Angst
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„Komm“,
sagte er mit einer
dumpfen, würgenden Stimme. Sie sah ihn starr an und verwunderte sich im
Innern,
in einer ganz dumpfen, tiefen Welt ihres Bewußtseins, daß sie ihm
gehorchte.
Und ihr Schritt ging mit, ohne daß sie es selber wußte.
Sie
gingen nebeneinander
über die Straße. Keiner blickte den andern an. Er hielt das Fläschchen
noch
immer in der Hand. Einmal blieb er stehen und wischte sich die feuchte
Stirn.
Unwillkürlich hemmte auch sie den Schritt, ohne es zu wollen, ohne es
zu wissen.
Aber sie wagte nicht, hinüberzublicken. Keiner sprach ein Wort, der
Lärm der
Straße wogte zwischen ihnen.
Auf
der Stiege ließ er sie
vorausschreiten. Und sofort, wie er nicht neben ihr ging, geriet ihr
Schritt
ins Wanken. Sie blieb stehen und hielt sich an. Da stützte er ihren
Arm. Bei
der Berührung schrak sie zusammen und
hastete die letzten Stufen rascher hinauf.
Sie
trat ins Zimmer. Er
folgte ihr. Dunkel glänzten die Wände, kaum waren die Gegenstände zu
unterscheiden. Noch immer sprachen sie kein Wort. Er riß das Papier der
Umhüllung ab, öffnete das Fläschchen, goß den Inhalt fort. Dann
schleuderte er
es heftig in eine Ecke. Sie zuckte zusammen bei dem klirrenden Laut.
Sie
schwiegen und
schwiegen. Sie fühlte, wie er sich bändigte, fühlte es, ohne
hinzusehen.
Endlich trat er auf sie zu, Nahe und nun ganz nah. Sie konnte seinen
schweren
Atem spüren und sah mit ihrem starren und wie verwölkten Blick den
Glanz seiner
Augen funkelnd aus dem Dunkel des Raumes treten. Seinen Zorn wartete
sie schon
losbrechen zu hören und schauerte starr dem harten Griff seiner Hand
entgegen,
der sie erfaßte. Irene stand das Herz still, nur die Nerven vibrierten
wie
hochgespannte Saiten; alles wartete auf die Züchtigung, und beinahe
ersehnte
sie seinen Zorn. Aber er schwieg noch immer, und mit einem unendlichen
Staunen
spürte sie, daß sein Nahetreten ein sanftes war. „Irene“, sagte er, und
seine
Stimme klang merkwürdig weich. „Wie lange sollen wir uns noch quälen?“
Da
brach es aus ihr,
plötzlich, konvulsivisch, mit einem übermächtigen Stoß, wie ein
einziger,
sinnloser tierischer Schrei, endlich stürzte es vor, das aufgesparte,
niedergerungene Schluchzen all dieser Wochen. Eine zornige Hand schien
sie von
innen zu fassen und gewalttätig zu rütteln, sie schwankte wie eine
Trunkene und
wäre umgesunken, hätte er sie nicht festgehalten.
„Irene“,
beruhigte er,
„Irene, Irene“, immer leiser, immer beschwichtigender den Namen
sprechend, als
könnte er den verzweifelten Aufruhr der gekrampften Nerven durch die
immer
zärtlichere Tonung des Wortes glätten. Aber nur Schluchzen antwortete
ihm,
wilde Stöße, Wogen von Schmerz, die den ganzen Körper durchrollten. Er
führte,
er trug den zuckenden Körper zum Sofa und bettete ihn hin. Aber das
Schluchzen
wurde nicht still. Wie mit elektrischen Schlägen schüttelte der
Weinkrampf die
Glieder, Wellen von Schauer und Kälte schienen den gefolterten Leib zu
überrinnen. Seit Wochen auf das Unerträglichste gespannt, waren die
Nerven nur
zerrissen, und fessellos tobte die Qual durch den fühllosen Leib.
Er
hielt in höchster
Erregung ihren durchschauerten Körper, faßte die kalten Hände, küßte
zuerst
beruhigend und dann wild, in Angst und Leidenschaft, ihr Kleid, ihren
Nacken,
aber das Zucken fuhr immer wie ein Riß über die hingekauerte Gestalt,
und von innen
rollte die aufstürzende, endlich entfesselte Welle des Schluchzens
emp0r. Er
fühlte das Gesicht an, das kühl war, von Tränen gebadet, und spürte die
hämmernden Adern an den Schläfen. Eine unsägliche Angst überkam ihn. Er
kniete
hin näher zu ihrem Antlitz zu sprechen.
„Irene“,
immer wieder faßte
er sie an, „warum weinst du . . . Jetzt . . . jetzt ist doch alles
vorbei . . .
Warum quälst du dich noch . . . Du mußt dich nicht ängstigen mehr . . .
Sie
wird nie mehr kommen, nie mehr . . .“
Ihr
Körper zuckte wieder
auf, mit beiden Händen hielt er ihn fest. Eine Angst war in ihm, als er
diese
Verzweiflung fühlte, die dem gefolterten Leib zerriß, als hätte er sie
gemordet. Immer wieder küßte er sie und stammelte wirre Worte der
Entschuldigung.
„Nein
. . . nie mehr . . .
ich schwöre es dir . . . ich habe es ja nicht ahnen können, daß du so
sehr
erschrecken würdest . . . nur rufen wollte ich dich . . . zurückrufen
zu deiner
Pflicht . . . nur daß du von ihm weggehst . . . für immer . . . und
zurück zu
uns . . . ich hatte doch keine andere Wahl, als ich es durch Zufall
erfuhr . .
. ich konnte es dir selbst doch nicht sagen . . . ich dachte . . .
dachte
immer, du würdest kommen . . . darum
habe ich sie gesandt, diese arme Person, daß sie dich treiben sollte .
. . ein
armes Ding ist sie, eine Schauspielerin, eine entlassene . . . sie hat
sich ja
ungern hergegeben, aber ich wollte es . . . ich sehe, es war unrecht .
. . aber
ich wollte dich doch zurück . . . ich habe dir doch immer gezeigt, daß
ich
bereit bin . . . daß ich nichts will als verzeihen, aber du hast mich
nicht
verstanden . . . aber so . . . so weit
wollte ich dich nicht treiben . . . ich habe ja mehr gelitten, alles
das zu
sehen . . . jeden Schritt habe ich dich beobachtet . . . nur wegen der
Kinder,
weißt du, wegen der Kinder mußte ich dich doch zwingen . . . aber jetzt
ist
doch alles vorbei . . . jetzt wird alles wieder gut . . .“
Sie
hörte dumpf aus einer
unendlichen Ferne Worte, die nah klangen, und verstand sie doch nicht.
Ein
Rausche wogte ihr innen, das alles
übertönte, ein Tumult der Sinne, in dem jedes Gefühl verging. Sie
fühlte
Berührung an ihrer Haut, Küsse und Liebkosungen, und die eigenen, nun
schon
erkalteten Tränen, aber innen war das Blut voll Klingen, voll eines
dumpfen
dröhnenden Getöns, das gewaltsam schwoll und nun donnerte wie rasende
Glocken.
Dann schwand ihr alle Deutlichkeit. Sie spürte, wirr aus ihrer Ohnmacht
erwachend, daß man sie entkleidete, sah wie durch viele Wolken das
Antlitz
ihres Mannes, gütig und besorgt. Dann fiel sie tief ins Dunkel hinab,
in den
lang entbehrten, schwarzen, traumlosen Schlaf.
Als
sie am nächsten Morgen
die Augen aufschlug, war es schon hell im Zimmer. Und Helligkeit spürte
sie in
sich, entwölkt und wie durch Gewitter
gereinigt das eigene Blut. Sie versuchte sich zu besinnen, was ihr
geschehen
war, aber alles schien ihr noch Traum. Unwirklich, leicht und befreit,
so wie
man im Schlaf durch die Räume schwebt, dünkte ihr dies hämmernde
Empfinden, und
um der Wahrheit des wachen Erlebens gewiß zu werden, tastete sie die
eigenen
Hände prüfend an.
Plötzlich
schrak sie
zusammen: an ihrem Finger funkelte der Ring. Mit einem Male war sie
ganz wach.
Die wirren Worte, aus halber Ohnmacht gehört und doch nicht, ein
ahnungsvoll
dumpfes Gefühl von vordem, das nur nie gewagt hatte, Gedanke und
Verdacht zu
werden, beides verflocht sich jetzt plötzlich zu klarem Zusammenhang.
Alles
verstand sie mit einem Male, die Fragen ihres Mannes, das Erstaunen
ihres
Liebhabers, alle Maschen rollten sich auf, und sie sah das grauenvolle
Netz, in
dem sie verstrickt gewesen war. Erbitterung überfiel sie und Scham,
wieder
begannen die Nerven zu zittern, und fast bereute sie, erwacht zu sein
aus diesem
traumlosen angstlosen Schlaf.
Da
klang Lachen von
nebenan. Die Kinder waren aufgestanden und lärmten wie erwachende Vögel
in den
jungen Tag. Deutlich erkannte sie die Stimme des Knaben und spürte
erstaunt zum
erstenmal, wie sehr sie der seines Vaters glich. Leise flog ein Lächeln
auf
ihre Lippen und rastete dort still. Mit geschlossenen Augen lag sie, um
all
dies tiefer zu genießen, was ihr Leben war und nun auch ihr Glück.
Innen tat
noch leise etwas weh, aber es war ein verheißender Schmerz, glühend und
doch
lind, so wie Wunden brennen, ehe sie für
immer vernarben wollen.