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Sechzehntes  Kapitel

Leben der Seele

Ernst Schur
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em tieferen, vorurteilslosen Blick erscheint unsere Zeit — ein Ausschnitt aus der Unendlichkeit — als eine Zeit der vielfältigs­ten Möglichkeiten. — Wenn wir in schwachen Stunden an ihr zu verzweifeln beginnen und sehnsüchtig nach einer Vollen­dung ausschauen, das Hin und Her der Unruhen, unter dessen Mantel sich die Entwicklung von den meisten unerkannt ver­birgt, uns zu chaotisch dünkt, so vergessen wir nur zu leicht, daß es unsere Unfähigkeit ist, die uns schwach, untauglich macht. Wir vermögen nicht das Große hinter all dem Einzelnen zu sehen. Wir gleichen den Gefangenen, die nicht über die Mauern ihres Kerkers hinwegsehen können. — Wir treten nicht weit genug zurück, um den Überblick zu haben, den die Aus­sicht zu den Fernen gibt.

ir legen unser kleines Ich dem Streben der Gesamtheit un­ter. Wir wollen nicht warten, wir wollen nicht hoffen. Wir wol­len dem Anderen, dem Vertrauen nichts lassen. Die Vorwürfe, die wir gegen die Gesellschaft zu richten wähnen, sind nur Schreie, die unsere eigene Ohnmacht dokumentieren, die unfä­hig ist, dem gewaltigen Strom, der immer über uns hinweg­brausen  will,  standzuhalten.  — Wir  glauben  eine  Z e r-
s p l i t t e r u n g wahrzunehmen, wo eine M a c h t gegen uns anstürmt, die uns zu zersplittern droht. Und wir meinen, die Ohnmacht läge außer uns, wo sie in uns ist. Sie liegt tief in uns begründet und erklärt sie durch den falschen Standpunkt, den wir uns im Ganzen anweisen. Welchen Standpunkt wir fernerhin gewin­nen, das kennzeichnet unsere Entwicklung.

eist bringt das Alter diesem Körperlichen, diesem Kampf der Organe in mir, die die Außenwelt zu erfassen, zu bewälti­gen, zu zwingen suchen, vielleicht dem Zielstreben in ihr sich anzufügen suchen, um so dem Weltganzen innigst gesellt Geheimnisse abzulauschen, wie zwei Lebende sich Geheimnisse ablauschen und Zwiesprache austauschen, selbst wenn sie noch schweigen, den Stillstand. Wer alt wird, wer zur Ruhe strebt, beginnt bald, die Außenwelt, die Gegenwart, seine Zeit — den kleinen Abschnitt der Unendlichkeit, innerhalb dessen sich die Seele des Einzelnen zurechtzufinden hat —der Ruhelosigkeit, des haltlosen, zielunsicheren Hin und Her, der grotesken Bil­derflucht von unzuverlässigen Eindrücken, der keine vernünfti­ge Idee mehr zugrunde läge, zu zeihen, und indem er sich selbst so nachdrücklich aus der Liste derer, die den Willen haben, zu verstehen und Einblicke zu gewinnen suchen, streicht, schwemmt ihn eine Sturzwelle dieser großen Flut bald hinweg. Vorwürfe und Grollen übertönt das Rollen der Flut, sie alle werden überhört. Denn das ist das Kennzeichen: Über den Ein­zelnen hinweg fließt und schäumt aufspritzend der Strom der Zeit. — Früher gab es nur menschlich körperliche Mächte, Ein­zelne gegeneinander sich aufrichtend, denen vielleicht die Mas­sen dienten, sich fügten. Wir aber beginnen zu ahnen, daß es noch eine andere Macht gibt, die Macht, die über dem Einzel­nen steht, sie selbst zwingt. Es ist dies keine fatalistische Ah­nung. Vielmehr liegt in dieser Erkenntnis das sehr deutliche Bewußtsein von dem sozialen Zusammenhang, dem In-Einan­der-Leben aller wirkenden Faktoren, deren Ausdruck diese neue, ausgleichende Kraft ist.

s ist eine der erhebendsten Empfindungen, mit der die Seele der Gegenwart dem Wirken der Zeit — diesem ge- ringen Aus­schnitt der Unendlichkeit — gegenüberzutreten allmählich fä­hig wird: das Gefühl dieses instinktiven Drängens nach einem Ziel, das ungekannt ist. Mit dieser Möglichkeit wächst die See­le, sie spürt ein expansives Drängen. — Schön und erhaben ist die Beobachtung , die uns die Entwicklung lehrt, der wir uns beu­gen: daß der Einzelne vor diesem Thron nicht viel mehr gilt als nichts. — Macht der Einzelne sich dienstbar dieser Macht, so wird er aufgenommen in die unsichtbare Gemeinschaft derer, die dem gleichen Ziel nachstreben. Weigert er die Heerfolge, so übersieht man ihn bald. Er ist bald vergessen. — Und ehe eines Tages Frist noch vergangen ist, befindet sich der Weg der Ent­wicklung weitab von ihm. Sie nimmt ihren Gang ohne ihn, sie braucht ihn nicht.

nd bald ist die Zeit so unnachsichtlich verstrichen, daß er fern steht von allem Wirklichen. Er vernimmt nur noch von weitem ein Brausen. Dort fließt und rauscht schäumend der Strom. Aber hier, bei ihm und um ihn, wird es einsam und stil­le. Er steht für sich. Lautlos breiten sich um ihn die Horizonte. Lautlos, beinahe tot gähnt ringsum: Einsamkeit. — Und höchs­tens baut sich der Einsiedler noch ein einsames Glück, seltsam-groteske Bilderscheinungen, an denen er und die, die gleich irr­gegangen sind wie er, sich freuen. Ist er einsichtsvoll, mit dem Sinn für Tiefen begabt, so versenkt er sich in sich selbst und lauscht der erhaben unendlichen Stille, die ihn umfängt.

enn alle Instinkte jung und stark und alle Sinne wach sind, dann fühlen wir die Einheit der Entwicklung so greifbar deut­lich, daß nichts fähig ist, kein Widerspruch, kein Unglück, keine Zwietracht, uns von dieser Einsicht in das Weltgetriebe abzu­bringen. Es lockt uns dann, dem taktmäßigen, ewig unruhevol­lem Schlag der Wellen zu lauschen, den urewigen Klängen, die die Welt durchströmen und deren Rhythmus wir in der Stille vernehmen, wie wir den Pulsschlag in uns selbst spüren, nach­zuhängen. Es lockt uns auch, diesem Strom uns machtvoll ent­gegenzustellen. Wir freuen uns daran, wie machtvoll er schäumt. Nur die Zaghaften, nur die Kleinen, nur die Schwa­chen und Besorgten, nur die, die ohne Zusammenhang in sich selbst, ohne Zusammenhang mit dem Größeren, das sie umgibt, sind, halten sich fern und werden, geraten sie dennoch in den Strudel, hinweggeschwemmt wie losgerissene Äste eines schwa­chen Baumes. Sie taumeln dahin, überstürzt von den Wellen. Sie gehen unter oder sie retten sich beiseite. Ihre Rufe verhal­len.

nd dann kommt schließlich, allmächtig, alldrängend, das Ge­fühl der Sehnsucht, sich diesem Neuen ganz hinzugeben, die­sem Wirkenden, das Kraft ist, blind zu folgen, machtvoll als ganze Persönlichkeit sich von diesen Wellen tragen zu lassen. Ein Schwimmer, der mit mutigen Armen das Wasser teilt, ist ein gutes Bild für dieses Mühen und Ausruhen, diese Arbeit und dieses lässige Getragenwerden. — Ein Jauchzen weitet die Seele. Mit dem Gefühl tiefsten Vertrauens segeln die Menschen immer wieder in dieses Unbekannte. Immer wieder fallen die Opfer. Immer wieder treten Neue ein. Welcher Drang leitet sie? Berauschend ist die Rücksichtslosigkeit ihrer Hingabe. Sind sie überzeugt, das Ziel zu finden? Ist es nur Drang, nur Kraft, die sie leitet ? Sind sie Natur, die wirkt, wird, stirbt?

ntwicklung heißt dieser Siegeszug, dem die Menschen sich opfern. Inferne, fernste Kreise werden sie hineingerissen und sie wissen nicht, wem sie dienen. Und gerade wenn sie trunken sind vor Lebensfülle, fühlen sie diese Wellen um sich wogen und fühlen ihr Blut im Takt mit dieser Melodie pochen. Trage mich hinweg, dir will ich mich opfern, so ruft die Stimme des wilden Blutes in uns. — Und auf der Höhe dieser fruchtbaren Erkenntnis formt der Künstler seine ehernen Werke, benutzt Wort, Stein, Ton, Farbe, um von diesem innewohnenden Geist ein Teilchen zu erschaffen und seiner Dichtung, seinen Statuen, seinen Bildern und seinen Musikschöpfungen davon zu geben.

mmer wieder stellt die Zeit — dieser kleine Ausschnitt aus der Unendlichkeit — diese Forderungen an den Einzelnen und wir verknöchern, wenn wir diese Rufe überhören. In diesem Feuer der Prüfungen werden die Seelen wachgeglüht und entfalten sich immer strahlender, mächtiger und lebenstüchtiger. — Wir haben uns zu sehr gewöhnt, den Ablauf des Geschehens, dessen kleinen Teil, den wir begreifen und wissen, wir Geschichte nen­nen, zu sehr vom Standpunkte des Einzelnen, dessen Wohl und Wehe uns um einer Laune willen schätzbarer scheint, als wir vor uns wachend rechtfertigen können, aufzufassen. Das Leben des Einzelnen ist eine Reihe von Hoffnungen und Enttäuschun­gen und Verzweiflungen. Wir sollen es vergessen. Wir sollen hin­auskommen über die engen Kreise. Es gruppiert sich im Le­ben des Einzelnen, so lange er noch in Fesseln liegt, alles um das Eine: Wie der Einzelne sich zum Ganzen stellt, ob er auf­jauchzt, ob er klagt, ob er nörgelt, ob er unterliegt. So zerfällt immer wieder die große Macht der Ereignisse und der Strom wird immer wieder eingedämmt. Da aber unser Widerstand zu schwach ist, bricht der Ansturm unser Wehren und dann kla­gen wir an und bedauern. Und so häufen sich die Wirrnisse. — Die Macht der Ereignisse bedienen sich des Einzelnen nur als Mittel, sie berücksichtigen ihn nicht. Tritt der Einzelne in den Vordergrund, so zerfällt immer wieder die Macht der Ereignisse in zusammenhangslose Einzelerlebnisse: Trübungen, Hoffnun­gen, Freuden des Einzellebens.

reten wir aber hinaus in die umfassenderen Kreise der see­lisch-organischen Zusammenhänge, so  sind wir von den Fes­seln des Individualwillens befreit. In diesem Zusammenschluß knüpft das Ganze an das Einzelne an. Entwicklung des Ganzen ist nichts anderes als Kräfteentfaltung des Einzelnen, der hin­strebt in umfassendere Bahnen, sich  nicht auf sich seelisch-organischen Zusammenselbst beschränkt. Denn der Einzelne muß wissen, daß nicht sein Leben und sein Werden an sich von Wert ist, sondern nur im Hinblick auf die Notwendigkeit, die im Ganzen sich offenbart, Bedeutung gewinnt. Nur der eherne Gang der Entwicklung gibt dem Leben des Einzelnen, der Teil ist, Sinn. Tod ist Erwachen. Das höhere Bewußtwerden, das tiefere Versinken hebt erst an, wenn die Fesseln der engeren Begrenzung gesprengt sind. Dann aber, wenn Freiland gewon­nen ist, beginnt nach dem Tod die Auferstehung, die Auferste­hung der Seele. Denn sie, die im Einzelnen und bei seinen Ge­lüsten geknechtet war, reckt sich nun jugendlich stark auf, sie erstarkt an dem unendlichen Blick über die unbegrenzten Lan­de. Und sie, die erst schüchtern dahinvegetierte, gewinnt die Kraft, Ziele zu setzen, neue Bahnen zu gewinnen. Gerade im Kampf erwacht ihr Bewußtsein. Indem sie sich dem Ganzen anschließt, wird sie erst zu dem, was in ihr liegt. Und indem sie, die Seele des Einzelnen, schein­bar unterliegt, blickt sie zum erstenmal schüchtern mit er­stauntem Blick um sich und sieht die Natur in ihrem Werde­schmuck, Blumen, die sich erschließen auf grünenden Wiesen, den blauen Himmel darüber und hoch droben weiße Wolken, die selig dahinschweben, wie strahlende Riesenvögel. Gespannt lauschend, vernimmt sie den Rhythmus der Natur und sie be­greift,

daß dieser Takt der gleiche ist, der in ihr lebt.

Indem  sie   aufatmet,  wird  sie  ein   T eil  der

      Natur,  ein  Teil  des  Ganzen.  Der  Tod

      ist  nur   ein  Erwachen.  Von  nun

        hält ein unsichtbarer Freund

        die Schwankende , die

nun erst ihr Leben

beginnt.

          




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