Das
Kartenkönigreich - Seite 2
Bis dahin hatten die
Königinnen der Piks und Treffs
und Karos und Herzen immer hinter einem Vorhang gesessen und ins Leere
gestarrt
oder den Blick zu Boden gesenkt.
Und
jetzt geschah es plötzlich an einem
Frühlingsnachmittag, daß Herzkönigin einen Augenblick die dunklen
Wimpern hob
und verstohlen vom Balkon aus einen
schnellen Blick
auf den Prinzen warf.
„Großer
Gott,“ rief der Prinz, „ich dachte, das wären
alles nur gemalte Figuren. Aber ich habe mich geirrt. Es sind doch
Frauen.“
Nun
rief der junge Prinz seine beiden Gefährten zu
sich und sagte in nachdenklichem Ton: „Meine Kameraden! Diese Damen
haben einen
Zauber, den ich nie zuvor bemerkt habe. Als ich den Blick aus den
dunklen Augen
der Königin sah, wie sie in einem neuen Gefühl aufleuchteten, da
erschien er
mir wie der erste leise Dämmerstrahl in einer neu erschaffenen Welt.“
Die
beiden Gefährten tauschten ein vielsagendes
Lächeln und sagten: „Wirklich, Prinz?“
Mit
der armen Herzkönigin aber wurde es von diesem Tag
an immer schlimmer. Sie fing an, alle Regeln zu vergessen, so daß es
wirklich
eine Schande war. Wenn sie zum Beispiel ihren Platz in der Reihe neben
dem
Buben hatte, so befand sie sich plötzlich statt dessen ganz zufällig an
der
Seite des Prinzen. Dann sagte der Bube mit unbeweglicher Miene und in
feierlichem Ton: „Königin, Ihr habt Euch geirrt.“
Und
die roten Wangen der
armen Herzkönigin röteten sich noch tiefer. Aber der Prinz kam ihr
ritterlich
zu Hilfe und sagte: „Nein, es ist kein Irrtum. Von heute ab bin ich
Bube.“
Nun
geschah es aber, daß die andern, während jeder
versuchte, die Unschicklichkeiten der schuldigen Herzkönigin zu
verbessern,
selbst anfingen, Fehler zu machen. Die Asse sahen sich von den Königen
beiseite
gedrängt. Die Buben gerieten unter die Könige. Die Neune und Zehne
gaben sich
ein Ansehen, als ob sie zu den großen Hofkarten gehörten. Die Zweie und
Dreie
wurden dabei ertappt, wie sie heimlich die Plätze einnahmen, die für
die Viere
und Fünfe reserviert waren. Es hatte nie vorher solch ein wirres
Durcheinander
gegeben.
Schon
viele Lenze waren über die Karteninsel
hingezogen. Der Kokil, der Frühlingsvogel, hatte Jahr für Jahr seinen
Sang
ertönen lassen. Aber er hatte nie wie jetzt das Blut in Erregung
gebracht. In
vergangenen Tagen hatte das Meer unermüdlich sein Lied gesungen. Aber
da hatte
es ihnen nur das ewige Einerlei der Regel wiederholt. Nun aber
verkündeten
seine Wellen
plötzlich mit glitzerndem Licht und
leuchtenden Schatten und Tausenden von Stimmen das tiefste Sehnen des
liebenden
Herzens.
Wohin sind nun plötzlich
die korrekten, runden,
regelmäßigen, selbstzufriedenen Gesichter? Hier ist ein Antlitz, blaß
vor
Liebessehnsucht. Hier ist ein Herz, das in wilder Qual pocht. Hier ist
ein
Geist, der sich in Zweifeln zermürbt. Musik und Seufzer, Lächeln und
Tränen
füllen die Luft. Das Leben pulsiert, Herzen brechen, Leidenschaften
flackern
auf.
Jeder
denkt jetzt an sein eigenes Aussehen und
vergleicht sich mit andern. Treff-As überlegt bei sich, daß Pik-König
wohl ganz
passabel aussieht. „Aber,“ meint er, „man braucht nur zu sehen, wie
sich alle
Blicke auf mich richten, wenn ich die Straße entlang gehe.“ Pik-König
sagt:
„Was in aller Welt hat Treff-As sich immer den Hals zu verrenken und
wie ein
Pfau einherzustolzieren? Er bildet sich ein, daß alle Königinnen vor
Liebe zu
ihm sterben, während in Wahrheit – –“ Hier schweigt er und
wirft
einen prüfenden Blick in den Spiegel.
Aber
die Königinnen waren
die schlimmsten von allen. Sie fingen an, ihre ganze Zeit damit
hinzubringen,
daß sie sich auffällig herausputzten. Und die boshaften Bemerkungen,
die sie
übereinander machten, waren wahrhaft skandalös.
Die
Jünglinge saßen teilnahmlos im Laube unter den
Bäumen und streckten sich im Waldesschatten aus. Und die jungen Mädchen
in
hellblauen Kleidern kamen wie zufällig zu denselben Schatten derselben
Bäume desselben
Waldes und taten, als ob sie niemanden dort sähen, und sahen möglichst
unschuldig aus, als ob sie weiter nichts suchten. Und dann wagte ein
junger
Mann, der dreister war als die andern, in einem Anfall von Tollheit,
sich einem
Mädchen in Blau zu nähern. Aber als er näher kam, versagte ihm die
Sprache. Er
stand da, stumm und verwirrt, und der günstige Augenblick ging vorüber.
Die
Kokils sangen oben in den Zweigen. Der boshafte
Südwind blies; er zerzauste ihnen das Haar und machte ihr Blut
schneller kreisen.
Das Laub der Bäume rauschte in Entzücken. Und der nie verstummende
Gesang des
Meeres schaukelte
all das heimliche Sehnen der
jungen Herzen auf der Springflut der Liebe hin und her.
Die drei Gefährten hatten
in die ausgetrockneten
Kanäle des Kartenkönigreichs die volle Hochflut eines neuen Lebens
gebracht.
Und
nun trat, obgleich die Flut hoch ging, eine Pause
ein, als ob die steigenden Wogen nicht in Schaum zerfallen, sondern
immer
geschwellt bleiben wollten. Man sprach sich nicht in Worten aus, man
ging nur
vorsichtig einen Schritt vorwärts und wich dann zwei zurück. Alle
schienen
damit beschäftigt, ihre unerfüllten Wünsche wie Luftschlösser oder
Sandburgen
aufzutürmen. Sie waren blaß und stumm, ihre Augen brannten, ihre Lippen
zitterten von unausgesprochenen Geheimnissen.
Der
Prinz sah, was ihnen fehlte. Er rief alle
Inselbewohner zusammen und sagte:
„Bringt
die
Flöten und die Zimbeln, die Pfeifen und die Trommeln. Laßt sie allesamt
ertönen
und erhebt lautes Freudengeschrei. Denn Herz-Königin wird noch heute
abend
ihren Gemahl wählen.“
Und
die Zehne und Neune
begannen ihre Flöten und Pfeifen zu blasen; die Achte und Siebene
bliesen ihre
Posaunen und spielten ihre Bratschen, und selbst die Zweie und Dreie
begannen
wild ihre Trommeln zu schlagen.
Als
dieser lärmende Sturm von Musik sich erhob, fegte
er mit einem Stoß alles Seufzen und allen Trübsinn hinweg. Und nun,
welch ein
Strom von Lachen und Reden! Es gab kühnes Werben und spottendes Weigern
und
Plaudern und Schwatzen und Spaß und Fröhlichkeit. Es war wie das
Zittern und
Schwanken und Rauschen und Brausen von Millionen von Blättern und
Zweigen tief
drinnen im Urwald, wenn der Sommersturm hindurchfährt.
Aber
Herz-Königin im rosenroten Gewande saß still im
Schatten ihrer verschwiegenen Laube und horchte auf den tobenden Lärm
der Musik
und der Fröhlichkeit, der immer näher kam. Sie schloß die Augen und
träumte
ihren Liebestraum. Und als sie sie wieder öffnete, sah sie den Prinzen
zu ihren
Füßen sitzen und zu ihr aufblicken. Da bedeckte sie ihr Gesicht mit
beiden
Händen und wich zurück, in dem freudigen Aufruhr ihres Innern
erzitternd.
Und
der Prinz verbrachte
den ganzen Tag allein, an der Küste des wogenden Meeres hinwandelnd. Er
sah
immer diesen erschreckten Blick, dieses Zurückbeben der Königin, und in
seinem
Herzen pochte die Hoffnung laut.
Am
Abend warteten die buntgekleideten Reihen der
Jünglinge und Mädchen dicht gedrängt und mit lächelnden Gesichtern vor
den
Toren des Palastes. Die Halle war feenhaft erleuchtet und mit Girlanden
von
Frühlingsblumen geschmückt. Langsam trat Herz-Königin ein, und die
ganze
Versammlung erhob sich, sie zu begrüßen. Einen Jasminkranz in der Hand,
stand
sie gesenkten Blickes vor dem Prinzen. In ihrer demütigen
Schüchternheit konnte
sie den Kranz kaum zu dem Nacken des Bräutigams, den sie gewählt hatte,
erheben. Aber der Prinz neigte sein Haupt, und der Kranz glitt an
seinen Platz.
Die Versammlung der Jünglinge und Mädchen hatte in lautloser Spannung
ihre Wahl
erwartet. Und als sie gewählt hatte, brach ein Sturm toller Freude los
und
brauste durch die Halle und tönte über die ganze Insel hin bis hinaus
zu den
Schiffen weit draußen auf dem Meere. Niemals
hatte
es im Kartenkönigreich je solchen Jubel gegeben.
Und
sie hoben den Prinzen und seine Braut auf ihre
Schultern und setzten sie auf den Thron und krönten sie auf der
Stelle –
auf der alten Karteninsel.
Und
die kummervolle Königin-Mutter auf der fernen
Insel jenseits des Meeres kam in einem goldgeschmückten Schiffe zu dem
neuen
Königreich ihres Sohnes gefahren.
Und
die Bürger werden nicht mehr von Regeln geleitet,
sondern sind gut oder schlecht oder beides, je nach ihrer Itscha.