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Literatur


04.3

CHITRA
RABINDRANATH TAGORE

*
EIN SPIEL
IN EINEM AUFZUG





Personen

Götter:
Madana (Eros)
Vasanta (Lycoris)

Sterbliche:
Chitra
Tochter des Königs von Manipur
 
Arjuna
ein Prinz aus dem Hause der Kuru. Er ist aus der Kshatriya oder Kriegerkaste und
lebt während der Handlung als Eremit einsam im Wald.

Dorfleute
aus einer abgelegenen Gegend in Manipur.
_________________________________________


Neunte Szene - Im Wald


Chitra
(in einen Mantel gehüllt.)
 

Mein Herr, hast Du den Becher bis zur Neige geleert? Ist dies wirklich das Ende? Nein, wenn alles getan, so bleibt doch noch Eins, mein letztes Opfer, das ich zu Deinen Füßen darbringe. Aus dem himmlischen Garten brachte ich Blumen von unvergleichlicher Schönheit, Dich zu ehren, Gott meines Herzens.

Ich will die Blumen aus dem Tempel hinauswerfen, wenn sie verwelkt sind und die heilige Handlung vorüber.

(Sie nimmt ihren Mantel ab und trägt Männerkleidung wie am Anfang.)

Nun laß Deinen Knecht Gnade finden vor Deinen Augen.

Ich bin nicht schön und vollkommen wie die Blumen, mit denen ich Dich ehrte. Ich bin voller Schuld und Fehler. Auf der großen Heerstraße der Welt bin ich ein Wanderer, meine Kleider sind beschmutzt, und Dornen haben meine Füße blutig gerissen. Wie könnte ich schön sein wie die Blumen, voll unbefleckter Lieblichkeit, für die kurze Dauer eines Augenblicks? Die Gabe, die ich Dir voll Stolz darbringe, ist das Herz eines Weibes. Darinnen ist eingeschlossen aller Schmerz und alle Lust, alle Hoffnung, alle Furcht, alle Scham einer Erdentochter.

Hier ist der Uranfang der Liebe, von hier aus ringt sie nach Unsterblichkeit. Im Herzen des Weibes liegt eine große und erhabene Unvollkommenheit. Nun, da die Anbetung der Schönheit vorüber, nimm diesen
(auf sich zeigend)
als Deinen Knecht für kommende Tage.

Ich bin Chitra, die Königstochter. Vielleicht erinnerst Du Dich des Tages, als in Shivas Tempel ein Weib zu Dir trat, behangen mit Putz und Schmuck. Die Schamlose kam und warb um Dich wie ein Mann. Du stießest sie zurück, und Du tatest wohl daran. Herr, jenes Weib — bin ich. Sie diente mir als Maske. Damals verlieh mir die göttliche Gnade für ein Jahr die strahlendste Gestalt, die je einem Sterblichen wurde. Mit der Last jenes Betruges beschwerte ich meines Helden Herz. Dies Weib kann ich nicht sein.

Ich bin Chitra. Keine Göttin bin ich, die man anbetet, aber auch nicht ein Gegenstand allgemeinen Mitleids, den man achtlos abschüttelt wie ein Insekt. Wenn Du mich würdig findest, Dir zur Seite zu stehen, wenn ich die großen Pflichten Deines Lebens teilen darf — dann wirst Du mein wahres Wesen erkennen. Wenn Dein Kind, das ich in meinem Schoß nähre, ein Sohn sein wird, will ich es lehren, ein zweiter Arjuna zu werden. Wenn die Zeit kommt, werde ich ihn zu Dir senden, und Du wirst endlich mein eigenstes Ich erkennen. Heute kann ich Dir nur Chitra darbringen, die Tochter eines Königs.
 

Arjuna
Geliebte, mein Leben ist vollkommen erfüllt.

 

ENDE

 





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