lifedays-seite

moment in time



Literatur


04.3


Geschichten Stefan Zweig

Im Schnee
Eine Novelle - Wien

 



Im Schnee

Eine kleine deutsche Stadt aus dem Mittelalter, hart an der Grenze von Polen zu, mit der vierschrötigen Behäbigkeit, wie sie die Baulichkeiten des vierzehnten Jahrhunderts in sich tragen. Das farbige, bewegliche Bild, das sonst die Stadt bietet, ist zu einem einzigen Eindrucke herabgestimmt, zu einem blendenden, schimmernden Weiss, das hoch über den breiten Stadtmauern liegt und auch auf den Spitzen der Thürme lastet, um die schon die Nacht die matten Nebelschleier gezogen hat.

Es dunkelt rasch. Das laute, wirre Strassentreiben, die Thätigkeit vieler schaffender Menschen dämpft sich zu einem verrinnenden, wie aus weiter Ferne klingenden Geräusche, das nur der monotone Sang der Abendglocken in rhythmischen Absätzen durchbricht. Der Feierabend tritt seine Herrschaft an über die abgemüdeten, schlafersehnenden Handwerker, die Lichter werden immer vereinzelter und spärlicher, um dann ganz zu verschwinden. Die Stadt liegt wie ein einziges, mächtiges Wesen im tiefen Schlafe.

Jeder Laut ist gestorben, auch die zitternde Stimme des Haidewindes ist in einem linden Schlafliede ausgeklungen; man hört das leise Lispeln der stäubenden Schneeflocken, wenn ihre Wanderung ein Ziel gefunden . . . .

Plötzlich wird ein leiser Schall vernehmbar.

Es ist wie ein ferner, eiliger Hufschlag, der näher kommt. Der erstaunte schlaftrunkene Wächter der Thore geht überrascht ans Fenster, um hinauszuhorchen. Und wirklich nähert sich ein Reiter in vollem Galopp, lenkt gerade auf die Pforte zu und eine Minute später fordert eine rauhe, durch die Kälte eingerostete Stimme Einlass. Das Thor wird geöffnet, ein Mann tritt ein, der ein dampfendes Pferd zur Seite führt, das er sogleich dem Pförtner übergibt; und seine Bedenken beschwichtigt er rasch durch wenige Worte und eine grössere Geldsumme, dann eilt er mit hastigen Schritten, die durch ihre Sicherheit die Bekanntschaft mit der Localität verrathen, über den vereinsamten weissschimmernden Marktplatz hinweg, durch stille Gassen und verschneite Wege, dem entgegengesetzten Ende des Städtchens zu.

Dort stehen einige kleine Häuser, knapp aneinandergedrängt, gleichsam als ob sie der gegenseitigen Stütze bedürften. Alle sind sie schmucklos, unauffällig, verraucht und schief, und alle stehen sie in ewiger Lautlosigkeit in den verborgenen Gassen. Es ist, als hätten sie nie eine frohe, in Lust überschäumende Festlichkeit gekannt, als hätte nie eine jubelnde Freude diese erblindeten, versteckten Fenster erbeben gemacht, nie ein leuchtender Sonnenschein sein schimmerndes Gold in den Scheiben gespiegelt. Einsam, wie verschüchterte Kinder, die sich vor den andern fürchten, drücken sie sich zusammen in dem engen Complexe der Judenstadt.

Vor einem dieser Häuser, dem grössten und verhältnismässig ansehnlichsten, macht der Fremde Halt. Es gehört dem Reichsten der kleinen Gemeinde und dient zugleich als Synagoge.

Aus den Ritzen der vorgeschobenen Vorhänge dringt ein heller Lichtschimmer und aus dem erleuchteten Gemache klingen Stimmen im religiösen Gesang. Es ist das Chanukafest, das friedlich begangen wird, das Fest des Jubels und des errungenen Sieges der Makabkäer, ein Tag, der das vertriebene, schicksalgeknechtete Volk an seine einstige Kraftfülle erinnert, einer der wenigen freudigen Tage, die ihnen das Gesetz und das Leben gewährt hat. Aber die Gesänge klingen wehmüthig und sehnsuchtsvoll, und das blanke Metall der Stimmen ist rostig durch die tausend vergossenen Thränen; wie ein hoffnungsloses Klagelied tönt der Sang auf die einsame Gasse und verweht . . . .

Der Fremde bleibt einige Zeit unthätig vor dem Hause, in Gedanken und Träume verloren, und schwere, quellende Thränen schluchzen in seiner Kehle, die unwillkürlich die uralten heiligen Melodien mitsingt, die tief aus seinem Herzen emporfliessen. Seine Seele ist voll tiefer Andacht.

Dann rafft er sich auf. Mit zögernden Schritten geht er auf das verschlossene Thor zu, und der Thürklopfer fällt mit wuchtigem Schlage auf die Thür nieder, die dumpf erzittert.

Und das Erzittern vibriert durch das ganze Gebäude fort . . . .

Augenblicklich verstummt von oben der Gesang, wie auf ein gegebenes, verabredetes Zeichen. Alle sind blass geworden und sehen sich mit verstörtem Blick an. Mit einemmale ist die Feststimmung verflogen, die Träume von der siegenden Kraft eines Juda Makkabi, dem sie im Geiste alle begeistert zur Seite standen, sind versunken, das glänzende Reich der Juden, das vor ihren Augen war, ist dahin, sie sind wieder arme, zitternde, hilflose Juden. Die Wirklichkeit ist wieder auferstanden. Furchtbare Stille. Der bebenden Hand des Vorbetenden ist das Gebetbuch entsunken, keinem gehorchen die bleichen Lippen. Eine entsetzliche Beklemmung hat sich im Zimmer erhoben und hält alle Kehlen mit eiserner Faus umkrampft.

Sie wissen wohl,warum.

Ein furchtbares Wort war zu ihnen gedrungen, ein neues, unerhörtes Wort, dessen blutige Bedeutung sie an ihrem eigenen Volke fühlen mussten. Die Flagellanten waren in Deutschland erschienen, die wilden, gotteseifrigen Männer, die in korybantischer Lust und Verzückung ihren eigenen Leib mit Geisselhieben zerfleischten, trunkene, wahnsinnswüthende Scharen, die tausende von Juden hingeschlachtet und gemartert hatten, die ihnen ihr heiligstes Palladium, den alten Glauben der Väter gewaltsam entreissen wollten. Und das war ihre schwerste Furcht. - Gestossen, geschlagen, beraubt zu werden, Sclaven zu sein, alles hatten sie hingenommen mit einer blinden fatalistischen Geduld; Ueberfälle in später Nacht mit Brand und Plünderung hatte jeder erlebt und immer wieder läuft ein Schauder durch ihre Glieder, wenn sie solcher Zeiten gedachten.

Und vor wenigen Tagen war erst das Gerücht gekommen, auch gegen ihr Land, das bisher die Geissler nur dem Namen nach gekannt, sei eine Schar aufgebrochen und sollte nicht mehr ferne sein. Vielleicht waren sie schon hier?

Ein furchtbarer Schrecken, der den Herzschlag hemmte, hat jeden erfasst. Sie sehen schon wieder die blutgierigen Scharen mit den weinberauschten Gesichtern mit wilden Schritten in die Häuser stürmen, lodernde Fackeln in der Hand, in ihren Ohren klingt schon der erstickte Hilferuf ihrer Frauen, die die wilde Lust der Mörder büssen, sie fühlen schon die blitzenden Waffen. Alles ist wie ein Traum, so deutlich und lebendig. -

Der Fremde horcht hinauf, und als ihm kein Einlass gewährt wird, wiederholt er den Schlag, der wiederum dumpf und dröhnend durch das verstummte, verstörte Haus zittert. -

Inzwischen hat der Herr des Hauses, der Vorbeter, dem der weiss herabwallende Bart und das hohe Alter das Ansehen eines Patriarchen gibt, als erster ein wenig Fassung gewonnen. Mit leiser Stimme murmelt er: "Wie Gott will." Und dann beugt er sich zu seiner Enkelin hin, einem schönen Mädchen, das in ihrer Angst an ein Reh erinnert, welches sich mit flehenden grossen Augen dem Verfolger entgegenwendet: "Sieh' hinaus, wer es ist, Lea!"

Das Mädchen, auf dessen Mienen sich die Blicke aller concentrieren, geht mit scheuen Schritten zum Fenster hin, wo sie den Vorhang mit zitternden, blassen Fingern hinwegschiebt. Und dann ein Ruf, der aus tiefster Seele kommt: "Gottlob, ein einzelner Mann."

"Gott sei gelobt," klingt wie ein Seufzer der Erleichterung von allen Seiten wieder. Und nun kommt auch Bewegung in die starren Gestalten, auf denen der furchtbare Alp gelastet hat, einzelne Gruppen bilden sich, die theils in stummem Gebete stehen, andere besprechen voll Angst und Ungewissheit die unerwartete Ankunft des Fremden, der jetzt zum Thore eingelassen wird.

Das ganze Zimmer ist von einem schwülen, drückenden Duft von Scheiten und der Anwesenheit so vieler Menschern erfüllt, die alle um den reichgedeckten Festtisch versammelt gewesen waren, auf dem das Wahrzeichen und Symbol des heiligen Abends, der siebenarmige Leuchter, steht, dessen einzelne Kerzen matt durch den schwelenden Dunst brennen. Die Frauen sind in reichen schmuckbesetzten Gewändern, die Männer in den wallenden Kleidern mit weissen Gebetbinden angethan. Und das enge Gemach ist von einer tiefen Feierlichkeit durchweht, wie sie nur die echte Frömmigkeit zu verleihen vermag.

Nun kommen schon die raschen Schritte des Fremden die Treppe herauf, und jetzt tritt er ein.

Zugleich dringt ein fürchterlicher, scharfer Windstoss in das warme Gemach, den das geöffnete Thor hereinleitet. Und eisige Kälte strömt mit der Schneeluft herein und umfröstelt alle. Der Zugwind löscht die flackernden Kerzen am Leuchter, nur eine zuckt noch ersterbend hin und her. Plötzlich ist dadurch das Zimmer in ein schweres, ungemütliches Dämmerlicht gehüllt, es ist, als ob sich jäh eine kalte Nacht von den Wänden herabsenken möchte. Mit einem Schlage ist das Behagliche, Friedliche verflogen, jeder fühlt die üble Vorbedeutung, die in dem Verlöschen der heiligen Kerzen liegt, und der Aberglaube macht sie wieder von neuem schauern. Aber keiner wagt ein Wort zu sprechen. -

An der Thüre steht ein hochgewachsener, schwarzbärtiger Mann, der kaum älter sein dürfte als dreissig Jahre, und entledigt sich rasch der Tücher und Decken, mit denen er sich gegen die Kälte vermummt hatte. Und im Augenblicke, wo seine Züge im Dämmerschein der kleinen, flackernden letzten Kerzenflamme sichtbar werden, eilt Lea auf ihn zu und umfängt ihn.

Es ist Josua, ihr Bräutigam aus der benachbarten Stadt.

Auch die andern drängen sich lebhaft um ihn herum und begrüssen ihn freudig, um aber bald zu verstummen, denn er wehrt seine Braut mit ernster, trauriger Miene ab und ein schweres sorgenvolles Wissen hat breite Furchen in seine Stirn gegraben. Alle Blicke sind ängstlich auf ihn gerichtet, der seine Worte gegen die strömende Flut seiner Empfindungen nicht vertheidigen kann. Er fasst die Hände der Zunächststehenden, und leise entringt sich das schwere Geheimnis seinen Lippen:

"Die Flagellanten sind da!"

Die Blicke, die sich auf ihn fragend gerichtet haben, sind erstarrt, und er fühlt, wie die Pulse der Hände, die er hält, plötzlich stocken. Mit zitternden Händen hält sich der Vorbeter an dem schweren Tische an, dass die Krystalle der Gläser leise zu singen beginnen und zitternde Töne entschwingen. Wieder hält die Angst die verzagten Herzen umkrallt und presst den letzten Blutstropfen aus den erschreckten, verwüsteten Gesichtern, die auf den Boten starren.

Die letzte Kerze flackert noch einmal und verlöscht . . . .

Nur die Ampel beleuchtet noch matt die verstörten, vernichteten Menschen, die das Wort wie ein Blitzschlag getroffen hat.

Eine Stimme murmelt leise das schicksalsgewohnte, resignierte "Gott hat es gewollt!"

Aber die übrigen sind noch fassungslos.

Doch der Fremde spricht weiter, abgerissen, heftig, als ob er selbst seine Worte nicht hören wollte.

"Sie kommen - viele - hunderte. - Und vieles Volk mit ihnen. - Blut klebt an ihren Händen - sie haben gemordet, tausende - alle von uns, im Osten. - Sie waren schon in meiner Stadt . . . ."

Ein furchtbarer Schrei einer Frauenstimme, dessen Kraft die herabstürzenden Thränen nicht mildern können, unterbricht ihn. Ein Weib, noch jung, erst kurz verheiratet, stürzt vor ihn hin.

"Sie sind dort?! - Und meine Eltern, meine Geschwister? Ist ihnen ein Leid geschehen?"

Er beugt sich zu ihr nieder und seine Stimme schluchzt, wie er leise zu ihr sagt, dass es wie eine Tröstung klingt:

"Sie kennen kein menschliches Leid mehr."

Und wieder ist es still geworden, ganz still . . . . Das furchtbare Gespenst der Todesfurcht steht unter ihnen und macht sie erzittern . . . .; Es ist keiner von ihnen, der nicht dort in der Stadt einen lieben Todten gehabt hätte.

Und da beginnt der Vorbeter, dem Thränen in den silbernen Bart hinabrinnen und dem die spröde Stimme nicht gehorchen will, mit abgerissenen Worten das uralte, feierliche Todtengebet zu singen. Und alle stimmen ein. Sie wissen es selbst nicht, dass sie singen, sie wissen nichts von Wort und Melodie, die sie mechanisch nachsprechen, jeder denkt nur an seine Lieben. Und immer mächtiger wird der Gesang, immer tiefer die Athemzüge, immer mühsamer das Zurückdrängen der emporquellenden Gefühle, immer verworrener die Worte, und schliesslich schluchzen alle in wildem fassungslosen Leid. Ein unendlicher Schmerz hat sie alle brüderlich umfangen, für den es keine Worte mehr gibt.

Tiefe Stille . . . .

Nur ab und zu ein tiefes Schluchzen, das sich nicht unterdrücken lassen will . . . .

Und dann wieder die schwere, betäubende Stimme des Erzählenden:

"Sie ruhen alle bei Gott. Keiner ist ihnen entkommen. Ich allein entfloh durch Gottes Fügung . . . . "

"Sein Name sei gelobt," murmelt der ganze Kreis in instinctivem Frömmigkeitsgefühl. Wie eine abgebrauchte Formel klingen die Worte aus dem Munde der gebrochenen zitternden Menschen.

"Ich kam zu spät in die Stadt, von einer Reise zurück; die Judenstadt war schon erfüllt mit den Plünderern . . . .; Man erkannte mich nicht, ich hätte flüchten können - aber es trieb mich hin, unwillkürlich an meinen Platz, zu meinem Volke, mitten unter sie, die unter den geschwungenen Fäusten fielen. Plötzlich reitet einer auf mich zu, schlägt aus nach mir -; er fehlt und schwankt im Sattel. Und da plötzlich fasst mich der Trieb zum Leben, die unerklärliche Kette, die uns an unsern Jammer fesselt - eine Leidenschaft gibt mir Kraft und Muth, ich reisse ihn vom Pferde und stürme selbst auf seinem Ross in die Weite, in die dunkle Nacht, zu Euch her: einen Tag und eine Nacht bin ich geritten."

Er hält einen Augenblick inne. Dann sagt er mit festerer Stimme: "Genug jetzt von dem allen! Zunächst, was thun?"

Und von allen Seiten die Antwort:

"Flucht!" - "Wir müssen fliehen!" - - "Nach Polen hinüber!"

Es ist das einzige Hilfsmittel, das alle wissen, die abgebrauchte, schmähliche und doch unersetzliche Kampfesart des Schwächeren gegen den Starken. An Widerstand denkt keiner. Ein Jude sollte kämpfen oder sich vertheidigen? Das ist in ihren Augen etwas Lächerliches und Undenkbares, sie leben nicht mehr in der Zeit der Makkabiter, es sind wieder die Tage der Knechtschaft, der Egypter gekommen, die dem Volke den ewigen Stempel der Schwäche und Dienstbarkeit aufgedrückt haben, den nicht Jahrhunderte mit den Fluten der Jahre verwaschen können.

Also Flucht!

Einer hatte die schüchterne Ansicht geltend machen wollen, man möge den Schutz der Bürger in Anspruch nehmen, aber ein verächtliches Lächeln war die Antwort gewesen. Ihr Schicksal hatte die Geknechteten immer wieder zu sich selbst und zu ihrem Gotte zurückgeführt. Ein Vertrauen auf einen dritten kannten sie nicht mehr.

Man besprach nun alle näheren Umstände. Alle diese Männer, die es als ihr einziges Lebensziel betrachtet hatten, Geld zusammenzuscharren, die im Reichthum den Gipfel menschlicher Glückseligkeit und Machtstellung sahen, stimmten jetzt überein, dass man kein Opfer scheuen müsste, um die Flucht zu beschleunigen. Jedes Besitzthum musste zu barem Gelde gemacht werden, wenn auch unter den ungünstigsten Umständen, Wagen waren zu beschaffen, Gespann und das Nothdürfstige zum Schutze gegen die Kälte. Mit einem Schlage hatte die Todesfurcht ihre nationale Eigenschaft verwischt, ebenso wie sie die einzelnen Charaktere zu einem einzigen Willen zusammengeschmiedet. In allen den bleichen, abgemüdeten Gesichtern arbeiteten die Gedanken einem Ziele zu.

Und als der Morgen seine lohenden Fackeln entflammte, da war schon alles berathen und beschlossen. Mit der Beweglichkeit ihres Volkes, das die Welt durchwandert hatte, fügten sie sich dem schweren Banne der Situation und ihre letzten Beschlüsse und Verfügungen klangen wieder in einem Gebet aus.

Jeder ging, seinen Theil am Werke zu vollbringen.

Und im leisen Singen der Schneeflocken, die schon hohe Wälle in den schimmernden Strassen gethürmt hatten, starb mancher Seufzer dahin. . . . .


* * * * * *

Dröhnend fiel hinter dem letzten Wagen der Flüchtenden das grosse Stadtthor zu . . . 

Am Himmel leuchtete der Mond nur als schwacher Schein, aber sein Glanz versilberte die Myriaden Flocken, die übermüthige Figuren tanzten, sich in den Kleidern versteckten, um die schnaubenden Nüstern der Pferde flitterten und an den Rädern knirschten, die sich nur mühsam den Weg durch die dicken Schneemassen bahnten.

Aus den Wagen flüsterten leise Stimmen. Frauen, die ihre Erinnerungen an die Heimatstadt, die in sicherer, selbstbewusster Grösse noch knapp vor ihren Augen lag, mit wehmüthigen, leise singenden Worten austauschten, helle Kinderstimmen, die nach tausend Dingen fragten und forschten, die aber iimmer stiller und seltsamer wurden und endlich mit einem gleichmässigen Athmen wechselten, klangen melodisch von dem sonoren Tone der Männer ab, die sorgenvoll die Zukunft beriethen und leise Gebete murmelten. Alle waren eng aneinander geschmiegt durch das Bewusstsein ihrer Zusammengehörigkeit und aus instinctiver Furcht vor der Kälte, die aus allen Lücken und Löchern wie mit eisigem Athem hereinblies und die Finger der Lenker erstarren machte.

Der erste Wagen hielt an.

Sofort blieb die ganze Reihe der übrigen stehen. Aus allen den wandernden Zelten sahen blasse Köpfe nach der Ursache des Stockens. Aus dem ersten Wagen war der Aelteste gestiegen, und sämmtliche folgten seinem Beispiele, denn sie hatten den Grund der Rast erkannt.

Sie waren noch nicht weit von der Stadt; durch das eisige Geriesel konnte man noch undeutlich den Thurm erkennen, der sich wie eine drohende Hand aus der weiten Ebene erhebt, und von dessen Spitze ein Schimmer ausgeht, wie der eines Edelsteines an einer beringten Hand.

Hier war alles glatt und weiss, wie die erstarrte Oberfläche eines Sees. Nur hie und da zeigten sich in einem abgegrenzten Raum kleine, gleichmässige Erhöhungen, unter denen sie ihre Lieben wussten, die hier ausgestossen und einsam, wie das ganze Volk, fern von ihrer Heimatstatt ein stilles, ewiges Bett gefunden hatten.

Tiefe Stille, die nur das leise Schluchzen durchbricht.

Und heisse Thränen rinnen über die ertarrten, leiderfahrenen Gesichter herab und werden im Schnee zu blanken Eistropfen.

Vergangen und vergessen ist alle Todesfurcht, wie sie den tiefen stummen Frieden sehen. Und alle überkommt mit einemmale eine unendliche, thränenschwere, wilde Sehnsucht nach dieser ewigen, stillen Ruhe am "guten Ort", zusammen mit ihren Lieben. Es schläft so viel von ihrer Kindheit unter dieser weissen Decke, so viel selige Erinnerungen, so unendlich viel Glück, wie sie es nie mehr wieder erleben werden. Das fühlt jeder und jeden fasst die Sehnsucht nach dem "guten Ort".

Aber die Zeit drängt zum Aufbruch.

Sie kriechen wieder in die Wagen hinein, eng und fest gegeneinander, denn während sie im Freien die schneidende Kälte nicht verspürt, schleicht jetzt wieder das eisige Frösteln ihre bebenden, zitternden Körper hinauf und schlägt die Zähne gegeneinander. Und im Dunkeln des Wagens finden sich die Blicke mit dem Ausdrucke einer unsagbaren Angst und eines unendlichen Leides . . .

Ihre Gedanken aber ziehen immer wieder den Weg zurück, den die breiten Furchen der Gespanne in den Schnee gezwängt, zurück zum Orte ihrer Sehnsucht, zum "guten Ort".

Es ist Mitternacht vorbeigezogen. Die Wagen sind schon weit weg von der Stadt, mitten in der gewaltigen Ebene, die der Mond hell überflutet und die von den schimmernden Reflexen des Schnees wie mit weissen, wallenden Schleiern umwoben ist. Mühsam stapfen die starken Rosse durch die dicke Schicht, die sich an den Rändern zäh anheftet, langsam, fast unmerklich holpern die Gefährte weiter; es ist als ob sie jeden Augenblick stehen bleiben würden.

Die Kälte ist furchtbar geworden und schneidet wie mit eisigen Messern in die Glieder, die schon viel von ihrer Beweglichkeit eingebüsst haben. Und nach und nach ist auch ein starker Wind mit gierigen Händen, die sich nach den Opfern ausrecken, reisst es an den Zeltdecken, die unablässig geschüttelt werden und nur mehr mit Mühe von den starren Händen stärker befestigt werden können.

Und immer lauter singt der Sturm und in seinem Lied verklingen die betenden, leise lispelnden Stimmen der Männer, deren eiserstarrte Lippen nur mehr mit Anstrengung die Worte formen können. Unter dem schrillen Pfeifen erstirbt das fassungslose, zukunftsbange Schluchzen der Frauen und das eigensinnige Weinen der Kinder, denen die Kälte den Druck der Müdigkeit genommen.

Aechzend rollen die Räder durch den Schnee.

Im letzten Wagen schmiegt sich Lea an ihren Bräutigam an, der ihr mit trauriger, monotoner Stimme von dem grossen Leide erzählt. Und er schlingt den starren Arm fest um ihren mädchenhaften, schmalen Körper, als wollte er sie gegen die Angriffe der Kälte und gegen jeden Schmerz behüten. Und sie sieht ihn mit dankbaren Blicken an und in das Gewirre von Klagen und Stürmen verrinnen einige sehnsuchtszärtliche Worte, die beide an Tod und Gefahr vergessen machen . . . .

Plötzlich ein harter Ruck, der alle zum Schwanken bringt.

Und dann bleibt der Wagen stehen.

Undeutlich vernimmt man von den vorderen Gespannen her durch die tosende Flut des Sturmes laute Worte, Peitschenknall und Gemurmel von erregten Stimmen, das nicht verstummen will. Man verlässt die Wagen, eilt durch die schneidende Kälte nach vorne, wo ein Pferd des Gespannes gestürzt ist und das zweite mit sich gerissen hat. Um die Rosse herum die Männer, die helfen wollen, aber nicht können, denn der Wind stösst sie wie schwache, achtlose Puppen, und die Flocken blenden ihre Augen und die Hände sind erstarrt, kraftlos, wie Holz liegen die Finger aneinander. Und weiterhin keine Hilfe, nur die Ebene, die im stolzen Bewusstsein ihrer Unendlichkeit sich ohne Linien in dem Schneedämmer verliert und der Sturm, der ihre Rufe achtlos verschlingt.

Da wird wieder das traurige, volle Bewusstsein ihrer Lage in ihnen wach. In neuer, furchtbarer Gestalt greift der Tod wieder nach ihnen, die hilflos beisammenstehen in ihrer Wehrlosigkeit, gegen die unbekämpfbaren, unversiegbaren Kräfte der Natur, gegen die unabwendbare Waffe des Frostes.

Immer wieder posaunt der Sturm ihnen das Wort ins Ohr: Hier musst du sterben -, sterben -

Und die Todesfurcht wird in ihnen zu resignierter hoffnungsloser Ergebenheit.

Keiner hat es laut ausgesprochen, allen kam der Gedanke zugleich. Sie klettern unbeholfen, wie es die steifen Glieder gestatten, in die Wagen hinein, eng aneinander, um zu sterben.

Auf Hilfe hoffen sie nicht mehr.

Sie schmiegen sich zusammen, jeder zu seinen Liebsten, um im Tode beisammen zu sein. Draussen singt der Sturm, ihr ewiger Begleiter, ein Sterbelied, und die Flocken bauen um die Wagen einen grosen, schimmernden Sarg.

Und langsam kommt der Tod. Durch alle Ecken und Poren fliesst die eisige, stechende Kälte herein, wie ein Gift, das behutsam, seines Erfolges sicher, Glied auf Glied ergreift . . . .

Langsam rinnen die Minuten, als wollten sie dem Tode Zeit geben, sein grosses Werk der Erlösung zu vollführen . . . .

Schwere, bange Stunden ziehen vorbei, deren jede verzagt Seelen in die Ewigkeit trägt.

Der Sturm singt fröhlich und lacht in wildem Hohn über dieses Drama der Alltäglichkeit. Und achtlos streut der Mond sein Silber über Leben und Tod.

Im letzten Wagen ist tiefe Stille. Einige sind schon todt, andere in dem hallucinatorischen Bann, mit dem das Erfrieren den Tod verschönt. Aber alle sind sie still und leblos nur die Gedanken schiessen noch wie heisse Blitze wirr durcheinander . . . .

Josua hält seine Braut mit kalten Fingern umspannt. Sie ist schon todt, aber er weiss es nicht . . . .

Er träumt . . . . . . :

Er sitzt mit ihr in dem duftdurchwärmten Gemach; der goldene Leuchter flammt mit seinen sieben Kerzen und alle sitzen sie wieder beisammen wie einstmals. Der Abglanz des Freudenfestes ruht auf den lächelnden Gesichtern, die freundliche Worte und Gebete sprechen. Und längst gestorbene Personen kommen zum grossen Thore herein, auch seine todten Eltern, aber es wundert ihn nicht mehr. Und sie küssen sich zärtlich und sprechen vertraute Worte. Und immer mehr nahen, Juden in altväterlichen, verblichenen Trachten und Gewändern und es kommen die Helden, Juda Makkabi und alle die anderen; sie setzen sich zu ihnen und sprechen und sind fröhlich. Und immer mehr nahen. Das Zimmer ist voll von Gestalten, seine Augen werden müde vom Wechsel der Personen, die immer rascher wandeln und durcheinanderjagen, sein Ohr dröhnt von dem Wirren der Geräusche. Es hämmert und dröhnt in seinen Pulsen, heisser, immer heisser —.

Und plötzlich ist alles still, vorbei . . . .

Nun ist die Sonne aufgegangen und die Schneeflocken, die noch immer niederhasten, schimmern wie Diamanten. Und wie von Edelsteinen schimmert es auf auf dem breiten Hügel, der über und über mit Schnee bedeckt, sich über Nacht aus der Ebene erhoben hat.

Es ist eine frohe, starke Sonne, beinahe eine Lenzsonne, die plötzlich zu leuchten begonnen hat. Und wirklich ist auch der Frühling nicht mehr fern. Bald wird er alles wieder knospen und grünen lassen und wird das weisse Linnen nehmen von dem Grabe der armen, verirrten, erfrorenen Juden, die in ihrem Leben einen Frühling nie gekannt . . . . . . .






__________________________
Textgrundlage
:
Im Schnee, Eine Novelle, Stefan Zweig,
erschienen in Die Welt: Zentralorgan der Zionistischen
Bewegung , 1914, Heft 32, Seite 10-13,

Berlin, Verlag der Welt
Die Welt : Zentralorgan der Zionistischen Bewegung
(1.1897 - 18.1914,32; damit Ersch. eingest.) H. 31, S. 10-13

Sammlungen UB-Uni-Fra

Logo 678: Cought by the storm, Nikolay Sverchkov,
gmeinfrei
wikimedia

   lifedays-seite - moment in time