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Literatur


04.3


Geschichten Stefan Zweig

Angst





Angst
Seite 10

 
„Komm“, sagte er mit einer dumpfen, würgenden Stimme. Sie sah ihn starr an und verwunderte sich im Innern, in einer ganz dumpfen, tiefen Welt ihres Bewußtseins, daß sie ihm gehorchte. Und ihr Schritt ging mit, ohne daß sie es selber wußte.
 
Sie gingen nebeneinander über die Straße. Keiner blickte den andern an. Er hielt das Fläschchen noch immer in der Hand. Einmal blieb er stehen und wischte sich die feuchte Stirn. Unwillkürlich hemmte auch sie den Schritt, ohne es zu wollen, ohne es zu wissen. Aber sie wagte nicht, hinüberzublicken. Keiner sprach ein Wort, der Lärm der Straße wogte zwischen ihnen.
 
Auf der Stiege ließ er sie vorausschreiten. Und sofort, wie er nicht neben ihr ging, geriet ihr Schritt ins Wanken. Sie blieb stehen und hielt sich an. Da stützte er ihren Arm. Bei der Berührung  schrak sie zusammen und hastete die letzten Stufen rascher hinauf.
 
Sie trat ins Zimmer. Er folgte ihr. Dunkel glänzten die Wände, kaum waren die Gegenstände zu unterscheiden. Noch immer sprachen sie kein Wort. Er riß das Papier der Umhüllung ab, öffnete das Fläschchen, goß den Inhalt fort. Dann schleuderte er es heftig in eine Ecke. Sie zuckte zusammen bei dem klirrenden Laut.
 
Sie schwiegen und schwiegen. Sie fühlte, wie er sich bändigte, fühlte es, ohne hinzusehen. Endlich trat er auf sie zu, Nahe und nun ganz nah. Sie konnte seinen schweren Atem spüren und sah mit ihrem starren und wie verwölkten Blick den Glanz seiner Augen funkelnd aus dem Dunkel des Raumes treten. Seinen Zorn wartete sie schon losbrechen zu hören und schauerte starr dem harten Griff seiner Hand entgegen, der sie erfaßte. Irene stand das Herz still, nur die Nerven vibrierten wie hochgespannte Saiten; alles wartete auf die Züchtigung, und beinahe ersehnte sie seinen Zorn. Aber er schwieg noch immer, und mit einem unendlichen Staunen spürte sie, daß sein Nahetreten ein sanftes war. „Irene“, sagte er, und seine Stimme klang merkwürdig weich. „Wie lange sollen wir uns noch quälen?“
 
Da brach es aus ihr, plötzlich, konvulsivisch, mit einem übermächtigen Stoß, wie ein einziger, sinnloser tierischer Schrei, endlich stürzte es vor, das aufgesparte, niedergerungene Schluchzen all dieser Wochen. Eine zornige Hand schien sie von innen zu fassen und gewalttätig zu rütteln, sie schwankte wie eine Trunkene und wäre umgesunken, hätte er sie nicht festgehalten.
 
„Irene“, beruhigte er, „Irene, Irene“, immer leiser, immer beschwichtigender den Namen sprechend, als könnte er den verzweifelten Aufruhr der gekrampften Nerven durch die immer zärtlichere Tonung des Wortes glätten. Aber nur Schluchzen antwortete ihm, wilde Stöße, Wogen von Schmerz, die den ganzen Körper durchrollten. Er führte, er trug den zuckenden Körper zum Sofa und bettete ihn hin. Aber das Schluchzen wurde nicht still. Wie mit elektrischen Schlägen schüttelte der Weinkrampf die Glieder, Wellen von Schauer und Kälte schienen den gefolterten Leib zu überrinnen. Seit Wochen auf das Unerträglichste gespannt, waren die Nerven nur zerrissen, und fessellos tobte die Qual durch den fühllosen Leib.
 
Er hielt in höchster Erregung ihren durchschauerten Körper, faßte die kalten Hände, küßte zuerst beruhigend und dann wild, in Angst und Leidenschaft, ihr Kleid, ihren Nacken, aber das Zucken fuhr immer wie ein Riß über die hingekauerte Gestalt, und von innen rollte die aufstürzende, endlich entfesselte Welle des Schluchzens emp0r. Er fühlte das Gesicht an, das kühl war, von Tränen gebadet, und spürte die hämmernden Adern an den Schläfen. Eine unsägliche Angst überkam ihn. Er kniete hin näher zu ihrem Antlitz zu sprechen.
 
„Irene“, immer wieder faßte er sie an, „warum weinst du . . . Jetzt . . . jetzt ist doch alles vorbei . . . Warum quälst du dich noch . . . Du mußt dich nicht ängstigen mehr . . . Sie wird nie mehr kommen, nie mehr . . .“
 
Ihr Körper zuckte wieder auf, mit beiden Händen hielt er ihn fest. Eine Angst war in ihm, als er diese Verzweiflung fühlte, die dem gefolterten Leib zerriß, als hätte er sie gemordet. Immer wieder küßte er sie und stammelte wirre Worte der Entschuldigung.
 
„Nein . . . nie mehr . . . ich schwöre es dir . . . ich habe es ja nicht ahnen können, daß du so sehr erschrecken würdest . . . nur rufen wollte ich dich . . . zurückrufen zu deiner Pflicht . . . nur daß du von ihm weggehst . . . für immer . . . und zurück zu uns . . . ich hatte doch keine andere Wahl, als ich es durch Zufall erfuhr . . . ich konnte es dir selbst doch nicht sagen . . . ich dachte . . . dachte immer, du würdest kommen  . . . darum habe ich sie gesandt, diese arme Person, daß sie dich treiben sollte . . . ein armes Ding ist sie, eine Schauspielerin, eine entlassene . . . sie hat sich ja ungern hergegeben, aber ich wollte es . . . ich sehe, es war unrecht . . . aber ich wollte dich doch zurück . . . ich habe dir doch immer gezeigt, daß ich bereit bin . . . daß ich nichts will als verzeihen, aber du hast mich nicht verstanden . . . aber so  . . . so weit wollte ich dich nicht treiben . . . ich habe ja mehr gelitten, alles das zu sehen . . . jeden Schritt habe ich dich beobachtet . . . nur wegen der Kinder, weißt du, wegen der Kinder mußte ich dich doch zwingen . . . aber jetzt ist doch alles vorbei . . . jetzt wird alles wieder gut . . .“
 
Sie hörte dumpf aus einer unendlichen Ferne Worte, die nah klangen, und verstand sie doch nicht. Ein Rausche  wogte ihr innen, das alles übertönte, ein Tumult der Sinne, in dem jedes Gefühl verging. Sie fühlte Berührung an ihrer Haut, Küsse und Liebkosungen, und die eigenen, nun schon erkalteten Tränen, aber innen war das Blut voll Klingen, voll eines dumpfen dröhnenden Getöns, das gewaltsam schwoll und nun donnerte wie rasende Glocken. Dann schwand ihr alle Deutlichkeit. Sie spürte, wirr aus ihrer Ohnmacht erwachend, daß man sie entkleidete, sah wie durch viele Wolken das Antlitz ihres Mannes, gütig und besorgt. Dann fiel sie tief ins Dunkel hinab, in den lang entbehrten, schwarzen, traumlosen Schlaf.
 
Als sie am nächsten Morgen die Augen aufschlug, war es schon hell im Zimmer. Und Helligkeit spürte sie in sich, entwölkt  und wie durch Gewitter gereinigt das eigene Blut. Sie versuchte sich zu besinnen, was ihr geschehen war, aber alles schien ihr noch Traum. Unwirklich, leicht und befreit, so wie man im Schlaf durch die Räume schwebt, dünkte ihr dies hämmernde Empfinden, und um der Wahrheit des wachen Erlebens gewiß zu werden, tastete sie die eigenen Hände prüfend an.
 
Plötzlich schrak sie zusammen: an ihrem Finger funkelte der Ring. Mit einem Male war sie ganz wach. Die wirren Worte, aus halber Ohnmacht gehört und doch nicht, ein ahnungsvoll dumpfes Gefühl von vordem, das nur nie gewagt hatte, Gedanke und Verdacht zu werden, beides verflocht sich jetzt plötzlich zu klarem Zusammenhang. Alles verstand sie mit einem Male, die Fragen ihres Mannes, das Erstaunen ihres Liebhabers, alle Maschen rollten sich auf, und sie sah das grauenvolle Netz, in dem sie verstrickt gewesen war. Erbitterung überfiel sie und Scham, wieder begannen die Nerven zu zittern, und fast bereute sie, erwacht zu sein aus diesem traumlosen angstlosen Schlaf.
 
Da klang Lachen von nebenan. Die Kinder waren aufgestanden und lärmten wie erwachende Vögel in den jungen Tag. Deutlich erkannte sie die Stimme des Knaben und spürte erstaunt zum erstenmal, wie sehr sie der seines Vaters glich. Leise flog ein Lächeln auf ihre Lippen und rastete dort still. Mit geschlossenen Augen lag sie, um all dies tiefer zu genießen, was ihr Leben war und nun auch ihr Glück. Innen tat noch leise etwas weh, aber es war ein verheißender Schmerz, glühend und doch lind,  so wie Wunden brennen, ehe sie für immer vernarben wollen.







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