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Vierzehntes Kapitel

Leben der Seele

Ernst Schur
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er so im Kampf steht, achtet nicht viel der Wunden, die er empfängt. Der Kampf ist die Erproberin aller Weisheiten. Die Fundgrube aller notwendigen Erkenntnisse. Wo um Seelen gekämpft wird, ist die Beute eine reiche Fülle von Offenbarungen.

irgends sonst liegen die Fäden des Wollens so dicht ineinander ver­wirrt. Nirgends sonst sind sie zugleich  verwirrt. Nirgends sonst sind sie zugleich so aufgedeckt wie hier.


ie Not drückt schwerer. Der Geist strafft sich energischer. Das Blut springt und pulsiert tobender. Und hell erglänzt der strahlende Schild der Seele.


a alles auf dem Spiele steht, scheut der Geist vor nichts zurück. Da alle Kräfte entfesselt sind, wovor sollte die Seele bangen? Welche Fesseln sollte sie fürchten? Welche Schranken respektieren ? — Hier herrschen keine Formeln mehr. Ihre Macht ist gebrochen. Die Macht der Götzen ist dahingesunken. Kein Erstarren lähmt den Willen. Die Form wird ge­boren. Und der G o t t  S e e l e besteigt seinen Siegeswagen. Geht es zum Triumph oder zum Unterliegen, es ist gleich. Hinaus ins Freie stürmt sie jubelnd, wo der Sturm saust und die Blitze zucken.


ie schön ist der Wille, der ungebrochen sich entfaltet. Wie oft liegt er gefesselt, geknickt, mißhandelt am Boden! Er erwacht aus der Erstarrung und ist jung wie am ersten Tag. Und ewig unerfahren sehnt er sich nach ­dem Ergründen aller Möglichkeiten.


n diesem Chaos erscheint die Seele als das tiefste, verwirrteste Labyrinth widerspruchsvoller Regungen. Aber was uns widerspruchsvoll erscheint, erhellt sich uns auf höheren Werte als Offenbarung und Not­wendigkeit. — Was uns ängstlich und arm und ungeklärt, ja gefährlich erschien, das enthüllt sich uns als reichster blendender Schatz. Voller Feinheiten, Dunkelheiten, Freiheiten, Rätselhaftigkeiten, Dämmerungen erscheint die Seele. Voller Schatten. Und dennoch ist ihre Zielrichtung die Erhellung. Und in unermüdlicher Bewegung sehnt sie sich und strebt zum Licht.


er die Seele einmal in ihrer Schönheit erschaute, liebt sie bis zum Wahnsinn und bleibt ihr treu in allen  Fährnissen. Er schaukelt auf ihren Unendlichkeiten und errät ihre Deutungen. Er läßt sich erfassen von  ihren Strudeln und taucht unter in die Fluten. Er wird nicht irre, wenn ihre Vielfältigkeit ihn blendet und verwirrt und bis zur Selbstaufopferung geht er ihren Rätseln nach, um sie zu künden.


er steht am höchsten, der sie am unfassendsten erschaut, der ihre Totalität ahnt. Der die Farben und Nuancen dann so meisterlich mischt, daß das Leben und Sein der Seele im Bilde ersteht. Mit zitternder Hand holt er die verborgensten Regungen herauf aus dem Dunkel. Frei von Formelvorstellungen, lauscht er nur den Einflüsterungen, die ihm von ferne kommen und sucht den Eindruck festzuhalten.


er die Seelen so schaut, die Seelen der Einzelnen, die Seele des Ganzen, das unaufhörliche Verschlingen zu neuen Ketten und Ringen in der Entwicklung der sichtbaren Welt, wer diese Kräfte alle zuckend vor sich liegen sah, der greift nur behutsam und scheu in diese Gewebe. Sie leiten das menschliche Schicksal, wie das Schicksal des Universums. Mit ihnen gelangt er suchend dem Zentrum der Bewegung nahe. Er erfaßt die Ahnung, die ihm Offenbarung wird.





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