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Zehntes Kapitel

Leben der Seele

Ernst Schur
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er gibt dem Willen das Ziel? Er findet hier und da eine Lo­ckung, die ihn anzieht. Er folgt, er läßt sich leiten. — Wer be­fiehlt dem Willen, sich auszudehnen, zu wachsen, zu bewälti­gen? Ein Funke, springt er hinüber zum anderen Pol. Er dehnt sich aus und erfüllt den Raum. — Ruhelosigkeit treibt den wer­denden Charakter von Ort zu Ort, von Mensch zu Mensch. Wer je die Qual dieser seelischen Unersättlichkeit empfand, dieses Immer-Unbefriedigtsein, dieses Hungern, der weiß, daß tiefere Ursachen sich hier dem Blick verhüllen.

reibe weiter es hilft dir kein Besinnen! Wirke dich aus! Das Grab wird dich danach verschlingen. Vielleicht ist da die Ruhe. Vielleicht! — Und wenn du auch untergehst und der Strudel dich verschlingt, vielköpfig erhebt sich der Trieb des Werdens. Millionen wirft die Entwicklung verschwenderisch und freigebig in die Wagschale und kümmert sich nicht um Glück und Streben und kümmert sich nicht um den Einzelnen. — Wenn die Schicksalswelle kommt, die ungeheure Notwen­digkeit, deren blassen, vernunftgemäßen Niederschlag wir Ge­schichte nennen und uns darauf etwas zu gute tun, daß wir die­se geregelte Abwechslung buchen, dann gibt es kein Überlegen, kein Zurück. Es gibt nur Kräfte, die sich gegenübergestellt sind, die sich — kein Ausweg — messen müssen. Ein Vorgang, so natürlich, zwingend, wie das Sausen der Schneelawine, die in ungeheurer Prächtigkeit zu Tal rollt, Wohnstätten begräbt. Ein Ereignis, so unaufhaltbar, wie der Ausbruch des glühen­den Lavastromes, der riesenhaft vorrückt, Städte einäschert. Ein Rhythmus, so monoton—unbewegt und gleichmäßig — un­erbittlich, wie das eintönige Branden und Brausen der Meeres­wellen, die im Sturm an das Ufer schlagen und um die Küste wie hungrige Wölfe heulen, die nach Beute gierig schnappen.

reibe weiter — es hilft dir kein Besinnen! Alles, was du er­strebst und was du liebst und wofür du leben wolltest, es ist klein und verschwindet. Eine Kraft ist größer. Und nur das eine Wort gilt: Tritt vor und falle! Es wird dir immerfort ins Ohr ge­raunt, dies Eine, Unerbittliche, das dich von Allem trennt. — Dem Unkundigen ist dieser Zwang verhüllt. Er meint, die Überlegung leitet ihn, er fasse Entschlüsse. — Freilich ist diese Erkenntnis der tiefen Zusammenhänge nur denen gegeben, die darum wissen und sich darum mühen. Dem Urteilslosen ent­hüllt sich nur die Oberfläche: ein anregend Spiel, ein Durchset­zen des Willens, den ich lenke und regiere. Nie besiegt mich die Schwäche. Ich raffe mich auf und befreie mich aus den Schlin­gen, die mich umgarnen wollen. Frei stehe ich als bewußter Mensch da und lenke meine Geschicke! Aber weshalb lenke ich sie so und nicht anders?

ritt vor und falle! Dieses Wort, das jedem, der mehr ist als Spielball, gellend einmal in die Ohren dringt, es enthält so viel Schmerz und Unglück, daß unwillkürlich Stummheit eintritt, wo dieser Ruf gehört wird. Die Furchtsamen streben, sich in Sicherheit zu bringen. Dennoch blüht auf dem Grunde dieses Schmerzes die Freude der Opferung, der Jubel des Bekennens, der Stolz des lachenden Sich -Verschenkens. Denn das ist die Kraft, die sich verjüngt, die sich betätigt, ohne sich zu ver­zehren, die leuchtet, ohne je auszubrennen. Dieses Rastlose, Vieldeutbare des Weltgeschehens zieht uns an. Und wenn wir klar und kraftvoll auf uns selbst stehen, so fühlen wir beim An­blick dieser verschlungenen Notwendigkeit dieses eine Gefühl: Blühe auf, o Weltfreude!





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