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Literatur


04.3


Geschichten Stefan Zweig

Schachnovelle





Schachnovelle - Seite 5

Wie dieser grauenhafte, dieser unbeschreibbare Zustand zur Krise kam, vermag ich nicht zu berichten. Alles was ich darüber weiss, ist, dass ich eines Morgens aufwachte und es war ein anderes Erwachen als sonst. Mein Körper war gleichsam abgelöst von mir, ich ruhte weich und wohlig. Eine dichte gute Müdigkeit, wie ich sie seit Monaten nicht gekannt, lag auf meinen Lidern, lag so warm und wohltätig auf ihnen, dass ich mich zuerst garnicht entschliessen konnte, die Augen aufzutun. Minuten lag ich schon wach und genoss noch diese schwere Dumpfheit, dies laue Liegen mit wohllustig betäubten Sinnen. Auf einmal war mir, als ob ich hinter mir Stimmen hörte, lebendige menschliche Stimmen, leise flüsternde Stimmen, die Worte sprachen, und Sie können sich mein Entzücken nicht ausdenken, denn ich hatte doch seit Monaten, seit bald einem Jahr keine anderen Worte gehört als die harten, scharfen und bösen von der Richterbank. “Du träumst”, sagte ich mir. “Du träumst! Tu’ keinesfalls die Augen auf! Lass ihn noch dauern, diesen Traum, sonst siehst du wieder die verfluchte Zelle um dich, den Stuhl und den Waschtisch und den Tisch und die Tapete mit dem ewig gleichen Muster. Du träumst — träume weiter!”

Aber die Neugier behielt die Oberhand. Ich schlug langsam und vorsichtig die Lider auf. Und Wunder: es war ein anderes Zimmer, in dem ich mich befand, ein Zimmer, breiter, geräumiger als meine Hotelzelle. Ein ungegittertes Fenster liess freies Licht herein und einen Blick auf Bäume, grüne, im Wind wogende Bäume statt meiner starren Feuermauer, weiss und glatt glänzten die Wände, weiss und hoch hob sich über mir die Decke — wahrhaftig, ich lag in einem neuen, einem fremden Bett und wirklich, es war kein Traum, hinter mir flüsterten leise menschliche Stimmen. Unwillkürlich muss ich mich in meiner Ueberraschung heftig geregt haben, denn schon hörte ich hinter mir einen nahenden Schritt. Eine Frau kam weichen Gelenks heran, eine Frau mit weisser Haube über dem Haar, eine Pflegerin, eine Schwester. Ein Schauer des Entzückens lief über mich: ich hatte schon seit einem Jahr keine Frau gesehen. Ich starrte die holde Erscheinung an, und es muss ein wilder, ekstatischer Aufblick gewesen sein, denn “Ruhig! Bleiben Sie ruhig!” beschwichtigte mich die dringlich Nahende. Ich aber lauschte nur auf ihre Stimme — war das nicht ein Mensch, der sprach! Gab es wirklich noch auf Erden einen Menschen, der mich nicht verhörte, nicht quälte? Und dazu noch — unfassbares Wunder! — eine weiche, warme, eine fast zärtliche Frauenstimme. Gierig starrte ich auf ihren Mund, denn es war mir in diesem Höllenjahr unwahrscheinlich geworden, dass ein Mensch gütig zu einem anderen sprechen konnte. Sie lächelte mir zu — ja, sie lächelte, es gab noch Menschen, die gütig lächeln konnten — dann legte sie den Finger mahnend auf die Lippen und ging leise weiter. Aber ich konnte ihrem Gebot nicht gehorchen. Ich hatte mich noch nicht sattgesehen an dem Wunder. Gewaltsam versuchte ich mich in dem Bette aufzurichten, um ihr nachzublicken, diesem Wunder eines menschlichen Wesens nachzublicken, das gütig war. Aber wie ich mich auf dem Bettrand aufstützen wollte, gelang es mir nicht. Wo sonst meine rechte Hand gewesen, Finger und Gelenke, spürte ich etwas Fremdes, einen dicken, grossen, weissen Bausch, offenbar einen umfangreichen Verband. Ich staunte dieses Weisse, Dicke, Fremde an meiner Hand zuerst verständnislos an, dann begann ich langsam zu begreifen, wo ich war, und zu überlegen, was mit mir geschehen sein mochte. Man musste mich verwundet haben oder ich hatte mich selbst an der Hand verletzt. Ich befand mich in einem Hospital.

Mittags kam der Arzt, ein freundlicher älterer Herr. Er kannte den Namen meiner Familie und erwähnte derart respektvoll meinen Onkel, den kaiserlichen Leibarzt, dass mich sofort das Gefühl überkam, er meine es gut mit mir. Im weiteren Verlauf richtete er allerhand Fragen an mich, vor allem eine, die mich erstaunte, — ob ich Mathematiker sei oder Chemiker. Ich verneinte.

“Sonderbar” , murmelte er. “ Im Fieber haben Sie immer so sonderbare Formeln geschrieen, a3, c4. Wir haben uns alle nicht ausgekannt.”

Ich erkundigte mich, was mit mir vorgegangen sei. Er lächelte merkwürdig.

“Nichts Ernstliches. Eine akute Irritation der Nerven”, und fügte, nachdem er sich zuvor vorsichtig umgeblickt hatte, leise bei: “Schliesslich eine recht verständliche. Seit dem 13. Marz, nicht wahr?”

Ich nickte.

“Kein Wunder bei dieser Methode”, murmelte er.

“Sie sind nicht der erste. Aber sorgen Sie sich nicht.” An der Art, wie er mir dieses beruhigend zuflüsterte und dank seines begütigendes Blickes wusste ich, dass ich bei ihm gut geborgen war.

Zwei Tage später erklärte mir der gütige Doktor ziemlich freimütig, was vorgefallen war. Der Wärter hatte mich in meiner Zelle laut schreien hören und zunächst geglaubt, dass jemand eingedrungen sei, mit dem ich streite. Kaum er sich aber an der Tür gezeigt, hatte ich mich auf ihn gestürzt und ihn mit wilden Ausrufen angeschrien, die ähnlich klangen wie: “Zieh schon einmal, du Schuft, du Feigling!”, ihn bei der Gurgel zu fassen versucht und schliesslich so wild angefallen, dass er um Hilfe rufen musste. Als man mich in meinem tollwütigen Zustand dann zur ärztlichen Untersuchung schleppte, hatte ich mich plötzlich losgerissen, auf das Fenster im Gang gestürzt, die Scheibe zerschlagen und mir dabei die Hand zerschnitten —. Sie sehen noch die tiefe Narbe hier. Die ersten Nächte im Hospital hatte ich in einer Art Gehirnfieber verbracht, aber jetzt finde er mein Sensorium völlig klar. “Freilich”, fügte er leise bei, “werde ich das lieber nicht den Herrschaften melden, sonst holt man Sie am Ende noch einmal dorthin zurück. Verlassen Sie sich auf mich, ich werde mein Bestes tun.”

Was dieser hilfreiche Arzt meinen Peinigern über mich berichtet hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls erreichte er, was er erreichen wollte: meine Entlassung. Mag sein, dass er mich als unzurechnungsfähig erklärt hat, oder vielleicht war ich inzwischen schon der Gestapo unwichtig geworden, denn Hitler hatte seitdem Böhmen besetzt und damit war der Fall Oesterreich für ihn erledigt. So brauchte ich nur die Verpflichtung zu unterzeichnen, unsere Heimat innerhalb von vierzehn Tagen zu verlassen, und diese vierzehn Tage waren dermassen erfüllt mit all den tausend Formalitäten, die heutzutage der einstmalige Weltbürger zu einer Ausreise benötigt, Militärpapiere, Polizei, Steuer, Pass, Visum, Gesundheitszeugnis, dass ich keine Zeit hatte, über das Vergangene viel nachzudenken. Anscheinend wirken in unserem Gehirn geheimnisvoll regulierende Kräfte, die, was der Seele lästig und gefährlich werden kann, selbsttätig ausschalten, denn immer wenn ich zurückdenken wollte an meine Zellenzeit, löschte gewissermassen in meinem Gehirn das Licht aus; erst nach Wochen und Wochen, eigentlich erst hier auf dem Schiff, fand ich wieder den Mut zu besinnen, was mir geschehen war.

Und nun werden Sie begreifen, warum ich mich so ungehörig und wahrscheinlich unverständlich Ihren Freunden gegenüber benommen. Ich schlenderte doch nur zufällig durch den Rauchsalon, als ich Ihre Freunde vor dem Schachbrett sitzen sah; unwillkürlich fühlte ich den Fuss angewurzelt vor Staunen und Schrecken. Denn ich hatte total vergessen, dass man Schach spielen kann an einem wirklichen Schachbrett und mit wirklichen Figuren, vergessen, dass bei diesem Spiel zwei völlig verschiedene Menschen einander leicht gegenübersitzen. Ich brauchte wahrhaftig ein paar Minuten, um mich zu erinnern, dass was diese Spieler dort taten, im Grunde dasselbe Spiel war, das ich in meiner Hilflosigkeit monatelang gegen mich selbst versucht. Die Chiffern, mit denen ich mich beholfen während meiner grimmigen Exerzitien, waren doch nur Ersatz gewesen und Symbol für diese beinernen Figuren; meine Ueberraschung, dass dieses Figurenrücken auf dem Brett dasselbe sei wie mein imaginäres Phantasieren im Denkraum, mochte vielleicht der eines Astronomen ähnlich sein, der sich mit den kompliziertesten Methoden auf dem Papier einen neuen Planeten errechnet hat und ihn dann wirklich am Himmel erblickt als einen weissen, klaren, substanziellen Stern. Wie magnetisch festgehalten starrte ich auf das Brett und sah dort meine Schemata, Pferd, Turm, König, Königin und Bauern als reale Figuren, aus Holz geschnitzt; um die Stellung der Partie zu überblicken, musste ich sie erst unwillkürlich zurückmutieren aus meiner abstrakten Ziffernwelt in die der bewegten Steine. Allmählich überkam mich die Neugier, ein solches reales Spiel zwischen zwei Partnern zu beobachten. Und da passierte das Peinliche, dass ich, alle Höflichkeit vergessend, mich einmengte in Ihre Partie. Aber dieser falsche Zug Ihres Freundes traf mich wie ein Stich ins Herz. Es war reine Instinkthandlung, dass ich ihn zurückhielt, ein ganz impulsiver Zugriff, wie man ohne zu überlegen ein Kind fasst, das sich über ein Geländer beugt. Erst später wurde mir die grobe Ungehörigkeit klar, deren ich mich durch meine Vordringlichkeit schuldig gemacht.”

Ich beeilte mich, Dr. B. zu versichern, wie sehr wir alle uns freuten, diesem Zufall seine Bekanntschaft zu verdanken und dass es für mich nach all dem, was er mir anvertraut, nun doppelt interressant sein werde, ihm morgen bei dem improvisierten Turnier zusehen zu dürfen. Dr. B. machte eine unruhige Bewegung.

“Nein, erwarten Sie wirklich nicht zu viel. Es soll nichts als eine Probe für mich sein. . . , eine Probe, ob ich, ob ich überhaupt fähig bin, eine normale Schachpartie zu spielen, eine Partie auf einem wirklichen Schachbrett mit faktischen Figuren und einem lebendigen Partner. . . , denn ich zweifle jetzt immer mehr daran, ob jene hunderte und vielleicht tausende Partien, die ich gespielt habe, tatsächlich regelrechte Schachpartien waren und nicht bloss eine Art Traumschach, ein Fieberspiel? ein Fieberschach, in dem wie immer im Traum Zwischenstufen übersprungen werden. Sie werden mir doch hoffentlich nicht im Ernst zumuten, dass ich mich anmasse, einem Schachmeister und gar dem ersten der Welt Paroli bieten zu können. Was mich interessiert und intrigiert, ist einzig die posthume Neugier, festzustellen, ob das in der Zelle damals noch Schachspiel oder schon Wahnsinn gewesen, ob ich damals noch knapp vor oder schon jenseits der gefährlichen Klippe mich befand — nur dies, nur dies allein!”

Vom Schiffsende dröhnte in diesem Augenblick der Gong, der zum Abendessen rief. Wir mussten — Dr. B. hatte mir alles viel ausführlicher berichtet, als ich es hier zusammenfasse — fast zwei Stunden verplaudert haben. Ich dankte ihm herzlich und verabschiedete mich. Aber noch war ich nicht das Deck entlang, da kam er mir schon nach und fügte sichtlich nervös und sogar etwas stottrig bei:

“Noch eines! Wollen Sie den Herren gleich im voraus ausrichten, damit ich nachträglich nicht unhöflich erscheine: ich spiele nur eine einzige Partie. . . Sie soll nichts als der Schlusstrich unter eine alte Rechnung sein — eine endgültige Erledigung und nicht ein neuer Anfang. . . Ich möchte nicht ein zweites Mal in dieses leidenschaftliche Spielfieber geraten, an das ich nur mit Grauen zurückdenken kann. . . und übrigens. . . übrigens hat mich auch damals der Arzt gewarnt. . . , ausdrücklich gewarnt.. . Jeder, der einer Manie verfallen war, bleibt für immer gefährdet und mit einer — wenn auch ausgeheilten — Schachvergiftung soll man besser keinem Schachbrett nahekommen . . . Also Sie verstehen — nur diese eine Probepartie für mich selbst, und nicht mehr.”

Pünktlich um die vereinbarte Stunde, drei Uhr, waren wir am nächsten Tag im Rauchsalon versammelt. Unsere Runde hatte sich noch um zwei Liebhaber der königlichen Kunst vermehrt, zwei Schiffsoffiziere, die sich eigens Urlaub vom Borddienst erbeten, um dem Turnier Zusehen zu können. Auch Czentovic liess nicht wie am vorhergehenden Tage auf sich warten, und nach der obligaten Wahl der Farben begann die denkwürdige Partie dieses homo obscurissimus gegen den berühmten Weltmeister. Es tut mir leid, dass sie nur für durchaus unkompetente Zuschauer gespielt war und ihr Ablauf für die Annalen der Schachkunde ebenso verloren ist wie Beethovens Klavierimprovisationen für die Musik. Zwar haben wir an den nächsten Nachmittagen versucht, die Partie gemeinsam aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren, aber vergeblich; wahrscheinlich hatten wir alle während des Spiels zu passioniert, zu interessiert auf die beiden Spieler statt auf den Gang des Spiels geachtet. Denn der geistige Gegensatz im Habitus der beiden Partner wurde im Verlauf der Partie immer mehr körperlich plastisch. Czentovic, der Routinier, blieb während der ganzen Zeit unbeweglich wie ein Bock, die Augen streng und starr auf das Schachbrett gesenkt; Nachdenken schien bei ihm eine geradezu physische Anstrengung, die alle seine Organe zu äusserster Konzentration nötigte. Dr. B. dagegen bewegte sich vollkommen locker und unbefangen. Als der rechte Dilettant im schönsten Sinne des Wortes, dem im Spiel nur das Spiel, das “diletto” Freude macht, liess er seinen Körper völlig entspannt, plauderte während der ersten Pausen erklärend mit uns, zündete sich mit leichter Hand eine Zigarette an und blickte immer nur gerade, wenn an ihn die Reihe kam, eine Minute auf das Brett. Jedesmal hatte es den Anschein, als hätte er den Zug des Gegners schon im voraus erwartet.

Die obligaten Eröffnungszüge ergaben sich ziemlich rasch. Erst beim siebten oder achten schien sich etwas wie ein bestimmter Plan zu entwickeln. Czentovic verlagerte seine Ueberlegungspausen; daran spürten wir, dass der eigentliche Kampf um die Vorhand einzusetzen begann. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben, bedeutete die allmähliche Entwicklung der Situation wie jede richtige Turnierpartie für uns Laien eine ziemliche Enttäuschung. Denn jemehr sich die Figuren zu einem sonderbaren Ornament ineinander verflochten, umso undurchdringlicher wurde für uns der eigentliche Stand. Wir konnten weder wahrnehmen, was der eine Gegner noch was der andere beabsichtigte und wer von beiden sich eigentlich im Vorteil befand. Wir merkten bloss, dass sich einzelne Figuren wie Hebel vorschoben, um die feindliche Front aufzusprengen, aber wir vermochten nicht — da bei diesen überlegenen Spielern jede Bewegung immer auf mehrere Züge vorauskombiniert war — die strategische Absicht in diesem Hin und Wieder zu erfassen. Dazu gesellte sich allmählich eine lähmende Ermüdung, die hauptsächlich durch die endlosen Ueberlegungspausen Czentovics verschuldet war, die auch unseren Freund sichtlich zu irritieren begannen. Ich beobachtete beunruhigt, wie er, je länger die Partie sich hinzog, immer unruhiger auf seinem Sessel herumzurücken begann, bald aus Nervosität eine Zigarette nach der anderen anzündend, bald nach dem Bleistift greifend, um etwas zu notieren. Dann wieder bestellte er ein Mineralwasser, das er Glas um Glas hastig hinabstürzte; es war offenbar, dass er hundertmal schneller kombinierte als Czentovic. Jedesmal wenn dieser nach endlosem Ueberlegen sich entschloss, mit seiner schweren Hand eine Figur vorwärtszurücken, lächelte unser Freund nur wie jemand, der etwas lang Erwartetes eintreffen sieht und ripostierte bereits. Er musste mit seinem rapid arbeitenden Verstand im Kopf alle Möglichkeiten des Gegners vorausberechnet haben; je länger darum Czentovics Entschliessung sich verzögerte, umso mehr wuchs seine Ungeduld, und um seine Lippen presste sich während des Wartens ein ärgerlicher und fast feindseliger Zug. Aber Czentovic liess sich keineswegs drängen. Er überlegte stur und stumm und pausierte immer länger, je mehr sich das Feld von Figuren entblösste. Beim zweiundvierzigsten Zuge, nach geschlagenen zweidreiviertel Stunden, sassen wir schon alle ermüdet und beinahe teilnahmslos um den Turniertisch. Einer der Schiffsoffiziere hatte sich bereits entfernt, ein andrer ein Buch zur Lektüre genommen und blickte nur bei jeder Veränderung für einen Augenblick auf. Aber da geschah plötzlich bei einem Zuge Czentovics das Unerwartete. Sobald Dr. B. merkte, dass Czentovic den Springer fasste, um ihn vorzuziehen, duckte er sich zusammen wie eine Katze vor dem Absprung. Sein ganzer Körper begann zu zittern, und kaum Czentovic den Springerzug getan, schob er scharf die Dame vor, sagte laut triumphierend: “So! Erledigt!”, lehnte sich zurück, kreuzte die Arme über der Brust und sah mit herausforderndem Blick auf Czentovic. Ein heisses Licht glomm plötzlich in seiner Pupille.

Unwillkürlich beugten wir uns über das Brett, um den so triumphierend angekündigten Zug zu verstehen. Auf den ersten Blick war keine direkte Bedrohung sichtbar. Die Aeusserung unseres Freundes musste sich also auf eine Entwicklung beziehen, die wir kurzdenkenden Dilettanten noch nicht errechnen konnten. Czentovic war der einzige unter uns, der sich bei jener herausfordernden Ankündigung nicht gerührt hatte; er sass so unerschütterlich, als ob er das beleidigende “Erledigt!” völlig überhört hatte. Nichts geschah. Man hörte, da wir alle unwillkürlich den Atem anhielten, mit einem Male das Ticken der Uhr, die man zur Feststellung der Zugzeit auf den Tisch gelegt hatte. Es wurden drei Minuten, sieben Minuten, acht Minuten — Czentovic rührte sich nicht, aber mir war, als ob sich von einer inneren Anstrengung seine dicken Nüstern noch breiter dehnten. Unserem Freunde schien dieses stumme Warten ebenso unerträglich wie uns selbst. Mit einem Ruck stand er plötzlich auf und begann im Rauchzimmer auf und ab zu gehen, erst langsam, dann schneller und immer schneller. Alle blickten wir ihm etwas verwundert zu, aber keiner beunruhigter als ich, denn mir fiel auf, dass seine Schritte trotz aller Heftigkeit, dieses Auf und Ab, immer nur die gleiche Spanne Raum ausmassen; es war, als ob er jedesmal mitten im leeren Zimmer an eine unsichtbare Schranke stiesse, die ihn nötigte umzukehren. Und schauernd erkannte ich, es reproduzierte unbewusst dieses Auf und Ab das Ausmass seiner einstigen Zelle; genau so musste er in den Monaten des Eingesperrtseins auf und ab gerannt sein wie ein eingesperrtes Tier im Käfig, genau so die Hände verkrampft und die Schultern eingeduckt; so und nur so musste er dort tausendmal auf und nieder gelaufen sein, die roten Lichter des Wahnsinns im starren und doch fieberndem Blick. Aber noch schien sein Denkvermögen völlig intakt, denn von Zeit zu Zeit wandte er sich ungeduldig dem Tisch zu, ob Czentovic sich inzwischen schon entschieden hatte. Aber es wurden neun, es wurden zehn Minuten. Dann endlich geschah, was niemand von uns erwartet hatte. Czentovic hob langsam seine schwere Hand, die bisher unbeweglich auf dem Tisch gelegen. Gespannt blickten wir alle auf seine Entscheidung. Aber Czentovic tat keinen Zug, sondern sein gewendeter Handrücken schob mit einem entschiedenen Ruck alle Figuren langsam vom Brett. Erst im nächsten Augenblick verstanden wir: Czentovic hatte die Partie aufgegeben. Er hatte kapituliert, um nicht vor uns sichtbar mattgesetzt zu werden. Das Unwahrscheinliche hatte sich ereignet, der Weltmeister, der Champion zahlloser Turniere hatte die Fahne gestrichen vor einem Unbekannten, einem Manne, der zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre kein Schachbrett angerührt. Unser Freund, der Anonymus, der Ignotus hatte den stärksten Schachspieler der Erde in offenem Kampfe besiegt!

Ohne es zu merken, waren wir in unserer Erregung einer nach dem andern aufgestanden. Jeder von uns hatte das Gefühl, er müsste etwas sagen oder tun, um unserem freudigen Schrecken Luft zu machen. Der einzige, der unbeweglich in seiner Ruhe verharrte, war Czentovic. Erst nach einer gemessenen Pause hob er den Kopf und blickte unseren Freund mit steinernem Blick an.

“Noch eine Partie?”, fragte er.

“Selbstverständlich”, antwortete Dr. B. mit einer mir unangenehmen Begeisterung und setzte sich, noch ehe ich ihn an seinen Vorsatz mahnen konnte, es bei einer Partie bewenden zu lassen, sofort wieder nieder und begann mit fiebriger Hast die Figuren neu aufzustellen. Er rückte sie mit solcher Hitzigkeit zusammen, dass zweimal ein Bauer durch die zitternden Finger zu Boden glitt; mein schon früher peinliches Unbehagen angesichts seiner unnatürlichen Erregtheit wuchs zu einer Art Angst. Denn eine sichtbare Exaltiertheit war über den vorher so stillen und ruhigen Menschen gekommen; das Zucken fuhr immer öfter um seinen Mund, und sein Körper zitterte wie von einem jähen Fieber geschüttelt.

“Nicht!”, flüsterte ich ihm leise zu. “Nicht jetzt! Lassen Sie’s für heute genug sein! Es ist für Sie zu anstrengend.”

“Anstrengend! Ha!”, lachte er laut und boshaft. “Siebzehn Partien hatte ich unterdessen spielen können statt dieser Bummelei! Anstrengend ist für mich einzig, bei diesem Tempo nicht einzuschlafen! — Nun! Fangen Sie doch schon einmal an!”

Diese letzten Worte hatte er in heftigem, beinahe groben Tone zu Czentovic gesagt. Dieser blickte ihn ruhig und gemessen an, aber sein steinern starrer Blick hatte etwas von einer geballten Faust. Mit einem Mal stand etwas Neues zwischen den beiden Spielern; eine gefährliche Spannung, ein leidenschaftlicher Hass. Es waren nicht zwei Partner mehr, die ihr Können spielhaft miteinander proben wollten, es waren zwei Feinde, die sich gegenseitig zu vernichten geschworen. Czentovic zögerte lange, ehe er den ersten Zug tat und mich überkam das deutliche Gefühl, er zögerte mit Absicht so lange. Offenbar hatte der geschulte Taktiker schon herausgefunden, dass er gerade durch seine Langsamkeit den Gegner ermüdete und irritierte. So setzte er nicht weniger als vier Minuten aus, ehe er die normalste, die simpelste aller Eröffnungen machte, indem er den Königsbauer die üblichen zwei Felder vorschob. Sofort fuhr unser Freund mit seinem Königsbauern ihm entgegen, aber wieder machte Czentovic eine endlose, kaum zu ertragende Pause; es war, wie wenn ein starker Blitz niederfährt und man pochenden Herzens auf den Donner wartet und der Donner kommt und kommt nicht. Er überlegte, still, langsam und, wie ich immer gewisser fühlte, boshaft langsam; damit aber gab er mir reichlich Zeit, Dr. B. zu beobachten. Er hatte eben das dritte Glas Wasser hinuntergestürzt; unwillkürlich  erinnerte ich mich, dass er mir von seinem fiebrigen Durst in der Zelle erzählt. Alle Symptome einer abnormalen Erregung zeichneten sich deutlich ab; ich sah seine Stirn feucht werden und die Narbe auf seiner Hand röter und schärfer als zuvor. Aber noch beherrschte er sich. Erst als beim vierten Zug Czentovic wieder endlos überlegte, verliess ihn die Haltung und er fauchte ihn plötzlich an:

“Spielen Sie doch schon endlich einmal!”

Czentovic blickte kühl auf. “Wir haben meines Wissens zehn Minuten Zugzeit vereinbart. Ich spiele prinzipiell nicht mit kürzerer Zeit.”

Dr. B. biss sich die Lippe; ich merkte, wie unter dem Tisch seine Sohle unruhig und immer unruhiger gegen den Boden wippte, und wurde selbst unaufhaltsam nervöser durch das drückende Vorgefühl, dass sich irgend etwas Unsinniges in ihm vorbereitete. In der Tat ereignete sich bei dem achten Zug ein Zwischenfall. Dr. B., der immer unbeherrscht gewartet hatte, konnte seine Spannung nicht mehr verhalten; er rückte hin und her und begann unbewusst mit den Fingern auf dem Tisch zu trommeln. Abermals hob Czentovic seinen schweren baurischen Kopf. 

“Darf ich Sie bitten nicht zu trommeln. Es stört mich. Ich kann so nicht spielen.

“Hah!”, lachte Dr. B. kurz. “Das sieht man.”

Czentovics Stirn wurde rot. “Was wollen Sie damit sagen?”, fragte er scharf und böse.

Dr. B. lachte abermals knapp und boshaft. “Nichts. Nur dass Sie offenbar sehr nervös sind.”

Czentovic schwieg und bewegte seinen Kopf nieder. Erst nach sieben Minuten tat er den nächsten Zug, und in diesem tödlichen Tempo schleppte sich die Partie fort; schliesslich schaltete er immer das Maximum der vereinbarten Ueberlegungspause ein, ehe er sich zu einem Zug entschloss, und von einem Intervall zum andern wurde das Benehmen unseres Freundes sonderbarer. Es hatte den Anschein, als ob er an der Partie gar keinen Anteil mehr nehme sondern mit etwas ganz anderem beschäftigt sei. Er liess sein hitziges Auf- und Niederlaufen und blieb an seinem Platz reglos sitzen. Mit einem stieren und fast irren Blick ins Leere vor sich starrend, murmelte er ununterbrochen unverständliche Worte vor sich hin: entweder verlor er sich in endlosen Kombinationen oder er arbeitete — dies war mein innerster Verdacht — sich ganz andere Partien aus, denn jedesmal, wenn Czentovic endlich gezogen hatte, musste man ihn aus seiner Geistesabwesenheit zurückmahnen. Dann brauchte er immer einige Minuten, um sich in der Situation wieder zurechtzufinden; immer mehr beschlich mich der Verdacht, er habe eigentlich Czentovic und uns alle längst vergessen in dieser kalten Form des Wahnsinns, der sich plötzlich in irgendeiner Heftigkeit entladen konnte. Und tatsächlich, bei dem neunzehnten Zug brach die Krise aus. Kaum dass Czentovic seine Figur bewegt, stiess Dr. B. plötzlich, ohne recht auf das Brett zu blicken, seinen Läufer drei Felder vor und schrie derart laut, dass wir alle zusammenfuhren:

“Schach! Schach dem König!”

Wir blickten in der Erwartung eines besonderen Zuges sofort auf das Brett. Aber nach einer Minute geschah, was keiner von uns erwartet. Czentovic hob ganz, ganz langsam den Kopf und blickte — was er bisher nie getan — in unserem Kreise von einem zum anderen. Er schien irgend etwas unermesslich zu geniessen, denn allmählich begann auf seinen Lippen ein zufriedenes und deutlich höhnisches Lächeln. Erst nachdem er diesen seinen uns noch unverständlichen Triumph bis zur Neige genossen, wandte er sich mit falscher Höflichkeit unserer Runde zu.

“Bedaure — aber ich sehe kein Schach. Sieht vielleicht einer von den Herren ein Schach gegen meinen König?”

Wir blickten auf das Brett und dann beunruhigt zu Dr. B. hinüber. Czentovics Königsfeld war tatsächlich — ein Kind konnte das erkennen — durch einen Bauern gegen den Läufer völlig gedeckt, also kein Schach dem König möglich. Wir wurden unruhig. Sollte unser Freund in seiner Hitzigkeit eine Figur danebengestossen haben, ein Feld zu weit oder zu nah? Durch unser Schweigen aufmerksam gemacht, starrte jetzt auch Dr. B. auf das Brett und begann heftig zu stammeln:

“Aber der König gehört doch auf f7 ..., er steht falsch, ganz falsch. . . Sie haben falsch gezogen! Alles steht ganz falsch auf diesem Brett. . . , der Bauer gehört doch auf g5 und nicht auf g4. . . Das ist ja eine ganz andere Partie.. . Das ist. . . ”

Er stockte plötzlich. Ich hatte ihn heftig am Arm gepackt oder vielmehr ihn so hart in den Arm gekniffen, dass er selbst in seiner fiebrigen Verwirrtheit meinen Griff spüren musste. Er wandte sich um und starrte mich wie ein Traumwandler an.

“Was . . . was wollen Sie?”

Ich sagte nichts als “Remember!” und fuhr gleichzeitig mit dem Finger über die Narbe seiner Hand. Er folgte unwillkürlich meiner Bewegung, sein Auge starrte glasig auf den blutroten Strich. Dann begann er plötzlich zu zittern und ein Schauer lief über seinen ganzen Körper.

“Um Gotteswillen”, flüsterte er mit blassen Lippen.

“Habe ich etwas Unsinniges gesagt oder getan.. . , bin ich am Ende wieder.. .?”

“Nein”, flüsterte ich leise. “Aber Sie müssen sofort die Partie abbrechen, es ist höchste Zeit. Erinnern Sie sich, was der Arzt Ihnen gesagt!”

Dr. B. stand mit einem Ruck auf. “ Ich bitte um Entschuldigung für meinen dummen Irrtum, “ sagte er mit seiner alten höflichen Stimme und verbeugte sich vor Czentovic. “Es ist natürlich purer Unsinn, was ich gesagt habe. Selbstverständlich bleibt es Ihre Partie.” Dann wandte er sich zu uns. “Auch die Herren muss ich um Entschuldigung bitten. Aber ich hatte Sie gleich im Voraus gewarnt, Sie sollten von mir nicht viel erwarten. Verzeihen Sie die Blamage — es war das letzte Mal, dass ich mich im Schach versucht habe.”

Er verbeugte sich und ging, in der gleichen bescheidenen und geheimmnissvollen Weise, mit der er zuerst erschienen. Nur ich wusste, warum dieser Mann nie mehr ein Schachbrett berühren würde, indes die anderen ein wenig verwirrt zurückblieben mit dem ungewissen Gefühl, mit knapper Not etwas Unbehaglichem entgangen zu sein. “Damned fool”, knurrte McConnor in seiner Enttäuschung. Als letzter erhob sich Czentovic von seinem Sessel und warf noch einen Blick auf die halbbeendete Partie.

“Schade”, sagte er grossmütig. “Der Angriff war gar nicht so übel disponiert. Für einen Dilettanten ist dieser Herr eigentlich ungewöhnlich begabt.”







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