n jeder Seele mischt sich so viel. Altes und Neues, Bekanntes und Verborgenes, Junges und Verdorbenes. Unmöglich ist daher die prüfende Untersuchung dieser Einzelheiten, un­möglich die genaue Anschauung dieses Riesenkomplexes, dessen Saugarme sich über das ganze Universum erstrecken. Die Menschen sind in ihrer Gesamtheit an diesem Komplex so viel wie eine einzelne Hautfaser an einem Riesentier. Seele ist K r a f t. Und K r a f t dehnt sich aus oder zieht sich zu­sammen. Sie ist an keine Erscheinung gebunden. Sie ist da und sie ist nicht da. Das, was der Einzelne fühlt, ist nur Erin­nerung.

er Einzelne geht mit dieser unendlichen Kraft eine Verbin­dung ein.  Sie ist in ihm.  Oft entsetzt uns  die grotes-
ke Physio­gnomie dieser gewaltsamen Verbindung. Das Fremde regt sich embryonenhaft in einer wollüstig-üppigen Schale oder verkümmert  im  Trockenen  einer unsäglich  armen
Lebens- erscheinung. Nur selten passen beide zueinander. Nur selten ist die Harmonie eine Folge dieses Suchens zueinander. Brutali­tät mischt sich mit Leichtsinn, Weichheit mit Rohheit, glü­hende Ekstase mit dumpfem Geschehenlassen.

s ist eine einzige, regelmäßige Entwicklung von Anbeginn an. Insofern ist alles in den Dingen. Und das Reden von einer Kraft außer mir, ist Phantasie. — Ich spüre aber in mir als Wesenseigenschaft dieser Kraft ein Drängen nach außen, ein Leben-Wollen, ein Sich-erhöhen-Wollen. In diesem expansi­ven Drang, der auch dann nach außen ringt, wenn die träu­mende Ruhe über mich sinkt, erkennen wir die Seele.

s ist auch gleich, ob ich nur danach strebe, mein dunkles Bewußtsein zu erhellen, zu ergründen, die Schwelle der Trüb­heit tiefer zu verlegen oder ob ich ins All hinausstrebe. Beides sind die Zielrichtungen. Und beiden ist eigentümlich, daß ihre Bedeutung nie endet. Ich strebe in die Tiefe oder in die Höhe — es ist gleich. — Daß ich es tue, ist Zeichen, daß ein Fremdes, Freundliches mich von irgendwoher lockt. Liege dieses nun fern von mir, außer mir oder tief, tief in mir, so ist doch klar, daß die Resultate die gleichen sind. — Ich hätte diese Zielrichtungen nicht, wäre ich ein Ende. Ich hätte sie nicht, wäre ich nicht ein Durchgang. Und so ist es ganz gleich, ob ich den Begriff der Seele so oder so nehme. Halte ich sie fest in mir, so hellt sich ihr Umfang auf und erweitert sich, so daß ich glaube, es wächst eine Kraft in mir, die von einem an­deren Pol gelockt wird. Nehme ich diese Kraft als Welle, die das All erfüllt und durch mich nur hindurchfließt, so bin ich ebenso nur ein Teil des Ganzen. Einmal bin ich Wurzel, ein andermal Blatt, beide Male kein Ende. So ist der Mensch, wie man es auch betrachten möge, eine merkwürdige Erschei­nung. Und selbst der strengste Urteiler, sofern er nur zu den­ken beginnt und seinen Gedanken treu und nachgiebig folgt, nicht aber einem vorgefaßten System zufolge sie beugt und zwängt und zwingt, um scheinbar schillernde oder dräuende Gedanken- ketten und Schlüsse zu erhalten, die sein Bewußtsein aus Gewohnheit als richtig erkennt, und die ihn in seiner augenblicklichen Existenz be- friedigen, ihn aber nicht erweitern, wird sich plötzlich in einem Urwalde befin­den, wo er nicht weiß, wo Anfang, wo Ende, wo Menschen aufhören zu wohnen und wo die Einöde und die Verlassenheit gähnt. Kein Licht blinkt. Kein Durchblick. Er kommt an Stät­ten, wo der Mensch noch nie gewesen. — Ja, wenn ich den Menschen nur als Tier nehme, so beginnt dieses Tier zu be­greifen und strebt danach, sein Wesen zu erfassen. Betrachte diese Worte Begreifen" und „Erfassen"! In ihnen beiden ist Bewegung! Begrei- fen. Erfassen. — Und so wächst eben etwas aus dir, mit dir, in dir, was Andere anders, aber nicht gegen­sätzlich fassen.

er Mensch ist zwischen hineingestellt in einen Strom, der von Pol zu Pol strömt und vielleicht sich zu sich selbst wie­derfindet. Was er von diesem Strom fühlt, weiß, ist gleich. Er sagt nichts über den Strom aus. Der Mensch kann, da seine Erkenntnis nur ein E r l e i d e n ist, nur von sich aussagen. Hier leiten ihn die Sinne. Und auch Urteil und Kritik ist nur eine Funktion der Sinne, besonders spezialisiert. Alles andere ist Ahnung. Ahnung nach unten, einer hier aufsteigenden, strebenden Tendenz begegnend. Ahnung nach oben, einer sich auf mich herniederlassenden Erkenntnis zustrebend. Oder mich als Mittelpunkt nehmend, durch den der Strom hindurchgeht. Die exakte Untersuchung wird nur, mühsam klügelnd, mit Aufwand eines ungeheuren Apparates bestätigen, was fest schon im Bewußtsein lebt. Und meist noch irrt sie sich, da sie unbedingt an sich glaubt und sich allzu leicht verrennt. Die meisten Philosophien sind Be­weise für solches Sich-Verrennen. Die Gedanken, die als Ein­fälle gut sind, werden zu einem System verzerrt, auseinander gerissen. — Dies ist ein Beweis nur dafür, daß eben der Mensch Sinnesorgane und nur ein Teil in ihm Bewußtsein ist. Nun will dieses Kleine in ihm das Große meistern.

it den Sinnen spüre ich das Geschehene und spüre weiter, als meine Überlegung es faßt. Gleichwie ein Vogel so viel weiter sieht als der Mensch, gleichwie ein Hund so viel weiter wittert als der Mensch. — Der Mensch nimmt auf und entwi­ckelt sich. Aus diesen beiden Faktoren ergibt sich sein Wesen. — Ebenso ist des Tieres Wesen, der Pflanze Wesen und das Wesen des Unorganischen, das zu Staub sich verflüchtigt, zu Stein sich verdichtet. Der Mensch aber bildet sich ein, et­was Anderes zu sein, etwas, das über dem Anderen steht. Da­mit aber merkwürdigerweise erniedrigt er sich. Denn er streicht sich aus der Linie heraus. Er stellt sich abseits. Und während er wachsen könnte, krittelt er, untersucht er, spinti­siert er. Während er sein, Leben, aufnehmen und ausströmen könnte, wird er grau vor Leblosigkeit und läuft herum wie eine Puppe, die automatisch gelenkt wird. — Sein Ideal sind die Begriffe. Und die Leute, die die von Anderen einmal zu­sammengebauten Begriffe — ihre Zahl ist Legion — richtig anzuwenden verstehen und immer wie ein pfiffiger Zauber­künstler den Sinn dieses durcheinander gewürfelten Spiels schnell erraten, dünken sich eine besondere Klasse zu sein. Und glücklich der, der noch einen neuen Begriff dazu erfin­det.

ies sind aber unter den Überflüssigen die Überflüssigsten. Denn ihre Begriffe sind von ihnen gemacht und wer sie nicht anerkennt, ist durch ihre Fesseln nicht gebunden. Damit hat er schon die Lösung und befindet sich im Freien. Denn Be­griffe sind etwas hinterher Zurechtgemachtes. Was kümmert es den reifen Menschen, der mit allen Sinnen in der Welt steht, ob einmal die und die, das und das, so und so präzisier­ten! Er fühlt, er sieht, er erlebt und wenn er sagen kann, so sagt er es, wie erfühlt, wie er sieht, wie er erlebt.

ebe wie ein Teil der Naturerscheinungen, dies ist heute schon eine Erlösung. D. h. gib dich hin, nimm auf, ströme aus. Laß vom Zufall dich treiben und trinke den Augenblick. Mit Begriffen ist noch nicht die Welt b e r e i c h e r t worden. Aber jedes genaue und feine, neue und rücksichtslose Erleben bereichert die Welt um einen unschätzbaren Gewinn. In die­sen Grenzen offenbart der Mensch seinen Reichtum. Dies sind zugleich seine Grenzen.

lle Überlegung, die nur aus dem Verstand kommt, ergreift nur einen Teil des Menschen, ist also Spezialmenschentum. — Alle Überlegung, alles Urteilen, das nur aus dem Verstan­de kommt, nährt sich von schlechten Mitteln, lebt wie in frü­heren Zeiten, so müßte es heißen, als des Teufels Werk. Es schleicht wie ein Wurm heran und umgarnt erstickend die Seele: Dagegen sind die Regungen, mit denen ich mich frei ins Ganze stelle, natürlich, erhaben, groß wie der Blitz, der herniederfährt. Verstand ist nur ein Notbehelf. Die Mehr­zahl der Menschen braucht ihn, um sich aufrechtzuerhalten, er ist der Balken, den sie auf treibendem Meere erfassen. Sie brauchen ihn weiterhin, um zu herrschen über die, die dies kleine Mittelchen noch nicht entdeckten. Sie brauchen ihn ferner, um nun nachzuweisen, daß er aller Weisheit Ende ist. Klein wie sein Geltungsgebiet, sind auch die Kreise, die er zieht. Es ist das egoistischste Beginnen, das er weckt. Der Verstand ist nur ein Notbehelf. Will er mehr sein, so über­schreitet er seine Schranken. Er ist nur ein schneller Hand­griff, oft nur ein Kniff.

eder hat in seinem Leben solche Erlebnisse, Ereignisse, die markant waren, weil sie ihm plötzlich die Hinfälligkeit des rechnenden Verstandes zeigten, so grell und blitzartig er­leuchtet, daß er erschrak. Die meisten Menschen vergessen diese Erleuchtung, die ihnen Dunkelheiten erhellte, die sie über ihre enge Bedeutung hinaushob, bald wieder. Sie sinken zurück, sie verlieren sich in ihre Kreise. Und wieder beginnt die Herrschaft des rechnenden Verstandes.

er also hier mittut, wer an seinem Teile dem Verstand zu einer Herrschaft verhilft, die ihm nicht gebührt, der erstickt in sich und anderen die tieferen Kräfte. Er hebt die Mensch­heit nicht ans Licht. Er treibt sie immer tiefer ins Dunkel hin­ein. Seine Lehre führt die Menschen abseits vom Wege. Er überliefert sie dem Allzubestimmten und entzieht sie der Ah­nung. Er betont, was von Natur schon allzusehr sich betont und bringt es dadurch zum Überwuchern. Er stört somit die Harmonie, die Ganzheit. Wohl braucht die Menschheit dieses Mittel für sich, um Herrschaft zu üben, Güter zu produzieren und sich wohl einzurichten. Ihre Bestimmung ist aber damit nicht erschöpft. Wie der Verstand nur ein Teil der menschli­chen Funktionen, so ist der Mensch, die Menschheit nur ein Teil der Funktionen des Universums. Und mit dem, was nicht Verstand ist, reicht die Menschheit in das Universum, das ihn umfängt, wie mit tiefsaugenden Wurzeln hinein. Diese Wurzeln also verkümmern lassen heißt, sich ins Leere, ins Luftlose stellen. Um sich da zu halten, wird der Verstand künstlich ausgebaut und die monotone Enge, die er schafft, als notwendig und nützlich bewiesen.

n dem Reich des Verstandes muß und soll alles stimmen. — Der Mensch aber begreift sein Wesen am besten, begreift am tiefsten, wenn — nicht alles stimmt.

ie Seele lebt dem Augenblick und trinkt aus ihm die edelste und reinste Würze. Sie saugt aus dem schnellen Wechsel Ewigkeit. Der Verstand will das Gleichbleiben, die berechnet langweilige Harmonie, das Polizeisystem. Die Wellenbewe­gung der Seele, die hinflutet über die Nerven, läßt den Men­schen die Arme ausbreiten, und Aufnehmen, Ausströmen ist seine Sehnsucht. Der Verstand setzt sich klüglich vor sein Buch und rechnet. Was er zustandebringt, ist wohl wert, ge­nannt zu werden. Denn es rettet die Menschen zu sich selbst. Dieser Selbstbewahrungsinstinkt hat aber oft etwas Kleinli­ches. Ängstliches Behüten ist seine Folge, Scheu vor unnützer Erregung sein Grund. Und in seine Kreise darf nur das, was wohlgelitten, geprüft und begrenzt ist. Er schafft den Staat. Die Seele aber kennt keinen Staat, sie kennt nur das Univer­sum.





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