lifedays-seite

moment in time



 
Literatur


04.3

Drei Kurzgeschichten
 
Rabindranath Tagore




Der Cabuliwallah - Seite 2
(Der Obsthändler aus Kabul)¨
(Indien, New York 1916)


Die Zeit verging, und niemand erinnerte sich an ihn. Die gewohnte Arbeit an gewohntem Ort war unsere und der Gedanke, dass der einmal frei gewesene Mann aus den Bergen seine Jahre im Gefängnis verbrachte, kam uns selten oder nie.
 
Sogar meine fröhliche Mini, schäme ich mich zu sagen, vergaß ihren alten Freund. Neue Kameraden füllten ihr Leben aus.
 
 Als sie älter wurde, verbrachte sie mehr Zeit mit Mädchen. Tatsächlich verbrachte sie soviel Zeit mit ihnen, dass sie nicht mehr wie gewohnt ins Zimmer ihres Vaters kam.
 
Wir redeten kaum noch miteinander.
 
Jahre waren vergangen. Einmal mehr war es Herbst, und wir hatten Arrangements für die Heirat unserer Mini gemacht. Sie sollte während der puja Feiertage stattfinden. So wie Durga zum Kailash zurückkehrte, so sollte das Licht unseres Hauses zum Haus ihres Gemahls aufbrechen und das ihres Vaters im Schatten zurücklassen.
 
Es war ein heller Morgen. Nach den Regenfällen lag ein Hauch von Reinheit in der Luft und die Sonnenstrahlen sahen aus wie pures Gold. So hell waren sie, dass sie sogar den schäbigen Mauern in den Gassen Kalkuttas eine schöne Ausstrahlung verliehen. Seit dem frühen Sonnenaufgang wurde Hochzeitsmusik gedudelt und bei jedem Taktschlag hatte mein Herz geklopft. Das Klagen der Melodie, Bhairavi, schien meinen Schmerz ob der kommenden Trennung zu verstärken. Meine Mini sollte heute Nacht verheiratet werden.
 
Lärm und ständiges Treiben hatte seit dem frühen Morgen das Haus erfüllt. Im Hof musste das Schutzdach auf seine Bambuspfähle geworfen werden; die klingelnden Leuchter mussten in jedem Zimmer und in der Veranda aufgehangen werden. Eile und Aufregung kamen zu keinem Ende.
 
 Ich saß in meinem Arbeitszimmer und sah die Rechnungen durch, als jemand hereinkam und sich respektvoll grüßend vor mich hinstellte. Es war Rahmun der Cabuliwallah. Zuerst erkannte ich ihn nicht. Er trug weder Sack noch langes Haar, und ihm fehlte die gewohnte Lebenskraft. Aber er lächelte, und da erkannte ich ihn wieder.
 
“Seit wann bist Du hier, Rahmun?“, fragte ich ihn.
 
“Letzten Abend“, sagte er, “wurde ich aus dem Knast entlassen.“
 
Die Worte schlugen rauh in meine Ohren. Nie zuvor hatte ich mich mit jemandem unterhalten, der seinen Nächsten verwundet hatte, und mein Herz zog sich zusammen als ich es bemerkte, denn ich hatte das Gefühl, dieser Tag hätte bessere Vorzeichen besessen, wenn er nicht aufgetaucht wäre.
 
“Es sind Festlichkeiten im Gang“, sagte ich, “und ich bin beschäftigt.¨Könntest Du vielleicht einen anderen Tag kommen?“
 
Sofort drehte er sich um und ging; aber als er die Tür erreichte, zögerte er und sagte: “Darf ich nicht einen Moment die Kleine sehen, Sir?“ Er war im Glauben, Mini wäre noch dieselbe. Er hatte sich vorgestellt, wie sie wie üblich zu ihm lief und rief “O Cabuliwallah! Cabuliwallah!“ Er dachte auch, dass beide wie in alten Zeiten lachen und miteinander reden würden. In der Tat hatte er sich an frühere Tage erinnert und, vorsichtig in Papier verpackt, ein paar Mandeln und Rosinen und Trauben mitgebracht, die er irgendwie von einem Bauern ergattert hatte, denn sein eigener kleiner Fundus war ausgegeben.
 
Wieder sagte ich: “Im Haus gibt es eine Festlichkeit und Du wirst heute niemand sehen können.“
 
Das Gesicht des Mannes wurde lang. Er blickte einen Moment wehmütig auf mich, sagte: “Guten Morgen“, und ging hinaus. Er tat mir ein wenig Leid und ich hätte ihn zurückgerufen, aber ich merkte, dass er bereits aus eigenem Entschluss zurückkehrte. Er trat nahe an mich heran, hielt seine Geschenke und sagte: “Diese paar Dinge, Sir, habe ich für die Kleine mitgebracht.¨Werden Sie sie ihr geben?“
 
Ich nahm sie und war dabei, ihn zu bezahlen, aber er fing meine Hand und sagte: “Sie sind sehr nett, Sir! Behalten Sie mich in guter Erinnerung. Bieten Sie mir kein Geld! – Sie haben eine kleine Tochter, ich habe auch eine wie sie,  bei mir zuhause. Ich denke an sie, wenn ich Ihrem Kind Obst bringe, und nicht an meinen Gewinn.“
 
Das gesagt, steckte er seine Hand in seinen großen, losen Umhang und brachte ein kleines und verschmutztes Stück Papier hervor. Mit großer Sorgfalt entfaltete er es und glättete es mit beiden Händen auf meinem Tisch. Es trug den Abdruck einer kleinen Hand. Keine Fotografie. Keine Zeichnung. Der Abdruck einer tinteverschmierten Hand lag flach auf dem Papier. Diese Berührung seiner kleinen Tochter war die ganze Zeit an seinem Herz gewesen, als er Jahr für Jahr nach Kalkutta gereist war um seine Waren auf der Straße zu verkaufen.
 
Tränen traten in meine Augen. Ich vergaß, dass er ein armer Kabuler Obstverkäufer war, während ich – aber nein, was war ich mehr als er? Auch er war Vater. Dieser Abdruck der Hand dieser kleinen Parbati in ihrer entfernten Bergheimat erinnerte mich an meine kleine Mini.
 
Sofort schickte ich nach Mini in der inneren Wohnung. Viele Probleme wurden gemacht, aber ich hörte nicht. Gekleidet im roten Samt ihres Hochzeitstages, mit der Sandelpaste auf der Stirn und geschmückt als junge Braut, kam Mini herein und stand schüchtern vor mir.
 
Der Cabuliwallah blickte leicht schwankend auf die Erscheinung. Er war nicht in der Lage, ihre alte Freundschaft wiederzubeleben. Zuletzt lächelte er und sagte: “Kleine, gehst Du zum Haus Deines Schwiegervaters?“
 
Aber Mini verstand jetzt, was das Wort Schwiegervater bedeutete und sie konnte nicht mehr wie in alten Zeiten antworten. Sie errötete bei der Frage und stand, das Brautgesicht gesenkt, vor ihm.
 
Ich dachte an den Tag zurück, als sich der Cabuliwallah und Mini das erste Mal begegneten und fühlte mich traurig. Als sie gegangen war, brachte Rahmun einen tiefen Seufzer hervor und setzte sich auf den Boden. Es war ihm plötzlich der Gedanke gekommen, dass auch seine Tochter in dieser langen Zeit herangewachsen sein muss, und dass er mit ihr würde neu Freundschaft schließen müssen. Sicherlich würde er sie nicht mehr so vorfinden, wie er es gewohnt war. Und außerdem, was mochte mit ihr in diesen acht Jahren passiert sein?
 
Die Hochzeitsmusik dudelte und die milde Herbstsonne umströmte uns. Aber Rahmun saß an der kleinen Gasse in Kalkutta und sah vor sich die kahlen Berge Afghanistans.
 
Ich nahm eine Banknote heraus, gab sie ihm und sagte: “Geh zurück¨ zu Deiner eigenen Tochter, Rahmun, in Deinem Land, und möge die Freude Deines Wiedersehens meinem Kind Glück bringen!“
 
Da ich dieses Geschenk gemacht hatte, musste ich ein paar der Festlichkeiten kürzen. Weder das elektrische Licht, das ich geplant hatte, noch die Militärkapelle konnte ich nun haben, und die Ladies des Hauses waren deswegen verzweifelt.
 
Aber für mich war das Hochzeitsfest umso heller, wenn ich daran dachte, wie sich in einem entfernten Land ein lang verlorener Vater mit seinem einzigen Kind wiedertraf.












   lifedays-seite - moment in time