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Literatur


04.3

Das Kartenkönigreich
Erzählungen

Rabindranath Tagore




Das Kartenkönigreich - Seite 2

V

Bis dahin hatten die Königinnen der Piks und Treffs und Karos und Herzen immer hinter einem Vorhang gesessen und ins Leere gestarrt oder den Blick zu Boden gesenkt.
 
Und jetzt geschah es plötzlich an einem Frühlingsnachmittag, daß Herzkönigin einen Augenblick die dunklen Wimpern hob und verstohlen vom Balkon aus einen schnellen Blick auf den Prinzen warf.
 
„Großer Gott,“ rief der Prinz, „ich dachte, das wären alles nur gemalte Figuren. Aber ich habe mich geirrt. Es sind doch Frauen.“
 
Nun rief der junge Prinz seine beiden Gefährten zu sich und sagte in nachdenklichem Ton: „Meine Kameraden! Diese Damen haben einen Zauber, den ich nie zuvor bemerkt habe. Als ich den Blick aus den dunklen Augen der Königin sah, wie sie in einem neuen Gefühl aufleuchteten, da erschien er mir wie der erste leise Dämmerstrahl in einer neu erschaffenen Welt.“
 
Die beiden Gefährten tauschten ein vielsagendes Lächeln und sagten: „Wirklich, Prinz?“
 
Mit der armen Herzkönigin aber wurde es von diesem Tag an immer schlimmer. Sie fing an, alle Regeln zu vergessen, so daß es wirklich eine Schande war. Wenn sie zum Beispiel ihren Platz in der Reihe neben dem Buben hatte, so befand sie sich plötzlich statt dessen ganz zufällig an der Seite des Prinzen. Dann sagte der Bube mit unbeweglicher Miene und in feierlichem Ton: „Königin, Ihr habt Euch geirrt.“
 
Und die roten Wangen der armen Herzkönigin röteten sich noch tiefer. Aber der Prinz kam ihr ritterlich zu Hilfe und sagte: „Nein, es ist kein Irrtum. Von heute ab bin ich Bube.“
 
Nun geschah es aber, daß die andern, während jeder versuchte, die Unschicklichkeiten der schuldigen Herzkönigin zu verbessern, selbst anfingen, Fehler zu machen. Die Asse sahen sich von den Königen beiseite gedrängt. Die Buben gerieten unter die Könige. Die Neune und Zehne gaben sich ein Ansehen, als ob sie zu den großen Hofkarten gehörten. Die Zweie und Dreie wurden dabei ertappt, wie sie heimlich die Plätze einnahmen, die für die Viere und Fünfe reserviert waren. Es hatte nie vorher solch ein wirres Durcheinander gegeben.
 
Schon viele Lenze waren über die Karteninsel hingezogen. Der Kokil, der Frühlingsvogel, hatte Jahr für Jahr seinen Sang ertönen lassen. Aber er hatte nie wie jetzt das Blut in Erregung gebracht. In vergangenen Tagen hatte das Meer unermüdlich sein Lied gesungen. Aber da hatte es ihnen nur das ewige Einerlei der Regel wiederholt. Nun aber verkündeten seine Wellen plötzlich mit glitzerndem Licht und leuchtenden Schatten und Tausenden von Stimmen das tiefste Sehnen des liebenden Herzens.
 
VI

Wohin sind nun plötzlich die korrekten, runden, regelmäßigen, selbstzufriedenen Gesichter? Hier ist ein Antlitz, blaß vor Liebessehnsucht. Hier ist ein Herz, das in wilder Qual pocht. Hier ist ein Geist, der sich in Zweifeln zermürbt. Musik und Seufzer, Lächeln und Tränen füllen die Luft. Das Leben pulsiert, Herzen brechen, Leidenschaften flackern auf.
 
Jeder denkt jetzt an sein eigenes Aussehen und vergleicht sich mit andern. Treff-As überlegt bei sich, daß Pik-König wohl ganz passabel aussieht. „Aber,“ meint er, „man braucht nur zu sehen, wie sich alle Blicke auf mich richten, wenn ich die Straße entlang gehe.“ Pik-König sagt: „Was in aller Welt hat Treff-As sich immer den Hals zu verrenken und wie ein Pfau einherzustolzieren? Er bildet sich ein, daß alle Königinnen vor Liebe zu ihm sterben, während in Wahrheit – –“ Hier schweigt er und wirft einen prüfenden Blick in den Spiegel.
 
Aber die Königinnen waren die schlimmsten von allen. Sie fingen an, ihre ganze Zeit damit hinzubringen, daß sie sich auffällig herausputzten. Und die boshaften Bemerkungen, die sie übereinander machten, waren wahrhaft skandalös.
 
Die Jünglinge saßen teilnahmlos im Laube unter den Bäumen und streckten sich im Waldesschatten aus. Und die jungen Mädchen in hellblauen Kleidern kamen wie zufällig zu denselben Schatten derselben Bäume desselben Waldes und taten, als ob sie niemanden dort sähen, und sahen möglichst unschuldig aus, als ob sie weiter nichts suchten. Und dann wagte ein junger Mann, der dreister war als die andern, in einem Anfall von Tollheit, sich einem Mädchen in Blau zu nähern. Aber als er näher kam, versagte ihm die Sprache. Er stand da, stumm und verwirrt, und der günstige Augenblick ging vorüber.
 
Die Kokils sangen oben in den Zweigen. Der boshafte Südwind blies; er zerzauste ihnen das Haar und machte ihr Blut schneller kreisen. Das Laub der Bäume rauschte in Entzücken. Und der nie verstummende Gesang des Meeres schaukelte all das heimliche Sehnen der jungen Herzen auf der Springflut der Liebe hin und her.

Die drei Gefährten hatten in die ausgetrockneten Kanäle des Kartenkönigreichs die volle Hochflut eines neuen Lebens gebracht.
 
VII
 
Und nun trat, obgleich die Flut hoch ging, eine Pause ein, als ob die steigenden Wogen nicht in Schaum zerfallen, sondern immer geschwellt bleiben wollten. Man sprach sich nicht in Worten aus, man ging nur vorsichtig einen Schritt vorwärts und wich dann zwei zurück. Alle schienen damit beschäftigt, ihre unerfüllten Wünsche wie Luftschlösser oder Sandburgen aufzutürmen. Sie waren blaß und stumm, ihre Augen brannten, ihre Lippen zitterten von unausgesprochenen Geheimnissen.
 
Der Prinz sah, was ihnen fehlte. Er rief alle Inselbewohner zusammen und sagte:
 
„Bringt die Flöten und die Zimbeln, die Pfeifen und die Trommeln. Laßt sie allesamt ertönen und erhebt lautes Freudengeschrei. Denn Herz-Königin wird noch heute abend ihren Gemahl wählen.“
 
Und die Zehne und Neune begannen ihre Flöten und Pfeifen zu blasen; die Achte und Siebene bliesen ihre Posaunen und spielten ihre Bratschen, und selbst die Zweie und Dreie begannen wild ihre Trommeln zu schlagen.
 
Als dieser lärmende Sturm von Musik sich erhob, fegte er mit einem Stoß alles Seufzen und allen Trübsinn hinweg. Und nun, welch ein Strom von Lachen und Reden! Es gab kühnes Werben und spottendes Weigern und Plaudern und Schwatzen und Spaß und Fröhlichkeit. Es war wie das Zittern und Schwanken und Rauschen und Brausen von Millionen von Blättern und Zweigen tief drinnen im Urwald, wenn der Sommersturm hindurchfährt.
 
Aber Herz-Königin im rosenroten Gewande saß still im Schatten ihrer verschwiegenen Laube und horchte auf den tobenden Lärm der Musik und der Fröhlichkeit, der immer näher kam. Sie schloß die Augen und träumte ihren Liebestraum. Und als sie sie wieder öffnete, sah sie den Prinzen zu ihren Füßen sitzen und zu ihr aufblicken. Da bedeckte sie ihr Gesicht mit beiden Händen und wich zurück, in dem freudigen Aufruhr ihres Innern erzitternd.
 
Und der Prinz verbrachte den ganzen Tag allein, an der Küste des wogenden Meeres hinwandelnd. Er sah immer diesen erschreckten Blick, dieses Zurückbeben der Königin, und in seinem Herzen pochte die Hoffnung laut.
 
Am Abend warteten die buntgekleideten Reihen der Jünglinge und Mädchen dicht gedrängt und mit lächelnden Gesichtern vor den Toren des Palastes. Die Halle war feenhaft erleuchtet und mit Girlanden von Frühlingsblumen geschmückt. Langsam trat Herz-Königin ein, und die ganze Versammlung erhob sich, sie zu begrüßen. Einen Jasminkranz in der Hand, stand sie gesenkten Blickes vor dem Prinzen. In ihrer demütigen Schüchternheit konnte sie den Kranz kaum zu dem Nacken des Bräutigams, den sie gewählt hatte, erheben. Aber der Prinz neigte sein Haupt, und der Kranz glitt an seinen Platz. Die Versammlung der Jünglinge und Mädchen hatte in lautloser Spannung ihre Wahl erwartet. Und als sie gewählt hatte, brach ein Sturm toller Freude los und brauste durch die Halle und tönte über die ganze Insel hin bis hinaus zu den Schiffen weit draußen auf dem Meere. Niemals hatte es im Kartenkönigreich je solchen Jubel gegeben.
 
Und sie hoben den Prinzen und seine Braut auf ihre Schultern und setzten sie auf den Thron und krönten sie auf der Stelle – auf der alten Karteninsel.
 
Und die kummervolle Königin-Mutter auf der fernen Insel jenseits des Meeres kam in einem goldgeschmückten Schiffe zu dem neuen Königreich ihres Sohnes gefahren.
 

Und die Bürger werden nicht mehr von Regeln geleitet, sondern sind gut oder schlecht oder beides, je nach ihrer Itscha.







 
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