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Sechstes Kapitel

Leben der Seele

Ernst Schur
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Quellenangabe


ch bin einsam. Die Einsamkeit ist dunkel und tief. Und Nacht umfängt die Seele. Die Sehnsucht singt, ich höre ihre Stimme, ich höre ihre Lieder, unter Fesseln singt sie, die unzerstörbare, die Kraft. In Tönen strömt sie ihre Bewegung aus und setzt sie um in Klang.

nd wenn sie einen Augenblick stille ist, wartet sie und lauscht. Und von fernher schweben fremde Klänge, tief und lo­ckend. Die Seelen rufen sie. Hundert und aberhundert Seelen singen irgendwo in der Ferne und ihr Klang dringt hierher. Und während ich stille bin, umgibt mich die Luft und ich höre ihr Raunen und ihre Musik und in ihr umklingt mich das Sin­gen, und die tönenden Melodien kommen von fernher.

inter dunklen Schleiern und Wolken breitet sich die Unend­lichkeit. Da sehe ich die Massen zusammengeballt, dunkel, re­gellos. Mit tausend Augen sehen sie nach mir her, sehnen sich nach mir. Es ist eine unheimlich-mächtige Bewegung in ihnen, ein grandioses Drängen, eine Musik, ein Werden, ein Streben zum Licht. Gefesselt sind sie und der Klang der Waffen mischt sich hinein. Dumpf bleibt die Sehnsucht.

nd so ziehen Jahrhunderte vorbei vor den Blicken. Immer wieder hört die aufhorchende Seele diese Melodie, aus Knecht­schaft und Sehnsucht, aus Fesseln und Qualen. Allmählich ge­wöhnt sie sich an diesen dumpfen Klang der Welt, der mittönt als Unterton in der Entwicklung. Er wiederholt sich und kommt immer wieder. Es ist die Kraft darin, die grollend und hoffnungsvoll Neues schafft. Die es mitansehen lernt, daß im­mer neue Scharen sich herandrängen und verschlungen wer­den von einer gleichgiltigen Macht, die sie knechtet, unter­drückt, in Fesseln schlägt. Oft erscheint ihr das Spiel sinnlos, und Verzweiflung schleudert hohnvolle Worte gegen das Tor der Verdammnis. Oft auch lacht sie gellend und freut sich der Sinnlosigkeit und spielt höhnend mit in dem Spiel, überschaut die Züge. Aber dennoch schläft immer in ihr ein Bewußtsein des Willens, ein Bewußtsein ihrer Kraft. Die entfremdete Seele wird kalt und leer und läßt sich unterjochen. Ein anderes, ein seelenloses Spiel von Kräften tritt an die Stelle der Kraft, die Vielheit an Stelle des Einen. Das Eine seufzt und stöhnt dann und sitzt überwältigt, unterdrückt im Winkel.

ber plötzlich schießt ein Strom neuen Lebens in die erstarr­ten, trocknen Kanäle. Es löst sich die Formelvorstellung, als könnte die Welt ohne diese Kraft sich erlösen, als wäre die Vielheit mehr als das Eine. Dieses Eine ist da und ruht und hat Kräfte gesammelt. Und während die tote Masse der Entseelten scheinbare Errungenschaften einer mechanischen Kraft an­staunt, wächst in einem Einzelnen eine solche Fülle lebendiger Kraft, daß von hier aus ein neuer Lauf beginnt. So setzt hier trotz aller Gegeneinwände eine uralte Kette mit neuen Ringen ein. Das Unbelebte wird belebt. Es ergießt sich dieser Strom innerlichen Erlebens in die Allgemeinheit, deren Kreise es er­füllt. Und so betritt die totgeglaubte Kraft den Thron. Sie schafft aus sich, was die Kräfte nur in Nachahmung, in Über­treibung und ohne Halt geben. Dies ist ein Kampf, der sich im­mer begibt. So natürlich, wie grüne Knospen am Strauch nach Eis und Schnee und Erstarrung natürlich sind.

mpfindungslosigkeit ist das Anzeichen dieser Öde, dieser Erstarrung. Mitleid ist erloschen. Wo Tausend hinsinken, ver­lernt der Einzelne die Klage, lernt, die Spanne ausnutzen, die ihm gegeben ist und freut sich des Augenblicks. Kalt betrach­tet er, was ihn umgibt. Er will sich behaupten. Und so dauert es nicht lange, dann strebt er hin zu dem, was er Genuß nennt. Eine Entfesselung von Regungen, die ihm nur immer neue Rätsel aufgeben. Aber auch hier lernt er sich bescheiden. Er lernt sich damit begnügen, diesen Regungen das zu geben, was sie verlangen. Er genügt dem Augenblick. — Überall sieht er nur das Muß, die Notwendigkeit und fruchtlos neues Begin­nen. Darum verlernt er das Fragen, verlernt Klage, Zorn, Hoff­nung und gesellt sich schließlich voller Haß und Verzweiflung und zähneknirschend den Tieren unter den Menschen zu, (denn das Tier an sich ist schön und vollendet, zweckentspre­chend und wirkt seine Kraft voll aus) deren Gesellschaft er doch nur widerwillig erträgt und in klaren Momenten, wo sei­ne Kraft ihr Haupt wieder erhebt, wo sein Wille zu erwachen beginnt, abweist.

och unter der leichten Decke sammelt sich die Kraft. Starr ist die Oberfläche, flutend ist das Innere. Der Sturm fährt im Frühling durch die Wipfel und sausend beugen sie sich. So tönt in dem Werden der Seele ein Chor von Stimmen, ihr Ge­sang schwillt an und über die Ufer schäumt die Strömung. Trauer lebt darin und Verzweiflung. Denn der Zwang der Ge­genwart knechtet immer das Leben. Aber auch weit und schäumend, aufbrausend ist das Lied. Denn d i e s e r Zwang ist nur des Augenblicks Diener. Was die Menschen fest und giltig wähnen, schwankt. Und so schöpft die Seele, die ewig sich erneuernde und sich auswirkende Kraft immer wieder die Kühnheit, zu fliegen, zu stürmen, zu tosen. Und immer wieder schwillt unter der starren Decke der Chor der unerlösten Kraft, die Seele werden will.

uch die Seele hat ihre Jahreszeiten, hat Winter, Frühling, Sommer und Herbst. Sie erstarrt und schlummert in langem Schlaf. Sie schlägt die Augen auf und fühlt mit den ersten Win­den ein Drängen in sich, ein Quellen. Sie erstarkt zu voller Rei­fe. Da naht schon das Ende, sie sinkt in sich zusammen. Dann trauert sie und hebt ihre Sehnsuchtgesänge an, die schaurig durch die Stille klingen. Das Lied fliegt hin und verweht in der Unendlichkeit. Der Himmel hört es und die endlosen Horizon­te hören es und irgendwo eine gleiche Seele hört es. Doch das ist nicht festzustellen.— Aber dennoch lebt Lust in dem Lied. Denn die Seele weiß: sie ist nur ein Teil. Sie weiß, tausend und abertausend stecken schon ihre Fühlfäden aus und schwellen an wie junge, grüne Knospen. Und diese jungen Seelen, die sich erneuten, stecken voll wilder Gier und Glut, und auch in ihnen lebt sehnsüchtiger Schmerz, der Vollender des Lebens, der Taten Schmied. So liegt unter Fesseln und Ohnmacht und Tod das Werden. Und darum singt die Seele, jauchzt und trau­ert und lacht, auch wenn sie gefesselt ist.


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