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04.3
Geschichten
Stefan Zweig
Brennendes
Geheimnis
Der
letzte Traum
Das
war so geschehen: Man
hatte ihn hier längst schon gesucht und erwartet. Seine Mutter, trotz
ihres
Zornes erschreckt durch das rasende Wegstürzen des erregten Kindes,
hatte ihn
auf dem Semmering suchen lassen. Schon war alles in furchtbarster
Aufregung und
voll gefährlicher Vermutungen, als ein Herr die Nachricht brachte, er
habe das
Kind gegen drei Uhr am Bahnschalter gesehen. Dort stellte man rasch
fest, daß
Edgar eine Karte nach Baden genommen hatte, und sie fuhr, ohne zu
zögern, ihm
sofort nach. Telegramme nach Baden und Wien an seinen Vater liefen ihr
voran,
Aufregung verbreitend, und seit zwei Stunden war alles in Bewegung nach
dem
Flüchtigen.
Jetzt
hielten sie ihn fest,
aber ohne Gewalt. In einem unterdrückten Triumph wurde er hineingeführt
ins
Zimmer, aber wie seltsam war ihm dies, daß er alle die harten Vorwürfe,
die sie
ihm sagten, nicht spürte, weil er in ihren Augen doch die Freude und
die Liebe
sah. Und sogar dieser Schein, dieser geheuchelte Ärger dauerte nur
einen
Augenblick. Dann umarmte ihn wieder die Großmutter mit Tränen, niemand
sprach
mehr von seiner Schuld, und er fühlte sich von einer wundervollen
Fürsorge
umringt. Da zog ihm das Mädchen den Rock aus und brachte ihm einen
wärmeren, da
fragte ihn die Großmutter, ob er nicht Hunger habe oder irgend etwas
wollte,
sie fragten und quälten ihn mit zärtlicher Besorgnis, und wie sie seine
Befangenheit sahen, fragten sie nicht mehr. Wollüstig empfand er das so
mißachtete und doch entbehrte Gefühl wieder, ganz Kind zu sein, und
Scham
befiel ihn über die Anmaßung der letzten Tage, all dies entbehren zu
wollen, es
einzutauschen für die trügerische Lust einer eigenen Einsamkeit.
Nebenan
klingelte das
Telephon. Er hörte die Stimme seiner Mutter, hörte einzelne Worte:
„Edgar …
zurück … herkommen … letzter Zug“, und wunderte sich, daß sie ihn nicht
wild
angefahren hatte, nur umfaßt mit so merkwürdig verhaltenem Blick. Immer
wilder
wurde die Reue in ihm, und am liebsten hätte er sich hier all der
Sorgfalt
seiner Großmutter und seiner Tante entwunden und wäre hineingegangen,
sie um
Verzeihung zu bitten, ihr ganz in Demut, ganz allein zu sagen, er wolle
wieder
Kind sein und gehorchen. Aber als er jetzt leise aufstand, sagte die
Großmutter
leise erschreckt:
„Wohin
willst du?“
Da
stand er beschämt. Sie
hatten schon Angst für ihn, wenn er sich regte. Er hatte sie alle
verschreckt,
nun fürchteten sie, er wolle wieder entfliehen. Wie würden sie
begreifen
können, daß niemand mehr diese Flucht bereute als er selbst!
Der
Tisch war gedeckt, und
man brachte ihm ein eiliges Abendessen. Die Großmutter saß bei ihm und
wandte
keinen Blick. Sie und die Tante und das Mädchen schlossen ihn in einen
stillen
Kreis, und er fühlte sich von dieser Wärme wundersam beruhigt. Nur daß
seine
Mutter nicht ins Zimmer trat, machte ihn wirr. Wenn sie hätte ahnen
können, wie
demütig er war, sie wäre bestimmt gekommen!
Da
ratterte draußen ein
Wagen und hielt vor dem Haus. Die anderen schreckten so sehr auf, daß
auch
Edgar unruhig wurde. Die Großmutter ging hinaus, Stimmen flogen laut
hin und
her durch das Dunkel, und auf einmal wußte er, daß sein Vater gekommen
war.
Scheu merkte Edgar, daß er jetzt wieder allein im Zimmer stand, und
selbst
dieses kleine Alleinsein verwirrte ihn. Sein Vater war streng, war der
einzige,
den er wirklich fürchtete. Edgar horchte hinaus, sein Vater schien
erregt zu
sein, er sprach laut und geärgert. Dazwischen klangen begütigend die
Stimmen
seiner Großmutter und der Mutter, offenbar wollten sie ihn milder
stimmen. Aber
die Stimme blieb hart, hart wie die Schritte, die jetzt herankamen,
näher und
näher, nun schon im Nebenzimmer waren, knapp vor der Türe, die jetzt
aufgerissen wurde.
Sein
Vater war sehr groß.
Und unsäglich klein fühlte sich jetzt Edgar vor ihm, wie er eintrat,
nervös und
anscheinend wirklich im Zorn.
„Was
ist dir eingefallen,
du Kerl, davonzulaufen? Wie kannst du deine Mutter so erschrecken?“
Seine
Stimme war zornig und
in den Händen eine wilde Bewegung. Hinter ihm war mit leisem Schritt
jetzt die
Mutter hereingetreten. Ihr Gesicht war verschattet.
Edgar
antwortete nicht. Er
hatte das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen, aber doch, wie sollte
er das
erzählen, daß man ihn betrogen hatte und geschlagen? Würde er es
verstehen?
„Nun,
kannst du nicht
reden? Was war los? Du kannst es ruhig sagen! War dir etwas nicht
recht? Man
muß doch einen Grund haben, wenn man davonläuft! Hat dir jemand etwas
zuleide
getan?“
Edgar zögerte. Die Erinnerung machte ihn wieder zornig, schon wollte er
anklagen. Da sah er – und sein Herz stand still
dabei – wie seine
Mutter hinter
dem Rücken des Vaters eine sonderbare Bewegung machte. Eine Bewegung,
die er
erst nicht verstand. Aber jetzt sah sie ihn an, in ihren Augen war eine
flehende Bitte. Und leise, ganz leise hob sie den Finger zum Mund im
Zeichen
des Schweigens.
Da
brach, das Kind fühlte
es, plötzlich etwas Warmes, eine ungeheure wilde Beglückung durch
seinen ganzen
Körper. Er verstand, daß sie ihm das Geheimnis zu hüten gab, daß auf
seinen
kleinen Kinderlippen ein Schicksal lag. Und wilder, jauchzender Stolz
erfüllte
ihn, daß sie ihm vertraute, jäh überkam ihn ein Opfermut, ein Wille,
seine
eigene Schuld noch zu vergrößern, um zu zeigen, wie sehr er schon Mann
war. Er
raffte sich zusammen:
„Nein,
nein … es war gar
kein Anlaß. Mama war sehr gut zu mir, aber ich war ungezogen, ich habe
mich
schlecht benommen … und da … da bin ich davongelaufen, weil ich mich
gefürchtet
habe.“
Sein
Vater sah ihn verdutzt
an. Er hatte alles erwartet, nur nicht dieses Geständnis. Sein Zorn war
entwaffnet.
„Na,
wenn es dir leid tut,
dann ists schon gut. Dann will ich heute nichts mehr darüber reden. Ich
glaube,
du wirst es dir ein anderes Mal doch überlegen! Daß so etwas nicht mehr
vorkommt.“
Er
blieb stehen und sah ihn
an. Seine Stimme wurde jetzt milder.
„Wie
blaß du aussiehst.
Aber mir scheint, du bist schon wieder größer geworden. Ich hoffe, du
wirst
solche Kindereien nicht mehr tun; du bist ja wirklich kein Bub mehr und
könntest schon vernünftig sein!“
Edgar
blickte die ganze
Zeit über nur auf seine Mutter. Ihm war, als funkelte etwas in ihren
Augen.
Oder war dies nur der Widerschein der Flamme? Nein, es glänzte dort
feucht und
hell, und ein Lächeln war um ihren Mund, das ihm Dank sagte. Man
schickte ihn
jetzt zu Bett, aber er war nicht traurig darüber, daß sie ihn allein
ließen. Er
hatte ja so viel zu überdenken, so viel Buntes und Reiches. All der
Schmerz der
letzten Tage verging in dem gewaltigen Gefühl des ersten Erlebnisses,
er fühlte
sich glücklich in einem geheimnisvollen Vorgefühl künftiger
Geschehnisse.
Draußen rauschten im Dunkel die Bäume in der verfinsterten Nacht, aber
er
kannte kein Bangen mehr. Er hatte alle Ungeduld vor dem Leben verloren,
seit er
wußte, wie reich es war. Ihm war, als hätte er es zum erstenmal heute
nackt
gesehen, nicht mehr verhüllt von tausend Lügen der Kindheit, sondern in
seiner
ganzen wollüstigen, gefährlichen Schönheit. Er hatte nie gedacht, daß
Tage so
voll gepreßt sein konnten vom vielfältigen Übergang des Schmerzes und
der Lust,
und der Gedanke beglückte ihn, daß noch viele solche Tage ihm
bevorständen, ein
ganzes Leben warte, ihm sein Geheimnis zu entschleiern. Eine erste
Ahnung der
Vielfältigkeit des Lebens hatte ihn überkommen, zum ersten Male glaubte
er das
Wesen der Menschen verstanden zu haben, daß sie einander brauchten,
selbst wenn
sie sich feindlich schienen, und daß es sehr süß sei, von ihnen geliebt
zu
werden. Er war unfähig, an irgend etwas oder irgend jemanden mit Haß zu
denken,
er bereute nichts, und selbst für den Baron, den Verführer, seinen
bittersten
Feind, fand er ein neues Gefühl der Dankbarkeit, weil er ihm die Tür
aufgetan
hatte zu dieser Welt der ersten Gefühle.
Das
alles war sehr süß und
schmeichlerisch nun im Dunkel zu denken, leise schon verworren mit
Bildern aus
Träumen, und beinahe war es schon Schlaf. Da war ihm, als ob plötzlich
die Türe
ginge und leise etwas käme. Er glaubte sich nicht recht, war auch schon
zu
schlafbefangen, um die Augen aufzutun. Da spürte er atmend über sich
ein Gesicht
weich, warm und mild das seine streifen, und wußte, daß seine Mutter es
war,
die ihn jetzt küßte und ihm mit der Hand übers Haar fuhr. Er fühlte die
Küsse
und fühlte die Tränen, sanft die Liebkosung erwidernd, und nahm es nur
als
Versöhnung, als Dankbarkeit für sein Schweigen. Erst später, viele
Jahre
später, erkannte er in diesen stummen Tränen ein Gelöbnis der alternden
Frau,
daß sie von nun ab nur ihm, nur ihrem Kinde gehören wollte, eine Absage
an das
Abenteuer, ein Abschied von allen eigenen Begehrlichkeiten. Er wußte
nicht, daß
auch sie ihm dankbar war, aus einem unfruchtbaren Abenteuer gerettet zu
sein
und ihm nun mit dieser Umarmung die bitter-süße Last der Liebe für sein
zukünftiges Leben wie ein Erbe überließ. All dies verstand das Kind von
damals
nicht, aber es fühlte, daß es sehr beseligend sei, so geliebt zu sein,
und daß
es durch diese Liebe schon verstrickt war mit dem großen Geheimnis der
Welt.
Als
sie dann die Hand von
ihm ließ, die Lippen sich den seinen entwanden und die leise Gestalt
entrauschte,
blieb noch ein Warmes zurück, ein Hauch über seinen Lippen. Und
schmeichlerisch
flog ihn Sehnsucht an, oft noch solche weiche Lippen zu spüren und so
zärtlich
umschlungen zu werden, aber dieses ahnungsvolle Vorgefühl des so
ersehnten
Geheimnisses war schon umwölkt vom Schatten des Schlafes. Noch einmal
zogen all
die Bilder der letzten Stunden farbig vorbei, noch einmal blätterte
sich das
Buch seiner Jugend verlockend auf. Dann schlief das Kind ein, und es
begann der
tiefere Traum seines Lebens.
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