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04.3
Geschichten - Jakob
Wassermann
Der Mann von 40 Jahren
Ein kleiner Roman - 1913
Der
Mann von 40 Jahren
Man
weiß von Sternen, die ohne ergründbare Ursache ihr
Licht verlieren, um entweder für kurze Frist oder für immer in die
Finsternis
des unendlichen Raums zu entschwinden; so gibt es auch Menschen, deren
Schicksal von einem gewissen Zeitpunkt ab in Dämmerung und Dunkelheit
gleitet.
Ein
solcher Mann war der Herr von Erfft und Dudsloch,
der gegen das Ende der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts
zwischen
Würzburg und Kitzingen im unterfränkischen Kreis lebte. Seine
Wirtschaft und
seine häuslichen Angelegenheiten befanden sich in gutem Stand; obwohl
es ihm
versagt war, einen Luxus zu entfalten, nach dem er sich bisweilen in
müßigen
Stunden sehnen mochte, erlaubten ihm seine Vermögensverhältnisse doch,
alle
Wünsche zu befriedigen, die durch phantasievolle Neigung oder
eingefleischte
Gewohnheit in ihm lebendig erhalten wurden. Die beiden Güter warfen ein
ansehnliches Erträgnis ab, die hypothekarische Belastung einzelner
Grundstücke
und Neubauten wurde mit jeder Ernte geringer, und ein Kapital, das aus
der
Mitgift der Frau und den allmählich angewachsenen Ersparnissen bestand,
war in
einem Würzburger Bankhaus niedergelegt. Sylvester von Erfft konnte
mehrere
Reitpferde und einen Kutschierwagen halten, konnte ein ziemlich
ausgedehntes
Waldland pachten, um sich dem Vergnügen der Jagd hinzugeben, konnte mit
Agathe,
seiner Lebensgefährtin, kleine Reisen nach einer nördlich oder südlich
gelegenen Residenz unternehmen, weil hier ein Konzert, ein Theater,
dort ein geselliger
Zirkel lockte, und war vor allem nicht daran gehindert, seine
Bibliothek zu
bereichern, denn er war ein Mann von Kenntnissen und lebhaften
Interessen.
Doch
an alledem fand sein heftiger Tätigkeitstrieb
kein Genügen. In seiner Jugend hatte er mehrere Jahre in England
verbracht, und
nachdem er geheiratet hatte und landsässig geworden war, beschäftigten
ihn
lange Zeit hindurch allerlei Reformpläne; er wollte das Pachtwesen und
die
Ökonomieverwaltung nach englischem Muster einrichten; er regte
Versammlungen
der Bauern an, in denen er vorschlug, daß sie sich gegen den drohenden
Industrialismus und die wirtschaftliche Ausbeutung als starke
Gemeinschaft zur
Wehr setzen möchten; er ging sogar damit um, die Erbfolge in den
deutschen
Adelsfamilien nach dem Vorbild der englischen Aristokratie
umzugestalten und
richtete eine Eingabe an den König, die von weitem Blick und
Sachkenntnis
zeugte, aber nicht im mindesten beachtet wurde, sondern ihm, als etwas
davon
verlautete, unter seinen Standesgenossen Feindseligkeiten und
Spöttereien
zuzog. Sein Schwager, der Major von Eggenberg auf Eggenberg, stellte
ihn sogar
wegen dieser närrischen Schrift, wie er sich ausdrückte, zur Rede;
Sylvester
schlug es ab, sich zu rechtfertigen, und lächelte nur, als der Major
ihm sagte,
wenn er einen so unbändigen Tatendrang verspüre, möge er sich doch
wählen
lassen und als Abgeordneter nach Frankfurt gehen. Der Herr von Bismarck
sei ja
im Begriff, Deutschlands leibhaftiges Unglück zu werden, und man
brauche Männer
im Kampf gegen diesen Drachen.
Von
so beschaffener Politik wollte Sylvester nichts
wissen. Mehr als eine höfliche Teilnahme konnte er denen nicht widmen,
die das
Räderwerk der Staatsmaschine in Gang setzten; wer gut regierte, war ihm
schätzbar, den schlechten Herrn machten eifrige Diener nicht besser.
»Ich liebe
meine Heimat,« pflegte er zu sagen, »die Erde, die mich trägt und
nährt, aber
es ist mir gleichgültig, was diese Erde auf den Landkarten für einen
Farbenrand
hat, und kein Minister kann von mir verlangen, daß ich ihm meine
Steuern mit
einem patriotischen Jubelgesang bezahle.« Wie so viele aufgeklärte und
überlegene Geister verstand er seine Zeit nicht recht. Es schien ihm
eine tote
Zeit zu sein; eine leere und nüchterne Zeit, eine Zeit der Spießbürger,
der
schlechten Musik, der schlechten Bücher, der geschmacklosen Möbel und
des
unfruchtbaren Geschwätzes. Ihm dünkte, man mache nur deshalb soviel
Lärm, weil
man die Dinge verwirren und die Ideen verfinstern wollte; er glaubte
nicht an
eine gedeihliche Zukunft, ohne Hoffnung blickte er auf sein Vaterland
und ohne
Anteil auf die trügerische Erregung seiner Mitbürger, denn alles, was
er selbst
zu ihrem Besten hatte vornehmen wollen, war schmählich mißlungen.
Dadurch
wurden aber sein Lebensmut und seine
Heiterkeit keineswegs getrübt. In den letzten Jahren hatte er eine
große
Vorliebe für Gartenkünste gefaßt, er hatte eine Orangerie gebaut und
einen
Gärtner aus Richmond kommen lassen; mit diesem beriet er stundenlang
über die
Anlage neuer Wege, über Pfropfungen und Verpflanzungen. Agathe
unterstützte ihn
dabei, soweit sie es vermochte, und zu der Ritterlichkeit, die er gegen
sie an
den Tag legte, gesellte sich Dankbarkeit. Sie war nur um zwei Jahre
jünger als
er; dieser Umstand machte sie um so mehr zu seiner Freundin; bei jedem
vortretenden
Anlaß achtete er sie für gleichberechtigt. Es gab auch Zank, denn er
war
jähzornig und nicht ohne Launen, und Agathe war nicht die Person, die
sich
sklavisch unterwarf, aber jedesmal fühlte sie sich entzückt durch sein
williges
Bemühen, ein Unrecht vergessen zu machen, das er ihr zugefügt. Manchmal
konnte
er sie mit seinen Neckereien bis zu Tränen bringen; dann nahm er am
Abend
irgendein Buch mit schönen Gedichten und las ihr vor. Im dritten Jahre
ihrer
Ehe war ihnen ein Kind geboren worden, ein Mädchen; es hieß Silvia, war
jetzt
sieben Jahre alt und sehr schön. Am Vater wie an der Mutter hing es mit
der
überschwenglichen Kraft, die der frühen Jugend eigen ist, und mit
seiner
geschmeidigen Gestalt und seinem heitern Antlitz wandelte er durch die
Träume
des Kindes wie ein Gott.
Von
irgendeinem Tage ab, niemand konnte genau sagen
von welchem, veränderte sich Sylvesters Wesen ganz und gar. Eine
unentschiedene, schwankende, zweifelvolle Stimmung war ihm anzumerken,
eine
Unlust, die sich bis zur Verdrossenheit steigerte und die Agathe mehr
und mehr
Besorgnis einflößte. Bisweilen versuchte sie es, ihn aus sich
herauszulocken,
aber er antwortete nur mit einem Achselzucken und einem fremden Blick.
Er hörte
auf, sich mit Silvia zu beschäftigen; was er mit dem Kind redete, klang
gezwungen und zerstreut.
Umsonst
grübelte Agathe über die Ursache der
Verwandlung nach. Umsonst ließ sie Leckerbissen für ihn kochen; umsonst
machte
sie ihm einen englischen Hühnerhund und ein neues Jagdgewehr zum
Geschenk; umsonst
waren ihre Anstrengungen, ihn aufzuheitern; er schien wie eingemauert.
Eines
Tages trat sie in sein Zimmer und beobachtete ihn, wie er, den Rücken
gegen sie
gekehrt, unbeweglich vor dem Spiegel saß. Sie erschrak über den
Ausdruck seines
Gesichts, den ihr der Spiegel zeigte. Sie näherte sich ihm; er hörte
sie nicht.
Er hatte den Kopf auf die Hand gestützt, und sein Blick war verloren
auf das
Ebenbild gerichtet. Sein Auge war voll Schwärze; um die Brauen hatten
sich
dunkle Entschlüsse geballt wie Wolken um ein Gebirge; aus den Lippen
schien
eine quälende Frage unhörbar zu dringen. Agathe schlich davon, und als
sie den
Flur erreicht hatte, rang sie stumm die Hände.
Ein
anderes Mal geschah es, daß sie ihn, es war mitten
in der Nacht, in der Bibliothek unermüdlich auf- und abgehen hörte. Sie
lag im
Bett, aber schlafen konnte sie nicht.
Je
länger sie
dem Geräusch seiner Schritte lauschte, je wacher wurden ihre Sinne.
Endlich
erhob sie sich, umhüllte die Schultern,
verließ das Zimmer und ging nacktfüßig die Treppe hinauf. Leise pochte
sie,
denn sie wollte ihn nicht überfallen, aber als sie die Klinke
herabdrückte,
merkte sie, daß die Tür verriegelt war. Im selben Augenblick erlosch
der Schein
in den Ritzen und Spalten, und drinnen wurde es still. Kein Zweifel,
daß er das
Klopfen gehört, und daß er wußte, Agathe sei es, die vor der Schwelle
stand. So
genügt also, dachte Agathe, das Bewußtsein meiner Nähe, um ihn mit
Furcht zu
erfüllen, mit Furcht und mit solchem Abscheu, daß er die Lampe
ausbläst, um
mich zu verscheuchen.
Am
andern Morgen übergab sie das Kind der Pflege ihrer
Wartefrau und fuhr zu ihrer Schwester nach Eggenberg. Ihrem Gatten
hinterließ
sie ein paar Zeilen, des Inhalts, daß sie Sehnsucht nach der Schwester
empfinde
und sich für die Reise um so leichter entschlossen habe, als sie
annehme, daß
er ihrer nicht bedürfe und eine Trennung von acht oder zehn Tagen ihm
in seiner
gegenwärtigen Verfassung vielleicht willkommen sei. Sie lebte bei
Schwester und
Schwager wie in einem peinvollen Exil, doch stellte sie sich völlig
harmlos,
und kein Wunsch, drohende Gefahren zu erörtern, war ihr anzusehen; es
widersprach dem Grundgefühl ihrer Natur, eine Sache vor andere Ohren zu
bringen, die einer nur mit sich selbst und seinem Partner ausmachen
kann.
Indessen wartete sie von Tag zu Tag auf Nachricht; eine ihr
eigentümliche
Halsstarrigkeit hinderte sie daran, die Frist zu brechen, die sie sich
selbst
gesetzt, und als sie nach Verlauf von eineinhalb Wochen wieder in Erfft
eintraf, erfuhr sie, daß Sylvester schon vier Tage vorher abgereist
war. Er
hatte Adam Hund mitgenommen, seinen Diener aus früheren Jahren, den er
nach
seiner Verheiratung mit einer Aschaffenburger Bierbrauerstochter als
Verwalter
in Dudsloch angestellt hatte.
Kein
Brief, kein Zeichen meldete ihr, wohin er sich
gewandt. Frau Österlein, Silvias Pflegerin, erzählte, er sei in der
Nacht zuvor
an das Bett des Kindes getreten, habe es aus den Polstern gerissen und
an seine
Brust gedrückt; Silvia habe jedoch fest geschlafen und von dem
Zwischenfall nichts
in Erinnerung behalten. Fast gleichzeitig bekam Agathe eine Post des
Würzburger
Bankhauses, worin ihr ordnungsgemäß mitgeteilt wurde, daß Herr von
Erfft die
Summe von zweitausend Talern behoben habe.
Agathe
begab sich in ihr Zimmer, setzte sich hin und
wühlte die Stirn in die Winkel beider Arme wie in ein Versteck. Sie
schämte
sich vor dem Mittagslicht, und die erste Frage an ihr Inneres war,
welchen
Makel sie auf sich geladen, welche Sünde sie unwissentlich begangen
haben
könne. Sie war bereit, jeden Fehler in sich selbst zu suchen und hätte
sich
eines Verbrechens bezichtigt, wenn sie es nur zu entdecken vermocht und
dadurch
Klarheit erlangt hätte. Das Herz, das ihr am teuersten war, in
geheimnisvoller
Weise umschleiert zu wissen, dünkte ihr unerträglich. Desungeachtet
bewahrte
sie vor den Leuten ihre Haltung, und kein Späherauge war imstande,
hinter den
wohlwollend ernsten Zügen den nagenden Kummer zu bemerken.
So
verging eine Woche. An einem Nachmittag stand
Agathe im Hof und sprach mit dem Inspektor, da kam der Bote und reichte
ihr
einen Brief. Ohne zu sehen, spürte sie, daß der Brief von Sylvester
war.
Diesmal versagte die Selbstbeherrschung: ihre Hand zitterte, ihr
Gesicht
erbleichte. Sie eilte ins Haus; im Wohnzimmer mußte sie sich an die
zugeworfene
Türe lehnen und die erregte Brust erst ausatmen lassen, ehe sie die
Briefhülle
aufriß. Dann las sie, und ihre angespannte Miene wurde mit jeder
Sekunde
ruhiger, aber auch verwunderter.
Der
sonderbare Mann schrieb ihr, als ob es die
natürlichste Sache von der Welt sei, daß er sich fern von Haus und Hof
befand
und als ahne er nichts von Agathes Herzensunruhe. Er wußte seine
Mitteilungen
in einen anmutigen Stil zu kleiden; es war seine vorzügliche Gabe von
jeher
gewesen, aber nie früher und nie mit solchem Recht hatte Agathe dieser
Gewandtheit so tiefes Mißtrauen entgegengesetzt; die glatten und
schmuckhaften
Wendungen erschienen ihr wie Lügen, und sie bedurfte der Mühe großer
Selbstüberredung, damit die festgegründete Achtung sich nicht
verringerte, die
sie gegen Sylvester hegte. Er schrieb ihr von gleichgültigen Bekannten,
die er
getroffen, von der Familie des Präsidenten, wo er diniert, von der
Einladung
des Großherzogs, nach Karlsruhe zu kommen, von seiner Reiselust, von
einem
schlechten Theaterstück das er gesehen; dann fuhr er fort: »Ich bewohne
zwei
elende Zimmer im Gasthof, hoch oben im dritten Stock, denn wegen der
Nürnberger
Messe ist alles überfüllt. Doch hat mir dieses Ungemach zu einem
kleinen
Abenteuer verholfen. In dem Fenster gegenüber ist eines Abends ein
junges
Mädchen aufgetaucht. Wir haben einander in die Augen gesehen wie zwei
Wesen von
verschiedenen Sternen. Sie ist mehr als jung, das Blut in ihren Adern
singt vor
Jugend; dabei ist sie melancholisch wie alle Aufwachenden, mit ihren
schwarzen
Judenaugen klagt sie mir das Leiden von vielen Geschlechtern, und ihre
Gebärden
sind unbeholfen wie bei Gefangenen. Wenn ich mit de Vriendts Schach
spiele,
denke ich an sie, wenn ich durch die öden Säle der Residenz gehe, um
meine
geliebten Tiepolos anzusehen, begleitet sie mich wie eine flehende
Sklavin.
Rätst du mir, sie zu verführen, Agathe? Sie zu verführen, nur um sie
loszuwerden? Ich weiß, du legst auf eine Treue kein Gewicht, die sich
nur um
des Scheines willen behauptet. Du hältst ja wenig von den
Sinnenfreuden, zu
wenig vielleicht, um mich ganz zu verstehen. So weit ich Tier bin,
duldest du
mich, deine Nachsicht ist zu überirdisch, als daß sie mich nicht
demütigen
sollte.«
Agathe
ließ das Blatt sinken und ihre Augen trübten
sich gedankenvoll. Das klang wie Ironie; für Ironie fehlte ihr das
Verständnis.
Nach einer Weile las sie weiter: »Ich war nie der Ansicht, daß
Blutstrieb ein
Brandmal der Kreatur sei. Soll ich meinen Gelüsten eine Larve
aufstecken, mit
der sie heuchlerisch in mein Leben grinsen? Liebe ist etwas sehr
Weihevolles,
aber auch etwas sehr Irdisches, und wir müssen nicht fürchten, gemein
zu
werden, wenn wir unschuldig genug sind, unsern Körper zu achten. Ich
mache mir
nichts aus der schmachtenden Orientalin, ich mache mir aus keiner was,
es ist
nur Begehrlichkeit, und nur lahme Seelen sind begehrlich. Meine Seele
ist lahm,
Agathe, sie muß geheilt werden. Ich werde meinen Aufenthalt verändern.
Wohin
ich gehe, kann ich noch nicht sagen; wann ich zurückkehre, kann ich
auch nicht
sagen. Hab Geduld und vergiß für einige Zeit deinen Sylvester.«
Es
war Agathe zumute, als fließe Quecksilber über ihre
Finger. Sie faßte nicht die Worte; aus einem vertrauten Antlitz sprach
eine
unbekannte Stimme; ein böser Geist täuschte die Gestalt eines Freundes
vor. Er
ist krank, fuhr es ihr durch den Sinn, und da nun Silvia mit groß
fragenden
Augen vor sie hintrat, als ahne das Kind den Schmerz und Zwiespalt der
Mutter
und fordere stumm eine entscheidende Handlung, beschloß sie zu ihm zu
gehen. Es
war Abend geworden, als sie diesen Vorsatz gefaßt hatte, sie schickte
zum
Inspektor hinüber und bestellte den Wagen. Am andern Tag, in ziemlich
früher
Morgenstunde, fuhr sie in die Stadt.
Es
war um eine Stunde zu spät.
Agathe
stammte aus einer angesehenen Adelsfamilie, die
im Nassauischen begütert war. Ihr Vater hatte lange Zeit in Frankreich
gelebt,
hatte dann in Deutschland tätigen Anteil an der Revolution genommen und
war in
den Märztagen durch einen unglücklichen Schuß getötet worden. Sie war
die
jüngste unter sieben Schwestern, die man wegen ihrer Schönheit die
Plejaden
nannte. Ihren Gatten hatte sie bei einem Hofball in Darmstadt kennen
gelernt,
Sylvester stand damals im achtundzwanzigsten Lebensjahr. Er hatte nicht
die
Absicht, zu heiraten. Er hatte ein Vorurteil gegen die Ehe, das ihm
berechtigt
schien, weil es durch vielfache Erfahrung und mancherlei Einblick in
das
Eheleben anderer Menschen erzeugt und erhärtet worden war. Er wollte
seine
Freiheit nicht verlieren; er hatte Angst davor, an ein Haus, an eine
Stube, an
einen Tisch gefesselt zu werden; er wünschte nicht, seine
Selbstbestimmung
einzubüßen; er trug kein Verlangen nach Familienfrieden und ungestörter
Idylle,
er war zu sehr an die Aufregungen des Ungefährs, an die Zufälle und
Abenteuerlichkeiten des Umherschweifens gewöhnt. Er hatte viel von der
Welt
gesehen, aber doch nicht genug, die Lockrufe in ihm waren noch nicht
verstummt.
Dies alles sagte er Agathe. Er sagte ihr, daß er nicht für sich bürgen
könne.
Allein
Agathe wußte ihn zu überzeugen, daß eine
gemeinschaftliche Existenz mit ihr zu seinem Glück ausschlagen werde,
und je
länger er sie kannte, je mehr war er geneigt, ihr zu glauben. Er nahm
eine Art
von Tatkraft in ihr wahr, die er noch an keinem menschlichen Wesen
bemerkt
hatte. Es war die Tatkraft gewisser Pflanzen, die aus zartesten
Anfängen zu
einer unwiderstehlichen Gewalt emporwachsen, mit der sie Abgründe
überbrücken
und Felsen zerreißen. Dieser nicht zu beirrende Wille machte ihn zum
Untertan
Agathes, ohne daß er es wußte. Er bewunderte sie, ohne es zu wissen.
Sie konnte
ihn einfach rauben, denn der Widerstand, den er ihrer Liebe
entgegensetzte,
hatte seine Quelle in einer sonderbaren Furcht vor ihr, Furcht vor
ihrer
Entschlossenheit, vor ihrem Mut, ihrer naiven Leidenschaft und dem
stürmischen
Tempo, in dem sich ihr Geist und ihr Herz bewegten, lauter Dinge, denen
er sich
nicht gewachsen fühlte. Er war nicht stark in Handlungen, nicht einmal
in
Überlegungen, nur seine Eindrücke waren von großer Tiefe und
Unvergeßlichkeit.
Sie liebte ihn mit dem ganzen Ungestüm ihrer Natur. Er ließ sich von
ihr
lieben, und an diesem Punkt begann seine Schuld. Obwohl er ihre Liebe
erwiderte, gab er sie nicht freiwillig her, sondern er gewöhnte sich so
daran,
sein Gefühl erobern zu lassen, daß er völlig passiv wurde und jeden
Zoll zu
bezahlen versäumte. Sie verlebten glückliche und reine Tage, aber
Agathe
bemerkte nicht, daß sie ihrem Mann bequem wurde. Sie schien ihm zur
Gefährtin
auserlesen, ja er sah in ihr das Wunder einer Gefährtin, aber mit der
Zeit wurde
ihm dies selbstverständlich. Sie ließ ihm nichts zu erraten übrig, sie
enthüllte sich in jedem Augenblick, und in jedem Augenblick ohne
Rückhalt und
ohne Vorbehalt. Wäre sie nicht so reich erschaffen worden, in seiner
Nähe hätte
sie bald verarmen müssen, denn alles was in ihm schenken und bauen
konnte,
wurde ihr gegenüber stumm und lustlos. Trotzdem war ihm ihre
Gesellschaft
unentbehrlich, die Jahre gingen hin, die aufwachsende und zum Menschen
werdende
Silvia kettete sie noch fester aneinander, bis eines Tages eine Unruhe
in
Sylvester erwachte, über die er sich lange keine Rechenschaft geben
konnte.
An
einem Morgen fing es an, als er in ihr Schlafzimmer
trat. Agathe saß vor dem Spiegel und frisierte sich. Dieses Schauspiel
habe ich
schon viele tausendmal gesehen, zuckte es Sylvester durch den Kopf.
Agathe
begann von Wirtschaftssorgen zu sprechen, und er hörte nicht den Sinn
ihrer
Worte, sondern nur den Klang ihrer Stimme. Und irgend etwas in dieser
Stimme,
sei es der bekannte Tonfall, sei es die bekannte Folge der Worte,
erbitterte
ihn in einer höchst ungerechten und sein eigenes Gefühl beleidigenden
Weise. Er
wartete, welche Bewegung sie machen würde und riet im stillen, daß sie
den Kopf
an einer genau von ihm bestimmten Stelle fassen und auf die linke Hand
stützen
würde. Es geschah so, und seine Erbitterung verwandelte sich in
Widerwillen. Er
sah ihre auf den Stühlen liegenden Kleider, die Schuhe, Bänder und
Wäschestücke, und jeder einzelne dieser Gegenstände vermehrte seinen
unheimlichen Haß. Die Decke ihres Bettes war zurückgeschlagen, und der
Geruch
des Frauenkörpers, der dem Linnen zu entströmen schien, erweckte keine
Begierde
oder Zärtlichkeit mehr in ihm.
Von
jener Stunde an wuchsen Unlust und Unzufriedenheit
beständig in seinem Innern. Daß sie darunter litt, blieb ihm nicht
verborgen,
und er freute sich dessen; ihm war, als müsse er Rache an ihr üben, ihm
war,
als hätte er durch Agathe seine Jugend verloren, als wäre sie die
Diebin seiner
Illusionen und seiner Hoffnungen. Die zehn Jahre, die er an ihrer Seite
verbracht, erschienen ihm wie ebenso viele Jahre der Verbannung und der
Kerkerhaft. Eine schreckliche Angst vor dem Altwerden packte ihn, und
der
Spiegel wurde ihm zum Zeugen der Zerstörung. Der Anblick der Furchen
auf seiner
Stirn und der Unebenheiten seiner Wangen verfinsterte seinen Geist, und
oft,
wenn er über den Vernichter grübelte, der so tückisch unter der
Epidermis
wühlte, über dies langsame Hinschwinden und Niederbrennen, erfaßte ihn
eine
quälende, aber in ihrem innersten Kern beglückende Sehnsucht, die er
anfangs
nicht zu betäuben versuchte.
Eines
Nachmittags saß Agathe mit der kleinen Frau des
Inspektors zusammen. Sie schwatzten über Frauensachen, Sylvester hatte
am Tisch
Platz genommen und las in einem Buch; bisweilen blickte er zu den
beiden
hinüber und da bemerkte er, daß die kleine Inspektorin ebensooft einen
raschen,
erkundenden Blick auf ihn warf. Er beobachtete sie schärfer, und sie
spürte es
sofort, denn sie versteckte die Füße unter dem Kleid, und Schultern und
Arme
zeigten jene koketten halben Bewegungen, die zu gefallen berechnet
sind. Es lag
darin etwas Belebendes für Sylvester. Die sinnliche Strömung, die
zwischen ihm
und dem fremden Weib entstanden war, machte ihn feurig und froh. Er
erhob sich
und ging an den Frauen vorüber, und er tat es nur deshalb, damit er im
Vorübergehen mit seinem Ärmel das Gewand der Inspektorin streifen
konnte; in
der Sekunde, in der es geschah, glaubte er sie zu besitzen; in
derselben
Sekunde wurde ihm auch bewußt, daß er fort mußte, fort von Agathe und
dem Kind,
daß er dadurch seinen Untergang vielleicht herbeiführen würde, daß aber
sein
Bleiben diesen Untergang nicht verhüten könne. Er stellte sich dann
hinter
Agathes Stuhl, Agathe schaute zu ihm empor, und sie lächelte vergnügt,
weil sie
ihn lächeln sah. Aber sein Lächeln galt nicht ihr, es galt der andern,
die auch
zu ihm aufblickte. Und obwohl ihm Agathes Züge vertraut und angenehm
vertraut
waren, da ihre Art zu sprechen, zu denken, zu lachen, zu weinen ihnen
die ihm
allein enträtselbaren charakteristischen Formen verliehen hatte, obwohl
ihr
Antlitz ihm wie ein Gefäß voll zarter und heiliger Erlebnisse war, die
sein
Dasein verändert und verschönert hatten, hingen seine Gedanken und
Empfindungen
doch an dem gewöhnlichen und leeren Gesicht der Fremden, die nichts
weiter als
hübsch war, hübsch, jugendlich und unbekannt.
Er
hatte danach die Inspektorin weder gesprochen, noch
hatte er das flüchtige Spiel zum zweitenmal anzufangen versucht. Aber
er hatte
sich selbst begriffen. Er sah ein Gleichnis für seine Not. Jemand will
eine
Reise antreten; auf dem Weg zum Bahnhof begegnet ihm ein Freund, der
ihm die
Reise dringend widerrät; die Gesellschaft des Freundes entzückt ihn,
sie
verbringen Tage, Wochen, Jahre miteinander, endlich aber schlägt dem
Zurückgehaltenen
das Gewissen; war es gleich kein bestimmter Auftrag, der ihn einst zu
der Reise
veranlaßt, so war es doch sein innerer Trieb; ihm ist, als sei er sich
selber
ungehorsam gewesen, als habe er sich selbst betrogen; ihn peinigt der
Gedanke
an die Schönheit der Landschaften, die er nicht gesehen hat, an die
Möglichkeiten und Aussichten, die ihm entgangen sind, und mag sein
gegenwärtiges Glück noch so groß sein, das Gefühl des
unwiederbringlichen
Verlustes wird ihn nicht zur Ruhe kommen lassen.
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