Sie
war die Prinzessin Adschita. Und der Sänger des
Königs Narajan hatte sie nie gesehen. Wenn er dem Könige ein neues Lied
vortrug, dann erhob er seine Stimme immer genau so weit, daß
unsichtbare Hörer
hinter den Vorhängen des Balkons hoch oben über der Halle sie vernehmen
konnten. Er sandte sein Lied hinauf zu dem fernen Sternenlande, wo der
Planet, der
sein Schicksal beherrschte, lichtumflossen thronte, unbekannt und
unerreichbar
seinem Blick.
Bisweilen
erspähte er einen Schatten, der sich hinter
dem Vorhang bewegte. Oder sein Ohr vernahm einen leisen, fernen Klang,
und er
träumte von den Fußspangen, deren goldene Glöckchen jeden Schritt mit
Gesang
begleiteten. Ach, die rosigen zarten Füße, die über den Staub der Erde
hinschwebten und ihn segneten wie Gottes Gnade die Sünder! Der Dichter
hatte sie auf den Altar seines Herzens gestellt, wo er zum
Ton jener goldenen Glocken seine Lieder wob. Niemals stieg ein Zweifel
darüber
in seiner Seele auf, wessen Schatten es war, der sich hinter dem
Vorhang
bewegte, und wessen Fußspangen zu dem Takt seines pochenden Herzens
erklangen.
Mandschari,
das Mädchen der Prinzessin, kam jeden Tag
auf ihrem Wege zum Fluß an dem Hause des Dichters vorbei, und sie
versäumte
nie, verstohlen ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Wenn die Straße
leer war
und die Dämmerung ihren Schatten über das Land breitete, dann trat sie
kühn in
sein Zimmer und setzte sich auf eine Ecke seines Teppichs. Und es
schien wohl,
daß sie mit besonderer Sorgfalt die Farbe ihres Schleiers und die Blume
für ihr
Haar gewählt hatte.
Die
Leute lächelten darüber und flüsterten allerlei,
und man konnte sie deswegen nicht tadeln. Denn der Dichter Schekhar gab
sich
keine Mühe zu verbergen, daß diese Begegnungen eine Quelle reiner
Freude für
ihn waren.
Ihr
Name bedeutete: Blütensträußchen. Jeder muß
zugeben, daß dies ein lieblicher Name ist für ein
gewöhnliches sterbliches Wesen. Aber Schekhar genügte er noch nicht,
und er
nannte sie Frühlingsblütensträußchen. Und die gewöhnlichen Sterblichen
schüttelten den Kopf und sagten: Ach, du lieber Himmel!
In
den Frühlingsliedern, die der Dichter sang,
wiederholte sich auffallend oft das Lob der Frühlingsblütensträußchen.
Der
König lächelte und blinzelte ihn bedeutungsvoll an, wenn er es hörte,
und dann
lächelte der Dichter auch.
Der
König fragte ihn wohl manchmal: „Hat die Biene
nichts anderes zu tun, als im Hof des Frühlings umherzusummen?“
Dann
antwortete der Dichter: „O doch, sie muß auch den
Honig von den Frühlingsblütensträußchen nippen.“
Und
alle, die in der Halle des Königs waren, lachten.
Und man sagte, auch die Prinzessin Adschita habe gelacht, daß ihr
Mädchen den
Namen angenommen, den der Dichter ihr gegeben, und Mandschari war
heimlich im
Herzen froh.
So
vermischt sich im Leben Wahrheit und Irrtum –
und zu dem, was Gott baut, fügt der Mensch seinen eigenen Zierat.
Nur
das, was der Dichter
sang, war reine Wahrheit. Er sang von Krischna, dem göttlichen
Liebenden, und
von Radha, der Geliebten, dem ewig Männlichen und ewig Weiblichen; er
sang von
dem Leid, das so alt ist wie die Zeit selbst, und von der Freude, die
nie enden
wird. Und jeder, vom Bettler bis zum König selbst, erprobte die
Wahrheit dieser
Lieder in seinem innersten Herzen. Die Lieder des Dichters waren auf
aller
Lippen. Beim fernsten Mondenschimmer und beim leisesten Flüstern der
Sommerbrise brachen seine Lieder in zahllosen Stimmen hervor aus
Fenstern und
Höfen, aus den Segelboten auf dem Fluß und aus den Schatten der Bäume
am Wege.
So
rannen die Tage glücklich dahin. Der Sänger sang,
der König lauschte seinem Lied, und die Zuhörer riefen Beifall.
Mandschari kam
immer wieder auf ihrem Wege zum Fluß an dem Hause des Dichters
vorüber –
der Schatten huschte oben hinter dem Vorhang des Balkons, und die
goldenen
Glöckchen erklangen von fern.
Gerade
um dieselbe Zeit verließ ein Sänger sein Heim
im Süden, um seinen Triumphzug durch die Länder anzutreten. Er kam ins
Königreich Amarapur zum Könige Narajan. Er stand vor dem
Thron und sang ein Lied zum Lobe des Königs. Er hatte alle königlichen
Sänger
auf seinem Wege zum Wettkampf herausgefordert, und überall war er
Sieger
geblieben.
Der
König empfing ihn ehrenvoll und sagte: „Dichter,
ich biete dir Willkommen.“
Pundarik,
der Dichter, erwiderte stolz: „Majestät, ich
bitte um Kampf.“
Schekhar,
der Sänger des Königs, wußte nicht, wie der
Musenkampf geführt werden sollte. Er konnte in der Nacht nicht
schlafen. Immer
tauchte vor ihm im Dunkel die mächtige Gestalt des berühmten Pundarik
auf mit
seinem etwas zur Seite geneigten stolzen Haupt und der wie ein Säbel
gekrümmten
Nase.
Mit
zitterndem Herzen betrat Schekhar am folgenden
Morgen die Arena. Das Theater war von der Volksmenge gefüllt.
Der
Dichter verbeugte sich mit schüchternem Lächeln
vor seinem Nebenbuhler. Pundarik dankte mit stolzem Kopfnicken und
wandte dann
den Blick mit vielsagendem Lächeln nach dem Kreise seiner ihn
begleitenden
Verehrer.
Schekhar
sah hinauf nach
dem verhängten Balkon, und seine Seele grüßte die Geliebte mit dem
Worte: Wenn
ich heute Sieger bin in diesem Kampf, Geliebte, so soll dein
siegreicher Name
gepriesen werden.
Die
Trompete erscholl. Die Menge erhob sich und rief:
„Sieg dem Könige!“ Der König trat, in einen weiten, weißen Mantel
gehüllt,
langsam in die Halle, wie eine Herbstwolke, und setzte sich auf den
Thron.
Pundarik
trat vor, und es ward plötzlich still in der
großen Halle. Das Haupt erhoben, die Brust gedehnt, begann er mit
Donnerstimme
den König Narajan zu preisen. Seine Worte brandeten wie Wogen gegen die
Mauern
der Halle und schienen der lauschenden Menge bis ins Mark zu dringen.
Die
Geschicklichkeit, mit der er den Namen Narajan auf verschiedene Weise
deutete
und jeden Buchstaben in allen möglichen Verbindungen durch das Gewebe
seiner
Verse flocht, nahm seinen erstaunten Hörern den Atem.
Nachdem
er wieder Platz genommen hatte, hallte noch
minutenlang seine Stimme zwischen den zahllosen Säulen der königlichen
Halle und in Tausenden von sprachlosen Herzen nach.
Die gelehrten Professoren, die aus fernen Ländern gekommen waren,
erhoben ihre
Rechte und riefen: Bravo!
Der
König warf einen Blick auf Schekhar, und dieser
richtete einen Augenblick die Augen schmerzerfüllt auf seinen Herrn;
dann erhob
er sich wie ein angeschossenes Wild in höchster Not. Sein Antlitz war
bleich,
seine Schüchternheit war fast die eines Mädchens, seine schlanke,
jugendliche
Gestalt schien wie eine straff gespannte Leier bei der geringsten
Berührung in
Musik ausbrechen zu wollen.
Er
begann gesenkten Hauptes, mit leiser Stimme. Die
ersten Verse waren fast unhörbar. Dann hob er langsam das Haupt und
seine
klare, süße Stimme stieg wie eine zitternde Feuerflamme in die Lüfte.
Er
begann mit der alten Sage aus dunkler Vorzeit von
dem Geschlecht des Königs und erzählte von dem Heldensinn und dem
unvergleichlichen Edelmut dieses Geschlechts bis hinab in die
Gegenwart. Er
richtete den Blick auf das Antlitz des Königs, und die ganze
unermeßliche Liebe
zum Königshause, die das Volk still im Herzen hegte,
fand Ausdruck und stieg wie Weihrauch in seinem Liede auf, den Thron
von allen
Seiten einhüllend. Dies waren seine letzten Worte, als er sich zitternd
setzte:
„Herr, wohl mag man mich im Spiel der Worte übertreffen, aber niemals
in meiner
Liebe zu dir.“
Tränen
füllten die Augen der Hörer, und die
Steinmauern erbebten von dem Beifallssturm.
Doch
Pundarik schüttelte bei diesem allgemeinen
Gefühlsausbruch nur erhaben sein majestätisches Haupt. Dann erhob er
sich und
warf mit verächtlichem Lächeln die Frage in die Versammlung: „Was gibt
es
Höheres als das Wort?“ Augenblicklich verstummte der Beifall.
Und
nun bewies er, indem er eine erstaunliche
Gelehrsamkeit entfaltete, daß das Wort von Anfang an gewesen sei, daß
das Wort
Gott sei. Er brachte einen Haufen von Belegen aus den heiligen
Schriften und
errichtete daraus dem Wort einen hohen Altar, daß es darauf throne über
allem,
was im Himmel und auf Erden ist. Er wiederholte mit seiner mächtigen
Stimme:
„Was gibt es Höheres als das Wort?“
Stolz
blickte er um sich. Niemand wagte, seine
Herausforderung anzunehmen, und er setzte sich,
langsam wie ein Löwe, der sich eben an seinem Opfer gesättigt hat. Die
gelehrten Brahmanen riefen: „Bravo!“ Der König war stumm vor Staunen,
und der
Dichter Schekhar kam sich ganz unbedeutend vor neben dieser
verblüffenden
Gelehrsamkeit. Die Versammlung war damit für den Tag geschlossen.
Am
nächsten Tage stimmte Schekhar sein Lied an. Er
sang von jenem Tage, wo das Flötenspiel der Liebe zum ersten Mal die
Lüfte des
Brindawaldes aus ihrem Schweigen aufschreckte. Die Schäferinnen wußten
nicht,
wer der Spieler war und von woher die Musik kam. Bald schien sie aus
dem Herzen
des Südwindes zu kommen, und bald aus den Wolken, die über die Hügel
hinzogen.
Sie kam und brachte Liebesbotschaft vom Lande des Sonnenaufgangs, und
sie
schwebte mit Seufzern der Sehnsucht vom Tal des Sonnenuntergangs her.
Die
Sterne schienen die Register des geheimnisvollen Instruments zu sein,
das die
Träume der Nacht mit Melodien überflutete. Es war, als ob die Musik
plötzlich
von allen Seiten heranströmte, von Feldern und Hainen, von schattigen
Heckenwegen und einsamen Landstraßen, aus dem zarten Blau
des Himmels und aus dem schimmernden Grün des Grases. Sie verstanden
ihren Sinn
noch nicht und wußten nicht, was die Sehnsucht in ihrem Herzen
bedeutete. Ihre
Augen füllten sich mit Tränen, und ihr Leben sehnte sich,
hinabzutauchen ins
Meer des Todes und sich ganz darin zu verlieren.
Schekhar
vergaß seine Hörer, vergaß, daß er dabei war,
sich im Kampf mit seinem Nebenbuhler zu messen. Er stand ganz allein
inmitten
seiner Gedanken, die um ihn rauschten und flüsterten wie Blätter im
Sommerwind,
und er sang das Lied von der Flöte. Vor seinem Geiste stand ein
Bildnis, das
geboren war aus einem Schatten und aus dem leise klingenden Laut eines
fernen
Schrittes.
Er
setzte sich. Ein unnennbares Gefühl wehmütiger
Wonne, unbestimmt und grenzenlos, durchbebte die Hörer, und sie
vergaßen, ihm
Beifall zu rufen. Als sich die Wogen dieses Gefühls legten, trat
Pundarik vor
den Thron und forderte seinen Nebenbuhler auf zu erklären, wer der
Liebende und
wer die Geliebte sei. Er blickte stolz und selbstbewußt um sich,
lächelte seinen Anhängern zu und fragte noch einmal: „Wer
ist Krischna, der Liebende, und wer ist Radha, die Geliebte?“
Dann
begann er, die Etymologie dieser Namen zu
erklären, und wie man ihre Bedeutung auf verschiedene Weise auslegen
könne. Mit
vollendeter Geschicklichkeit brachte er alle die verwickelten Systeme
der
verschiedenen philosophischen Schulen vor die ganz betäubten Zuhörer.
Jeden
Buchstaben jener Namen trennte er von seinem Nachbarn und hetzte sie
alle
einzeln mit unbarmherziger Logik, bis sie vernichtet in den Staub
sanken. Doch
dann griff er sie wieder auf und gab ihnen eine ganz neue Bedeutung,
auf die
auch der scharfsinnigste Wortkrämer nicht verfallen wäre.
Die
Gelehrten waren in Ekstase; laut lärmten sie
Beifall, und die Menge stimmte ein, von dem Wahn hingerissen, daß jetzt
eben
hier vor ihren Augen durch ein Wunder von Intellekt der Vorhang vor der
Wahrheit bis auf den letzten Faden zerrissen worden sei. Diese
gewaltige
Leistung entzückte sie so, daß sie ganz vergaßen, zu fragen, ob denn
die
Wahrheit nun auch wirklich hinter diesem Vorhang war.
Der
König war von Staunen
überwältigt. Die Luft war von allen Musikträumen vollständig gereinigt,
und die
Welt, die vorher im frischen jungen Grün dagelegen hatte, hatte sich in
eine
solide, gut gepflasterte Landstraße verwandelt.
Dem
versammelten Volk erschien ihr Dichter jetzt wie
ein bloßer Knabe an der Seite jenes Riesen, der so sicher dahinschritt
durch
die Welt der Worte und Gedanken und alle Schwierigkeiten mit einem
Tritt zu
Boden stampfte. Zum erstenmal wurde es ihnen klar, daß die Dichtungen
Schekhars
lächerlich einfach waren, und daß sie sie ebenso gut selbst hätten
schreiben
können. Sie waren weder neu, noch schwer verständlich, noch belehrend,
noch
unentbehrlich.
Der
König versuchte heimlich durch scharfe Blicke
seinen Dichter zu einem letzten Versuch anzuspornen. Aber Schekhar
beachtete es nicht und blieb stumm auf seinem
Platz sitzen.
Da
stand der König zornig auf von seinem Thron –
nahm seine Perlenkette ab und legte sie Pundarik um das Haupt. Alle in
der
Halle riefen Beifall. Oben vom Balkon her kam ein leises
Geräusch, wie das Rauschen eines Gewandes und der Klang von goldenen
Glöcklein.
Schekhar erhob sich und verließ die Halle.
Die
Nacht war dunkel, die Sichel des abnehmenden
Mondes gab nur ein mattes Licht. Der Dichter Schekhar nahm seine
Manuskripte
aus dem Schrank und häufte sie auf dem Fußboden auf. Einige davon
enthielten
seine ersten Dichtungen, die er fast vergessen hatte. Er blätterte
darin und
las hier und da eine Seite. Sie schienen ihm alle so unbedeutend und
armselig,
bloße Worte und kindische Reime.
Er
zerriß seine Bücher eins nach dem andern und warf
sie ins Feuer, indem er sagte: „Dir, dir will ich sie weihen, o meine
Schönheit, mein Feuer! Du hast all diese verlorenen Jahre in meinem
Herzen
gebrannt. Wenn mein Leben ein Stück Gold gewesen wäre, so wäre es
strahlender
aus dieser Feuerprobe hervorgegangen. Aber es ist eine zertretene
Rasenscholle
und nichts bleibt von ihm übrig als diese Handvoll Asche.“
Die
Nacht rückte langsam vor. Schekhar öffnete seine
Fenster weit. Er breitete auf seinem Lager die weißen Blumen aus, die
er so liebte: Jasminblüten, Tuberosen und Chrysanthemen,
brachte alles, was er an Lampen im Hause hatte, in sein Schlafzimmer
und
zündete sie an. Dann vermischte er den Saft einer giftigen Wurzel mit
Honig,
trank ihn und legte sich auf sein Lager.
Da
erklangen draußen im Korridor goldene Fußspangen
und die Brise trug einen feinen Duft ins Zimmer.
Der
Dichter hatte die Augen geschlossen. „Meine
Herrin,“ flüsterte er, „hast du endlich Erbarmen mit deinem Diener und
kommst
zu ihm?“
Eine
süße Stimme antwortete: „Mein Dichter, ich bin
da.“
Schekhar
öffnete die Augen und sah an seinem Lager die
Gestalt einer Frau. Er konnte nur noch wie durch einen Nebel sehen. Und
es
schien ihm, daß das aus dem Schatten geborene Bildnis, das er so lange
im
geheimen Schrein seines Herzens bewahrt hatte, jetzt in seinem letzten
Augenblick in die Welt hinausgekommen war, um ihm ins Antlitz zu sehen.
Die
Gestalt sagte: „Ich bin die Prinzessin Adschita.“
Mit äußerster Anstrengung richtete sich der Dichter von seinem Lager
auf.
Die
Prinzessin flüsterte
ihm ins Ohr: „Der König hat dir nicht Gerechtigkeit widerfahren lassen.
Du
warst es, mein Dichter, der den Kampf gewann, und ich bin gekommen, um
dich mit
dem Siegeskranz zu krönen.“
Damit
nahm sie den Blumenkranz von ihrem Haar und
setzte ihn dem Dichter aufs Haupt, und der Dichter sank tot auf sein
Lager
zurück.