Die Zeit verging, und
niemand erinnerte sich an ihn. Die gewohnte Arbeit an gewohntem Ort war
unsere
und der Gedanke, dass der einmal frei gewesene Mann aus den Bergen seine
Jahre im Gefängnis verbrachte, kam uns selten oder nie.
Sogar
meine fröhliche Mini,
schäme ich mich zu sagen, vergaß ihren alten Freund. Neue Kameraden
füllten ihr
Leben aus.
Als
sie älter wurde, verbrachte sie mehr Zeit
mit Mädchen. Tatsächlich verbrachte sie soviel Zeit mit ihnen, dass sie
nicht
mehr wie gewohnt ins Zimmer ihres Vaters kam.
Wir
redeten kaum noch
miteinander.
Jahre
waren vergangen.
Einmal mehr war es Herbst, und wir hatten Arrangements für die Heirat
unserer
Mini gemacht. Sie sollte während der puja Feiertage stattfinden. So wie
Durga
zum Kailash zurückkehrte, so sollte das Licht unseres Hauses zum Haus
ihres
Gemahls aufbrechen und das ihres Vaters im Schatten zurücklassen.
Es
war ein heller Morgen.
Nach den Regenfällen lag ein Hauch von Reinheit in der Luft und die
Sonnenstrahlen sahen aus wie pures Gold. So hell waren sie, dass sie
sogar den
schäbigen Mauern in den Gassen Kalkuttas eine schöne Ausstrahlung
verliehen.
Seit dem frühen Sonnenaufgang wurde Hochzeitsmusik gedudelt und bei
jedem Taktschlag
hatte mein Herz geklopft. Das Klagen der Melodie, Bhairavi, schien
meinen
Schmerz ob der kommenden Trennung zu verstärken. Meine Mini sollte
heute Nacht
verheiratet werden.
Lärm
und ständiges Treiben
hatte seit dem frühen Morgen das Haus erfüllt. Im Hof musste das
Schutzdach auf
seine Bambuspfähle geworfen werden; die klingelnden Leuchter mussten in
jedem
Zimmer und in der Veranda aufgehangen werden. Eile und Aufregung kamen
zu
keinem Ende.
Ich
saß in meinem Arbeitszimmer und sah die
Rechnungen durch, als jemand hereinkam und sich
respektvoll grüßend vor mich hinstellte. Es war Rahmun der Cabuliwallah. Zuerst
erkannte ich ihn nicht. Er trug weder Sack noch langes Haar, und ihm
fehlte die
gewohnte Lebenskraft. Aber er lächelte, und da erkannte ich ihn wieder.
“Seit
wann bist Du hier,
Rahmun?“, fragte ich ihn.
“Letzten
Abend“, sagte er,
“wurde ich aus dem Knast entlassen.“
Die
Worte schlugen rauh in
meine Ohren. Nie zuvor hatte ich mich mit jemandem unterhalten, der
seinen Nächsten
verwundet hatte, und mein Herz zog sich zusammen als ich es bemerkte,
denn ich
hatte das Gefühl, dieser Tag hätte bessere Vorzeichen besessen, wenn er
nicht
aufgetaucht wäre.
“Es
sind Festlichkeiten im
Gang“, sagte ich, “und ich bin beschäftigt.¨Könntest Du vielleicht
einen
anderen Tag kommen?“
Sofort
drehte er sich um
und ging; aber als er die Tür erreichte, zögerte er und sagte: “Darf
ich nicht
einen Moment die Kleine sehen, Sir?“ Er war im Glauben, Mini wäre noch
dieselbe. Er hatte sich vorgestellt, wie sie wie üblich zu ihm lief und
rief “O
Cabuliwallah! Cabuliwallah!“ Er dachte auch, dass beide wie in alten
Zeiten
lachen und miteinander reden würden. In der Tat hatte er sich an
frühere Tage
erinnert und, vorsichtig in Papier verpackt, ein paar Mandeln und
Rosinen und
Trauben mitgebracht, die er irgendwie von einem Bauern ergattert hatte,
denn
sein eigener kleiner Fundus war ausgegeben.
Wieder
sagte ich: “Im Haus
gibt es eine Festlichkeit und Du wirst heute niemand sehen können.“
Das
Gesicht des Mannes
wurde lang. Er blickte einen Moment wehmütig auf mich, sagte: “Guten
Morgen“, und ging hinaus. Er tat mir ein wenig Leid und ich hätte ihn
zurückgerufen,
aber ich merkte, dass er bereits aus eigenem Entschluss zurückkehrte.
Er
trat nahe an mich heran, hielt seine Geschenke und sagte: “Diese paar
Dinge,
Sir, habe ich für die Kleine mitgebracht.¨Werden Sie sie ihr geben?“
Ich
nahm sie und war dabei,
ihn zu bezahlen, aber er fing meine Hand und sagte: “Sie sind sehr nett,
Sir!
Behalten Sie mich in guter Erinnerung. Bieten Sie mir kein Geld! – Sie
haben
eine kleine Tochter, ich habe auch eine wie sie, bei mir zuhause.
Ich denke an sie, wenn ich
Ihrem Kind Obst bringe, und nicht an meinen Gewinn.“
Das
gesagt, steckte er
seine Hand in seinen großen, losen Umhang und brachte ein kleines und
verschmutztes Stück Papier hervor. Mit großer Sorgfalt entfaltete er es
und
glättete es mit beiden Händen auf meinem Tisch. Es trug den Abdruck
einer
kleinen Hand. Keine Fotografie. Keine Zeichnung. Der Abdruck einer
tinteverschmierten
Hand lag flach auf dem Papier. Diese Berührung seiner kleinen Tochter
war die
ganze Zeit an seinem Herz gewesen, als er Jahr für Jahr nach Kalkutta
gereist
war um seine Waren auf der Straße zu verkaufen.
Tränen
traten in meine
Augen. Ich vergaß, dass er ein armer Kabuler Obstverkäufer war, während
ich –
aber nein, was war ich mehr als er? Auch er war Vater. Dieser Abdruck
der Hand
dieser kleinen Parbati in ihrer entfernten Bergheimat erinnerte mich an
meine
kleine Mini.
Sofort schickte ich nach
Mini in der inneren Wohnung. Viele Probleme wurden gemacht, aber ich
hörte
nicht. Gekleidet im roten Samt ihres Hochzeitstages, mit der
Sandelpaste auf
der Stirn und geschmückt als junge Braut, kam Mini herein und stand
schüchtern
vor mir.
Der
Cabuliwallah blickte
leicht schwankend auf die Erscheinung. Er war nicht in der Lage, ihre
alte
Freundschaft wiederzubeleben. Zuletzt lächelte er und sagte: “Kleine,
gehst Du
zum Haus Deines Schwiegervaters?“
Aber
Mini verstand jetzt,
was das Wort Schwiegervater bedeutete und sie konnte nicht mehr wie in
alten
Zeiten antworten. Sie errötete bei der Frage und stand, das
Brautgesicht
gesenkt, vor ihm.
Ich
dachte an den Tag zurück,
als sich der Cabuliwallah und Mini das erste Mal begegneten und fühlte
mich
traurig. Als sie gegangen war, brachte Rahmun einen tiefen Seufzer
hervor und
setzte sich auf den Boden. Es war ihm plötzlich der Gedanke gekommen,
dass auch
seine Tochter in dieser langen Zeit herangewachsen sein muss, und dass
er mit
ihr würde neu Freundschaft schließen müssen. Sicherlich würde er sie
nicht mehr
so vorfinden, wie er es gewohnt war. Und außerdem, was mochte mit ihr in
diesen
acht Jahren passiert sein?
Die
Hochzeitsmusik dudelte und
die milde Herbstsonne umströmte uns. Aber Rahmun saß an der kleinen
Gasse in
Kalkutta und sah vor sich die kahlen Berge Afghanistans.
Ich
nahm eine Banknote
heraus, gab sie ihm und sagte: “Geh zurück¨ zu Deiner eigenen Tochter,
Rahmun,
in Deinem Land, und möge die Freude Deines Wiedersehens meinem Kind
Glück
bringen!“
Da
ich dieses Geschenk
gemacht hatte, musste ich ein paar der Festlichkeiten kürzen. Weder das
elektrische Licht, das ich geplant hatte, noch die Militärkapelle
konnte ich
nun haben, und die Ladies des Hauses waren deswegen verzweifelt.
Aber
für mich war das Hochzeitsfest
umso heller, wenn ich daran dachte, wie sich in einem entfernten Land
ein lang
verlorener Vater mit seinem einzigen Kind wiedertraf.