lifedays-seite

moment in time
           Literatur

 

 







Zwölftes Kapitel

Leben der Seele

Ernst Schur
_____________


o der Wille so zwiespältig und vielspältig gemischt ist, ist dem Unglück der Weg bereitet. Nur die hohe Natur spannt über diese Abgründe noch eine Brücke, über die die Seele ruhig und gemessen schreitet und furchtlos stehen bleibt und hin­abblickt, wo unten die Elemente branden und tosen. — Aber selbst da, wo das Schlimme — nur uns erscheint es schlimm, die wir die Dinge praktisch werten — das Noch-nicht-endgiltig-Entwickelte mit sich selbst ringt, sich vielleicht auch gegen an­dere kehrt, da ist auch ein kleiner Pfad bereitet, der der Dun­kelheit Licht und Luft zuführt. Ein Schacht, der die Gewitter reinigt. Wo viel Unglück und Not und Verblendung ist, da ist auch die Liebe strahlender, da wird bittender und scheuer ge­geben und dankbarer empfangen. So erblicken wir hier Mit­empfindung leuchtender, reiner als anderswo, Liebe in tiefem Unglück. Der Haß ist jäh und tritt sie nieder, er springt zur Tat, die er nachher schnell bereut. Sterbend schüttelt der Haß noch die Faust. Die Zeit muß sühnen, was er verbrach. Aber immer wieder . . . hier und da . . . diese unscheinbare Blume . . . Liebe, Menschenliebe, die den Tod nicht scheut. Sie reicht immer wieder stumm mit ganzer Seele ihre bittenden Hände. Über das zeitliche Streben leuchtet sie den Brüdern hinüber in die Zukunft. Und blüht in tiefem Unglück, eine kleine, schüchterne, ver­irrte Blume.

enn tausend Ströme fließen in jedem Menschen zusammen. Er ist ein Kampfplatz für entgegenstreitende Emp­findungen, und nicht nur Vater und Mutter einigen oder be­kämpfen sich in ihm, sondern ganze Generationen und Natio­nen, ganze Kulturen, alte und neue. So vieles will noch immer nicht sterben. Wir meinen, es vergessen zu können. Da reckt es sein Haupt empor und dräut. — Der wissende Mensch blickt in sein Inneres mit einem Gefühl seltsamen Grauens, und in ent­scheidenden Momenten sieht er sich selbst zu und sieht etwas werden, das er nachher E n t s c h l u ß nennt. — Eine unermeßliche Anzahl von Entwicklungstufen sehen wir in dem Nebeneinan­der menschlicher Charaktere. Immer neue Mischungen. Der eine scheint fertig, er ist aber nur eindeutig. Der andere ist viel­deutig, beherrscht aber den Zwist, unterdrückt ihn. Andere stellen die Neigungen außer sich und leben frei und ohne Sor­ge. Andere verkümmern und fristen so ihr Leben. Und alles ist da und lebt und redet und rechtfertigt sich und kämpft den Kampf der Betonung. So geht es fort; von primitiven Stufen angefangen, ringt sich die Kraft hindurch, steigt höher, sinkt herab, verschwindet, tritt ins Sichtbare, schlummert träge da­hin. Und es scheint, als müßte diese Kraft daran arbeiten, sich den Dingen zum Trotz durchzuarbeiten, sich zu formen, und bis sie das als jeweilige Erscheinung nicht erreicht hat, tritt sie ihren Gang immer wieder von neuem an. Immer wieder er­probt sie sich selbst und stellt sich zum Kampf. Immer neue Widerstände wecken die Lust. So erneuert sich der Wille. Und die Seele, die Bewegung ist, begleitet die Kraft auf ihren We­gen. Sie ist Kraft. — So ringt sich — und daher das Unermüdli­che der ringenden Daseinswelt — in jedem Einzelnen etwas zum Sein, das sich betätigen, das frei werden will. Ist es noch auf ganz niedriger Stufe, so erschöpft es sich in gleichgiltigen Kämpfen und erniedrigt sich vor irdischer Gegenwart, dient stumpfen Vorschriften und ist selbstgenügend in dieser Erfül­lung. — Wo aber die Seele erwacht ist, treibt sie, als Überschuß an Kraft oder als stille Hüterin, die Sinne an, die Muskeln, die Glieder und sorgt für das immer höhergleitende Spiel der Kräf­te, das Erlösung erhoffen läßt, Ruhe, Glanz und Erfüllung. Selbst die Verzweiflung ist hier nur eine Station der Erholung, ein Ausruhen. Hinterher jauchzt die Seele noch einmal so froh, noch einmal so jubelnd, frei und nackt.




  lifedays-seite - moment in time - literatur