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Literatur


04.3

 
Drei Kurzgeschichten
 
Rabindranath Tagore




Die Anhängerin - Seite 2
(Indien, New York 1916)

II

An jenem Abend erzählte mir die Anhängerin ihre Lebensgeschichte. Die Abendsterne erschienen und, als sie am Ende der Geschichte anlangte, gingen sie hinter den Bäumen unter.
 
“Mein Gemahl ist ein sehr einfacher Mensch. Manche Leute denken, er sei ein Einfaltspinsel, aber ich weiß, dass jene, die einfach verstehen, wahrhaftig verstehen. Was die Handhabung geschäftlicher Dinge und des Haushalts angeht, konnte er auf eigenen Füßen stehen. Weil seine Bedürfnisse gering waren und er wenig Wünsche hatte, konnte er vorsichtig mit dem umgehen, was wir hatten. Nie mischte er sich in andere Dinge, noch versuchte er, sie zu verstehen.
 
Beide Eltern meines Gemahls starben, bevor wir lange verheiratet waren, und so waren wir allein gelassen. Jedoch brauchte mein Mann immer jemanden über sich. Ich schäme mich zu gestehen, dass er eine Art Ehrfurcht vor mir hatte, und er betrachtete mich als seinen Vorgesetzten. Ich bin aber sicher, er konnte manches besser als ich verstehen, andererseits hatte ich eher Fähigkeiten zu reden.
 
Von allen Menschen auf der Welt verehrte er am meisten seinen Guru [1] Thakur. Tatsächlich war es nicht nur Verehrung sondern Liebe; und Liebe wie die seine ist selten.
 
Guru Thakur war jünger als mein Gatte. Oh! Wie schön er war! Mein Mann spielte mit ihm als er ein Junge war; von dieser Zeit an widmete er Herz und Seele diesem frühen Jugendfreund. Thakur wusste, wie einfach mein Gemahl war, und er neckte ihn erbarmungslos.
 
Er und seine Kameraden machten dann Witze über ihn und amüsierten sich; aber er ertrug sie alle mit stoischer Geduld.
 
Als ich in seine Familie einheiratete, studierte Guru Thakur in Benares. Mein Mann zahlte gewöhnlich alle seine Unkosten. Ich war achtzehn, als er in unser Dorf heimkehrte.
 
Mit fünfzehn hatte ich mein Kind. Ich war so jung, ich wusste nicht wie ich für ihn sorgen sollte. Ich hatte etwas fürs Tratschen übrig und mochte es, stundenlang mit den Freunden aus dem Dorf zusammen zu sein. Gewöhnlich wurde ich ziemlich böse mit meinem Jungen, wenn ich gezwungen war, zuhause zu bleiben und ihn zu versorgen. Sei es wie es ist! Mein Kind-Gott kam in mein Leben, aber Sein Spielzeug war für Ihn nicht bereit. Er betrat das Herz der Mutter, aber das Herz der Mutter blieb rückständig. Er verließ mich in Wut; und seitdem bin ich von einem Ende der Welt zum anderen auf der Suche nach Ihm gewesen.
 
Der Junge war die einzige Freude im Leben seines Vaters. Meine sorglose Nachlässigkeit schmerzte meinen Gatten. Aber seine Seele war eine stumme. Er war nie in der Lage, seinem Schmerz Ausdruck zu geben.
 
Das Wunderbare war, dass das Kind mich trotz meiner Vernachlässigung mehr als jeden anderen liebte. Er schien vom Schrecken erfüllt, ich würde eines Tages weggehen und ihn zurücklassen. Auch wenn ich dann bei ihm war, beobachtete er mich mit rastlosem Blick. Er hatte mich nur wenig für sich, und daher war sein Verlangen, bei mir zu sein, immer schmerzhaft stark. Als ich täglich zum Fluss ging, war er jedesmal wütend und streckte seine kleinen Arme aus, um mit mir mitgenommen zu werden. Der Bade-ghat [2] war mein Platz, um meine Freunde zu treffen, und ich dachte nicht daran, mich mit dem Kind zu belasten.
 
Es war früh am Morgen im August. Unzählige Falten grauer Wolken hatten sich als nasser, klebriger Umhang um den Tag gelegt. Ich bat das Mädchen, sich um den Jungen zu kümmern, während ich zum Fluss ging.
Das Kind weinte nach mir, als ich wegging.
 
Niemand war beim Bade-ghat als ich ankam. Unter den Frauen des Dorfes war ich die beste Schwimmerin. Der Fluss war ziemlich voll vom Regen. Ich schwamm ein gutes Stück weg vom Ufer, hinaus in die Mitte des Stroms. Dann hörte ich einen Ruf am Ufer: ‚Mutter!’ Ich drehte meinen Kopf und sah meinen Jungen die Treppen hinunterlaufen und gleichzeitig rufen. Ich rief ihm zu, stehenzubleiben, aber er ging weiter, lachte und rief. Meine Füße und Hände verkrampften vor Angst. Ich schloß meine Augen, konnte es nicht sehen. Als ich sie öffnete, dort, bei den rutschigen Treppen war das Gelächter meines Jungen für immer verschwunden.
 
Ich erreichte das Ufer. Ich hob ihn aus dem Wasser. Ich nahm ihn in meine Arme, meinen Jungen, mein Liebstes, er, der mich so oft vergebens anbettelte, ihn zu nehmen. Ich nahm ihn jetzt, aber nicht länger sah er mir in die Augen und rief: ‚Mutter.’
 
Mein Kind-Gott war gekommen. Ich hatte Ihn so vernachlässigt. Ich hatte Ihn so zum Weinen gebracht. Und nun begann all diese Nachlässigkeit gegen mein Herz zu schlagen, Schlag auf Schlag, Schlag auf Schlag. Als mein Kleiner bei mir war, hatte ich ihn alleingelassen. Ich hatte abgelehnt, ihn mitzunehmen. Und jetzt, wo er tot ist, klammert sich die Erinnerung an ihn an mich, und läßt mich nie mehr los.
 
Gott allein weiß wie mein Gemahl litt. Wenn er mich nur für meine Sünde bestraft hätte, wäre es für uns beide besser gewesen. Aber er wusste nur wie man in Stille aushält, nicht wie man spricht.
 
Als ich fast verrückt vor Kummer war, kehrte Guru Thakur zurück. In Jugendtagen war die Beziehung zwischen ihm und meinem Mann eine Freundschaft unter Knaben gewesen. Jetzt war die Verehrung meines Manns für seine Heiligkeit und Gelehrtheit ohne Grenzen. Er konnte in seiner Gegenwart kaum sprechen, so groß war seine Ehrfurcht vor ihm.
 
Mein Gemahl bat seinen Guru zu versuchen, mir etwas Trost zu spenden. Guru Thakur fing an, mir die Schriften vorzulesen und zu erklären. Ich denke aber nicht, dass sie große Wirkung auf meinen Geist hatten. Ihr ganzer Wert lag in der Stimme, die sie äußerte. Durch die menschliche Stimme erschafft Gott den göttlichen Lebensatem im tiefsten Herzen, damit der Mensch ihn trinke. Er hat kein besseres Gefäß in Seiner Hand als dies; und Er Selbst trinkt Seinen Zug aus demselben Gefäß.
 
Die Liebe und Verehrung meines Gatten für seinen Guru füllte unser Haus, so wie Räucherstäbchen einen Tempelschrein. Ich zeigte dieselbe Verehrung, und hatte Frieden. Ich sah meinen Gott in der Form dieses Guru.
 
Gewöhnlich kam er jeden Morgen, um sein Essen in unserem Haus zu sich zu nehmen. Mein erster Gedanke beim Aufwachen war der von seiner Nahrung als geheiligtes Geschenk von Gott. Wenn ich die Sachen für das Essen vorbereitete, dann sangen meine Finger vor Freude.
 
Als mein Mann meine Verehrung für seinen Guru sah, stieg sein Respekt vor mir stark an. Er bemerkte den eifrigen Wunsch seines Guru, mir die Schriften zu erklären. Normalerweise meinte er, er könne aufgrund seiner Dummheit nie erwarten, selbst von seinem Guru Beachtung zu verdienen aber seine Frau hatte es wieder gutgemacht.
 
So vergingen weitere fünf Jahre auf glückliche Weise, und mein ganzes Leben wäre so verflossen; aber irgendwo unter der Oberfläche versteckt wurde etwas gestohlen. Ich konnte es nicht ausmachen; aber es wurde vom Gott meines Herzens bemerkt. Dann kam ein Tag, an dem unser ganzes Leben innerhalb eines Augenblicks auf den Kopf gestellt wurde.
 
Es war an einem Morgen im Hochsommer. Ich kehrte gerade vom Baden nach Hause zurück, die Kleider alle nass, und ging eine schattige Gasse hinunter. Bei der Kurve unter dem Mangobaum traf ich meinen Guru Thakur. Er hatte sein Handtuch auf der Schulter und, während er zu seinem Bad ging, wiederholte er Sanskrit-Verse. Mit meinen nassen Kleidern, die an mir klebten, schämte ich mich, ihm zu begegnen. Ich versuchte, schnell vorbeizugehen, um nicht gesehen zu werden. Er sprach mich mit meinem Namen an.
 
Ich hielt an, senkte meine Augen und schrumpfte in mich zusammen. Er fixierte seinen Blick auf mich, und sagte: ‚Wie schön dein Körper ist!’
 
Die gesamte Vogelwelt schien oben in den Zweigen in Gesang auszubrechen. Alle Büsche in der Gasse schienen vor Blüten zu lodern. Es war, als wenn Himmel und Erde und alles andere zu einem Aufstand berauschter Freude geworden waren.
 
Ich kann nicht sagen, wie ich nach Hause gelangte. Ich erinnere mich nur, dass ich in den Raum stürmte, wo wir Gott anbeten. Aber das Zimmer war leer. Allein vor meinen Augen tanzten dieselben goldenen Muster, die in jener schattigen Gasse auf meinem Rückweg vom Fluss vor mir gezittert hatten.
 
An diesem Tag kam Guru Thakur, um sein Essen zu sich zu nehmen, und fragte meinen Gemahl, wo ich hingegangen sei. Er suchte nach mir, konnte mich aber nirgendwo finden.
 
Ah! Die Erde von damals habe ich nun nicht mehr. Jenes Sonnenlicht gehört mir nicht. In meinem Schrecken rief ich zu Gott, aber Er hielt Sein Gesicht von mir abgewendet.
 
Der Tag verging, wie, weiß ich nicht. In dieser Nacht musste ich mit meinem Mann zusammenkommen. Aber die Nacht ist dunkel und still. In dieser Zeit geht der Geist meines Gemahls auf und scheint, wie Sterne in der Dämmerung. Ich hatte ihn im Dunkeln Dinge sprechen hören und war überrascht gewesen herauszufinden, wie tief er verstand.
 
Manchmal komme ich wegen der Hausarbeit erst spät am Abend zur Ruhe. Dann wartet mein Gemahl auf mich, am Boden sitzend, ohne zu Bett zu gehen. Unsere Gespräche zu solcher Zeit hatten oft Guru Thakur zum Anlass.
 
In dieser Nacht kam ich erst nach Mitternacht in mein Zimmer und fand meinen Mann auf dem Fußboden schlafend vor. Ohne ihn zu stören, legte ich mich zu seinen Füßen auf den Boden, den Kopf zu ihm gerichtet. Einmal streckte er im Schlaf seine Füße und schlug mich an die Brust. Das war seine letztes Geschenk.
 
Als mein Mann am nächsten Morgen aus seinem Schlaf aufwachte, saß ich bereits bei ihm. Draußen vor dem Fenster erschien über dem Dickicht des Jackfruchtbaums am Rand der Nacht das erste blasse Rot der Dämmerung. Es war so früh, die Krähen hatten noch nicht angefangen zu rufen.
 
Ich verbeugte mich und berührte die Füße meines Gemahls mit der Stirn. Er fuhr hoch und setzte sich hin, als ob er aus einem Traum erwacht wäre, und sah erstaunt auf mein Gesicht. Ich sagte: ‚Ich habe nachgedacht. Ich muss diese Welt verlassen. Ich kann nicht länger zu dir gehören. Ich muss dein Haus verlassen.‘
 
Vielleicht dachte mein Mann, er würde noch träumen. Er sagte kein Wort.
 
‚Ah! Höre mich an!’,  flehte ich mit unendlichem Schmerz, ‚Hör mich an und verstehe! Du musst eine andere Frau heiraten. Ich muss meinen Abschied nehmen.’
 
Mein Mann sagte: ‚Was soll all dieses wilde, verrückte Gerede? Wer sagt, dass du die Welt verlassen sollst?’
 
Ich sagte: ‚Mein Guru Thakur.’
 
Mein Gemahl blickte verwirrt. ‚Guru Thakur!’, schrie er, ‚Wann gab er dir diesen Rat?’
‚Am Morgen’, antwortete ich, ‚Gestern, als ich ihm auf dem Rückweg vom Fluss begegnete.’
 
Seine Stimme zitterte ein wenig. Er drehte sich, sah mir ins Gesicht und sagte: ‚Warum gab er dir solches Geheiß?’
‚Ich weiß nicht’, antwortete ich, ‚Frag ihn! Er wird es dir selbst sagen, wenn er kann.’
 
Mein Mann sprach: ‚Es ist möglich, die Welt zu verlassen, auch wenn man weiter in ihr lebt. Du brauchst mein Haus nicht zu verlassen. Ich werde meinen Guru darauf ansprechen.’
‚Dein Guru’, sagte ich, mag dein Gesuch annehmen; aber mein Herz wird niemals seine Zustimmung geben. Ich muss dein Haus verlassen. Von jetzt an ist die Welt nicht mehr für mich.’
 
Mein Gatte blieb still, und wir saßen da auf dem Boden im Dunkeln. Als es hell wurde, sagte er zu mir: ‚Lass uns beide zu ihm gehen.’
 
Ich faltete meine Hände und sagte: ‚Ich werde ihm nie wieder begegnen.’
 
Er sah mich an. Ich senkte meine Augen. Er sagte nichts mehr. Ich wusste, irgendwie hatte er in meinen Geist gesehen und verstanden, was dort war. In dieser meiner Welt gab es nur zwei, die mich wirklich liebten – mein Junge und mein Mann. Diese Liebe war mein Gott, und daher konnte sie keine Unwahrheit ertragen. Der eine der beiden verließ mich, und ich verließ den anderen. Jetzt muss ich Wahrheit haben, und nur die Wahrheit.”
 
Sie berührte den Boden zu meinen Füßen, stand auf, verbeugte sich vor mir und ging.







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Fußnoten

[1]  Spiritueller Meister

[2]  Treppenkonstruktion am Flussufer

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