Wie dieser
grauenhafte,
dieser unbeschreibbare Zustand zur Krise kam, vermag ich nicht zu
berichten.
Alles was ich darüber weiss, ist, dass ich eines Morgens aufwachte und
es war
ein anderes Erwachen als sonst. Mein Körper war gleichsam abgelöst von
mir, ich
ruhte weich und wohlig. Eine dichte gute Müdigkeit, wie ich sie seit
Monaten
nicht gekannt, lag auf meinen Lidern, lag so warm und wohltätig auf
ihnen, dass
ich mich zuerst garnicht entschliessen konnte, die Augen aufzutun.
Minuten lag
ich schon wach und genoss noch diese schwere Dumpfheit, dies laue
Liegen mit
wohllustig betäubten Sinnen. Auf einmal war mir, als ob ich hinter mir
Stimmen
hörte, lebendige menschliche Stimmen, leise flüsternde Stimmen, die
Worte
sprachen, und Sie können sich mein Entzücken nicht ausdenken, denn ich
hatte
doch seit Monaten, seit bald einem Jahr keine anderen Worte gehört als
die
harten, scharfen und bösen von der Richterbank. “Du träumst”, sagte ich
mir. “Du
träumst! Tu’ keinesfalls die Augen auf! Lass ihn noch dauern, diesen
Traum,
sonst siehst du wieder die verfluchte Zelle um dich, den Stuhl und den
Waschtisch und den Tisch und die Tapete mit dem ewig gleichen Muster.
Du träumst
— träume weiter!”
Aber die Neugier
behielt die
Oberhand. Ich schlug langsam und vorsichtig die Lider auf. Und Wunder:
es war
ein anderes Zimmer, in dem ich mich befand, ein Zimmer, breiter,
geräumiger als
meine Hotelzelle. Ein ungegittertes Fenster liess freies Licht herein
und einen
Blick auf Bäume, grüne, im Wind wogende Bäume statt meiner starren
Feuermauer,
weiss und glatt glänzten die Wände, weiss und hoch hob sich über mir
die Decke
— wahrhaftig, ich lag in einem neuen, einem fremden Bett und wirklich,
es war
kein Traum, hinter mir flüsterten leise menschliche Stimmen.
Unwillkürlich muss
ich mich in meiner Ueberraschung heftig geregt haben, denn schon hörte
ich
hinter mir einen nahenden Schritt. Eine Frau kam weichen Gelenks heran,
eine
Frau mit weisser Haube über dem Haar, eine Pflegerin, eine Schwester.
Ein
Schauer des Entzückens lief über mich: ich hatte schon seit einem Jahr
keine
Frau gesehen. Ich starrte die holde Erscheinung an, und es muss ein
wilder,
ekstatischer Aufblick gewesen sein, denn “Ruhig! Bleiben Sie ruhig!”
beschwichtigte mich die dringlich Nahende. Ich aber lauschte nur auf
ihre
Stimme — war das nicht ein Mensch, der sprach! Gab es wirklich noch auf
Erden
einen Menschen, der mich nicht verhörte, nicht quälte? Und dazu noch —
unfassbares
Wunder! — eine weiche, warme, eine fast zärtliche Frauenstimme. Gierig
starrte
ich auf ihren Mund, denn es war mir in diesem Höllenjahr
unwahrscheinlich geworden,
dass ein Mensch gütig zu einem anderen sprechen konnte. Sie lächelte
mir zu — ja,
sie lächelte, es gab noch Menschen, die gütig lächeln konnten — dann
legte sie
den Finger mahnend auf die Lippen und ging leise weiter. Aber ich
konnte ihrem Gebot
nicht gehorchen. Ich hatte mich noch nicht sattgesehen an dem Wunder.
Gewaltsam
versuchte ich mich in dem Bette aufzurichten, um ihr nachzublicken,
diesem Wunder
eines menschlichen Wesens nachzublicken, das gütig war. Aber wie ich
mich auf
dem Bettrand aufstützen wollte, gelang es mir nicht. Wo sonst meine
rechte Hand
gewesen, Finger und Gelenke, spürte ich etwas Fremdes, einen dicken,
grossen,
weissen Bausch, offenbar einen umfangreichen Verband. Ich staunte
dieses Weisse,
Dicke, Fremde an meiner Hand zuerst verständnislos an, dann begann ich
langsam
zu begreifen, wo ich war, und zu überlegen,
was mit mir geschehen sein mochte. Man musste mich verwundet haben oder
ich
hatte mich selbst an der Hand verletzt. Ich befand mich in einem
Hospital.
Mittags kam der
Arzt, ein
freundlicher älterer Herr. Er kannte den Namen meiner Familie und
erwähnte derart
respektvoll meinen Onkel, den kaiserlichen Leibarzt, dass mich sofort
das Gefühl überkam,
er meine es gut mit mir. Im weiteren Verlauf richtete er allerhand
Fragen an
mich, vor allem eine, die mich erstaunte, — ob ich Mathematiker sei
oder
Chemiker. Ich verneinte.
“Sonderbar” ,
murmelte er. “ Im Fieber haben
Sie immer so sonderbare Formeln geschrieen, a3, c4. Wir haben uns alle
nicht
ausgekannt.”
Ich erkundigte
mich, was mit
mir vorgegangen sei. Er lächelte merkwürdig.
“Nichts
Ernstliches. Eine
akute Irritation der Nerven”, und fügte,
nachdem er sich zuvor vorsichtig umgeblickt hatte, leise bei:
“Schliesslich
eine recht verständliche. Seit dem 13. Marz, nicht wahr?”
Ich
nickte.
“Kein Wunder bei
dieser
Methode”, murmelte er.
“Sie sind nicht
der erste.
Aber sorgen Sie sich nicht.” An der Art, wie er mir dieses beruhigend
zuflüsterte
und dank seines begütigendes Blickes wusste ich, dass ich bei ihm gut
geborgen
war.
Zwei Tage später
erklärte
mir der gütige Doktor ziemlich freimütig, was vorgefallen war. Der
Wärter hatte
mich in meiner Zelle laut schreien hören und zunächst geglaubt, dass
jemand
eingedrungen sei, mit dem ich streite. Kaum er sich aber an der Tür
gezeigt,
hatte ich mich auf ihn gestürzt und ihn mit wilden Ausrufen
angeschrien, die ähnlich
klangen wie: “Zieh schon einmal, du Schuft, du Feigling!”, ihn bei der
Gurgel
zu fassen versucht und schliesslich so wild angefallen, dass er um
Hilfe rufen
musste. Als man mich in meinem tollwütigen Zustand dann zur ärztlichen
Untersuchung schleppte, hatte ich mich plötzlich losgerissen, auf das
Fenster
im Gang gestürzt, die Scheibe zerschlagen und mir dabei die Hand
zerschnitten
—. Sie sehen noch die tiefe Narbe hier. Die ersten Nächte im Hospital
hatte ich
in einer Art Gehirnfieber verbracht, aber jetzt finde er mein Sensorium
völlig
klar. “Freilich”, fügte er leise bei, “werde ich das lieber nicht den
Herrschaften melden, sonst holt man Sie am Ende noch einmal dorthin
zurück. Verlassen Sie sich
auf mich, ich werde mein Bestes tun.”
Was dieser
hilfreiche Arzt
meinen Peinigern über mich berichtet hat, entzieht sich meiner
Kenntnis.
Jedenfalls erreichte er, was er erreichen wollte: meine Entlassung. Mag
sein,
dass er mich als unzurechnungsfähig erklärt hat, oder vielleicht war
ich inzwischen
schon der Gestapo unwichtig geworden, denn Hitler hatte seitdem Böhmen
besetzt
und damit war der Fall Oesterreich für ihn erledigt. So brauchte ich
nur die Verpflichtung
zu unterzeichnen, unsere Heimat innerhalb von vierzehn Tagen zu
verlassen, und diese vierzehn Tage waren dermassen erfüllt mit all den
tausend
Formalitäten, die heutzutage der einstmalige Weltbürger zu einer
Ausreise benötigt,
Militärpapiere, Polizei, Steuer, Pass, Visum, Gesundheitszeugnis, dass
ich
keine Zeit hatte, über das Vergangene viel nachzudenken. Anscheinend
wirken in
unserem Gehirn geheimnisvoll regulierende Kräfte, die, was der Seele
lästig und
gefährlich werden kann, selbsttätig ausschalten, denn immer wenn ich
zurückdenken
wollte an meine Zellenzeit, löschte gewissermassen in meinem Gehirn das
Licht
aus; erst nach Wochen und Wochen, eigentlich erst hier auf dem Schiff,
fand ich
wieder den Mut zu besinnen, was mir geschehen war.
Und nun werden Sie
begreifen, warum ich mich so ungehörig und wahrscheinlich
unverständlich Ihren Freunden
gegenüber benommen. Ich schlenderte doch nur zufällig durch den
Rauchsalon, als
ich Ihre Freunde vor dem Schachbrett sitzen sah; unwillkürlich fühlte
ich den
Fuss angewurzelt vor Staunen und Schrecken. Denn ich hatte total
vergessen,
dass man Schach spielen kann an einem wirklichen Schachbrett und mit
wirklichen
Figuren, vergessen, dass bei diesem Spiel zwei völlig verschiedene
Menschen
einander leicht gegenübersitzen. Ich brauchte wahrhaftig ein paar
Minuten, um
mich zu erinnern, dass was diese Spieler dort taten, im Grunde dasselbe
Spiel
war, das ich in meiner Hilflosigkeit monatelang gegen mich selbst
versucht. Die
Chiffern, mit denen ich mich beholfen während meiner grimmigen
Exerzitien,
waren doch nur Ersatz gewesen und Symbol für diese beinernen Figuren;
meine
Ueberraschung, dass dieses Figurenrücken auf dem Brett dasselbe sei wie
mein
imaginäres Phantasieren im Denkraum, mochte vielleicht der eines
Astronomen ähnlich
sein, der sich mit den kompliziertesten Methoden auf dem Papier einen
neuen
Planeten errechnet hat und ihn dann wirklich am Himmel erblickt als
einen
weissen, klaren, substanziellen Stern. Wie magnetisch festgehalten
starrte ich
auf das Brett und sah dort meine Schemata, Pferd, Turm, König, Königin
und
Bauern als reale Figuren, aus Holz geschnitzt; um die Stellung der
Partie zu überblicken,
musste ich sie erst unwillkürlich zurückmutieren aus meiner abstrakten
Ziffernwelt in die der bewegten Steine. Allmählich überkam mich die
Neugier, ein
solches reales Spiel zwischen zwei Partnern zu beobachten. Und da
passierte das
Peinliche, dass ich, alle Höflichkeit vergessend, mich einmengte in
Ihre Partie.
Aber dieser falsche Zug Ihres Freundes traf mich wie ein Stich ins
Herz. Es war
reine Instinkthandlung, dass ich ihn zurückhielt, ein ganz impulsiver
Zugriff, wie
man ohne zu überlegen ein Kind fasst, das sich über ein Geländer beugt.
Erst später
wurde mir die grobe Ungehörigkeit klar, deren ich mich durch meine
Vordringlichkeit schuldig gemacht.”
Ich beeilte mich,
Dr. B. zu versichern,
wie sehr wir alle uns freuten, diesem Zufall seine Bekanntschaft zu
verdanken
und dass es für mich nach all dem, was er mir anvertraut, nun doppelt
interressant sein werde, ihm morgen bei dem improvisierten Turnier
zusehen zu dürfen.
Dr. B. machte eine unruhige Bewegung.
“Nein, erwarten
Sie wirklich
nicht zu viel. Es soll nichts als eine Probe für mich sein. . . , eine
Probe,
ob ich, ob ich überhaupt fähig bin, eine normale Schachpartie zu
spielen, eine Partie auf
einem wirklichen Schachbrett mit faktischen Figuren und einem
lebendigen Partner.
. . , denn ich zweifle jetzt immer mehr daran, ob jene hunderte und
vielleicht
tausende Partien, die ich gespielt habe, tatsächlich regelrechte
Schachpartien waren
und nicht bloss eine Art Traumschach, ein Fieberspiel? ein
Fieberschach, in dem
wie immer im Traum Zwischenstufen übersprungen werden. Sie werden mir
doch
hoffentlich nicht im Ernst zumuten, dass ich mich anmasse, einem
Schachmeister
und gar dem ersten der Welt Paroli bieten zu können. Was mich
interessiert und
intrigiert, ist einzig die posthume Neugier, festzustellen, ob das in
der Zelle
damals noch Schachspiel oder schon Wahnsinn gewesen, ob ich damals noch
knapp vor
oder schon jenseits der gefährlichen Klippe mich befand — nur dies, nur
dies
allein!”
Vom Schiffsende
dröhnte in
diesem Augenblick der Gong, der zum Abendessen rief. Wir mussten — Dr.
B. hatte
mir alles viel ausführlicher berichtet, als ich es hier zusammenfasse —
fast
zwei Stunden verplaudert haben. Ich dankte ihm herzlich und
verabschiedete
mich. Aber noch war ich nicht das Deck entlang, da kam er mir schon
nach und fügte
sichtlich nervös und sogar etwas stottrig bei:
“Noch eines!
Wollen Sie den
Herren gleich im voraus ausrichten, damit ich nachträglich nicht
unhöflich erscheine:
ich spiele nur eine einzige Partie. . . Sie soll nichts als der
Schlusstrich
unter eine alte Rechnung sein — eine endgültige Erledigung und nicht
ein neuer Anfang.
. . Ich möchte nicht ein zweites Mal in dieses leidenschaftliche
Spielfieber
geraten, an das ich nur mit Grauen zurückdenken kann. . . und übrigens.
. . übrigens
hat mich auch damals der Arzt gewarnt. . . , ausdrücklich gewarnt.. .
Jeder,
der einer Manie verfallen war, bleibt für immer gefährdet und mit einer
— wenn auch
ausgeheilten — Schachvergiftung soll man besser keinem Schachbrett
nahekommen .
. . Also Sie verstehen — nur diese eine Probepartie für mich selbst,
und nicht
mehr.”
Pünktlich um die
vereinbarte
Stunde, drei Uhr, waren wir am nächsten Tag im Rauchsalon versammelt.
Unsere
Runde hatte sich noch um zwei Liebhaber der königlichen Kunst vermehrt,
zwei Schiffsoffiziere, die sich eigens Urlaub vom Borddienst erbeten,
um dem Turnier
Zusehen zu können. Auch Czentovic liess nicht wie am vorhergehenden
Tage auf
sich warten, und nach der obligaten Wahl der Farben begann die
denkwürdige Partie
dieses homo obscurissimus gegen den berühmten Weltmeister. Es tut mir
leid,
dass sie nur für durchaus unkompetente Zuschauer gespielt war und ihr
Ablauf für
die Annalen der Schachkunde ebenso verloren ist wie Beethovens
Klavierimprovisationen für die Musik. Zwar haben wir an den nächsten
Nachmittagen versucht, die Partie gemeinsam aus dem Gedächtnis zu
rekonstruieren, aber vergeblich; wahrscheinlich hatten wir alle während
des Spiels
zu passioniert, zu interessiert auf die beiden Spieler statt auf den
Gang des
Spiels geachtet. Denn der geistige Gegensatz im Habitus der beiden
Partner wurde im Verlauf der
Partie immer mehr körperlich plastisch. Czentovic, der Routinier, blieb
während
der ganzen Zeit unbeweglich wie ein Bock, die Augen streng und starr
auf das
Schachbrett gesenkt; Nachdenken schien bei ihm eine geradezu physische
Anstrengung,
die alle seine Organe zu äusserster Konzentration nötigte. Dr. B.
dagegen
bewegte sich vollkommen locker und unbefangen. Als der rechte Dilettant
im schönsten
Sinne des Wortes, dem im Spiel nur das Spiel, das “diletto” Freude
macht, liess
er seinen Körper völlig entspannt, plauderte während der ersten Pausen
erklärend
mit uns, zündete sich mit leichter Hand eine Zigarette an und
blickte immer nur gerade, wenn an ihn die Reihe kam, eine Minute auf
das Brett.
Jedesmal hatte es den Anschein, als hätte er den Zug des Gegners schon
im
voraus erwartet.
Die obligaten
Eröffnungszüge
ergaben sich ziemlich rasch. Erst beim siebten oder achten schien sich
etwas wie
ein bestimmter Plan zu entwickeln. Czentovic verlagerte seine
Ueberlegungspausen; daran spürten wir, dass der eigentliche Kampf um
die
Vorhand einzusetzen begann. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben,
bedeutete die
allmähliche Entwicklung der Situation wie jede richtige Turnierpartie
für uns
Laien eine ziemliche Enttäuschung. Denn jemehr sich die Figuren zu
einem sonderbaren
Ornament ineinander verflochten, umso undurchdringlicher wurde für
uns der eigentliche Stand. Wir konnten weder wahrnehmen, was der eine
Gegner noch
was der andere beabsichtigte und wer von beiden sich eigentlich im
Vorteil
befand. Wir merkten bloss, dass sich einzelne Figuren wie Hebel
vorschoben, um die
feindliche Front aufzusprengen, aber wir vermochten nicht — da bei
diesen überlegenen
Spielern jede Bewegung immer auf mehrere Züge vorauskombiniert war —
die
strategische Absicht in diesem Hin und Wieder zu erfassen. Dazu
gesellte sich
allmählich eine lähmende Ermüdung, die hauptsächlich durch die endlosen
Ueberlegungspausen Czentovics verschuldet war, die auch unseren Freund
sichtlich zu irritieren begannen. Ich beobachtete beunruhigt, wie er,
je länger
die Partie sich hinzog, immer unruhiger auf seinem Sessel herumzurücken
begann,
bald aus Nervosität eine Zigarette nach der anderen anzündend, bald
nach dem
Bleistift greifend, um etwas zu notieren. Dann wieder bestellte er ein
Mineralwasser, das er Glas um Glas hastig hinabstürzte; es war
offenbar, dass
er hundertmal schneller kombinierte als Czentovic. Jedesmal wenn dieser
nach endlosem
Ueberlegen sich entschloss, mit seiner schweren Hand eine Figur
vorwärtszurücken,
lächelte unser Freund nur wie jemand, der etwas lang Erwartetes
eintreffen sieht
und ripostierte bereits. Er musste mit seinem rapid arbeitenden
Verstand im
Kopf alle Möglichkeiten des Gegners vorausberechnet haben; je länger
darum
Czentovics Entschliessung sich verzögerte, umso mehr wuchs seine
Ungeduld, und
um seine Lippen presste sich während des Wartens ein ärgerlicher und
fast
feindseliger Zug. Aber Czentovic liess sich keineswegs drängen. Er
überlegte
stur und stumm und pausierte immer länger, je mehr sich das Feld von
Figuren entblösste.
Beim zweiundvierzigsten Zuge, nach geschlagenen zweidreiviertel
Stunden, sassen
wir schon alle ermüdet und beinahe teilnahmslos um
den Turniertisch. Einer der Schiffsoffiziere hatte sich bereits
entfernt, ein andrer
ein Buch zur Lektüre genommen und blickte nur bei jeder Veränderung für
einen
Augenblick auf. Aber da geschah plötzlich bei einem Zuge Czentovics das
Unerwartete. Sobald Dr. B. merkte, dass Czentovic den Springer fasste,
um ihn
vorzuziehen, duckte er sich zusammen wie eine Katze vor dem Absprung.
Sein ganzer
Körper begann zu zittern, und kaum Czentovic den Springerzug getan,
schob er
scharf die Dame vor, sagte laut triumphierend: “So! Erledigt!”, lehnte
sich zurück,
kreuzte die Arme über der Brust und sah mit herausforderndem Blick auf
Czentovic. Ein heisses Licht glomm plötzlich in seiner Pupille.
Unwillkürlich
beugten wir
uns über das Brett, um den so triumphierend angekündigten Zug zu
verstehen. Auf
den ersten Blick war keine direkte Bedrohung sichtbar. Die Aeusserung
unseres
Freundes musste sich also auf eine Entwicklung beziehen, die wir
kurzdenkenden Dilettanten
noch nicht errechnen konnten. Czentovic war der einzige unter uns, der
sich bei
jener herausfordernden Ankündigung nicht gerührt
hatte; er sass so unerschütterlich, als ob er das beleidigende
“Erledigt!” völlig
überhört hatte. Nichts geschah. Man hörte, da wir alle unwillkürlich
den Atem
anhielten, mit einem Male das Ticken der Uhr, die man zur Feststellung
der Zugzeit
auf den Tisch gelegt hatte. Es wurden drei Minuten, sieben Minuten,
acht Minuten — Czentovic rührte sich nicht, aber mir war, als ob sich
von einer
inneren Anstrengung seine dicken Nüstern noch breiter dehnten. Unserem
Freunde
schien dieses stumme Warten ebenso unerträglich wie uns selbst. Mit
einem Ruck stand
er plötzlich auf und begann im Rauchzimmer auf und ab zu gehen, erst
langsam,
dann schneller und immer schneller. Alle blickten wir ihm etwas
verwundert zu,
aber keiner beunruhigter als ich, denn mir fiel auf, dass seine
Schritte trotz
aller Heftigkeit, dieses Auf und Ab, immer nur die gleiche Spanne Raum
ausmassen;
es war, als ob er jedesmal mitten im leeren Zimmer an eine unsichtbare
Schranke
stiesse, die ihn nötigte umzukehren. Und schauernd erkannte ich, es
reproduzierte unbewusst dieses Auf und Ab das Ausmass seiner einstigen
Zelle; genau so
musste er in den Monaten des Eingesperrtseins auf und ab gerannt sein
wie ein
eingesperrtes Tier im Käfig, genau so die Hände verkrampft und die
Schultern
eingeduckt; so und nur so musste er dort tausendmal auf und nieder
gelaufen
sein, die roten Lichter des Wahnsinns im starren und doch fieberndem
Blick.
Aber noch schien sein Denkvermögen völlig intakt, denn von Zeit
zu Zeit wandte er sich ungeduldig dem Tisch zu, ob Czentovic sich
inzwischen schon
entschieden hatte. Aber es wurden neun, es wurden zehn Minuten. Dann
endlich geschah, was niemand von uns erwartet hatte. Czentovic hob
langsam seine
schwere Hand, die bisher unbeweglich auf dem Tisch gelegen. Gespannt
blickten wir alle auf seine Entscheidung. Aber Czentovic tat keinen
Zug,
sondern sein gewendeter Handrücken schob mit einem entschiedenen Ruck
alle
Figuren langsam vom Brett. Erst im nächsten Augenblick verstanden wir:
Czentovic hatte die Partie aufgegeben. Er hatte kapituliert, um nicht
vor uns
sichtbar mattgesetzt zu werden. Das Unwahrscheinliche hatte sich
ereignet, der
Weltmeister, der Champion zahlloser Turniere hatte die Fahne gestrichen
vor
einem Unbekannten, einem Manne, der zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre
kein
Schachbrett angerührt. Unser Freund, der Anonymus, der Ignotus hatte
den stärksten
Schachspieler der Erde in offenem Kampfe besiegt!
Ohne es zu merken, waren wir
in unserer Erregung einer nach dem andern aufgestanden. Jeder von uns
hatte das
Gefühl, er müsste etwas sagen oder tun, um unserem freudigen Schrecken
Luft zu machen. Der einzige, der unbeweglich in seiner Ruhe verharrte,
war Czentovic.
Erst nach einer gemessenen Pause hob er den Kopf und blickte unseren
Freund mit
steinernem Blick an.
“Noch eine
Partie?”, fragte
er.
“Selbstverständlich”,
antwortete Dr. B. mit einer mir unangenehmen Begeisterung und setzte
sich, noch
ehe ich ihn an seinen Vorsatz mahnen konnte, es bei einer Partie
bewenden zu lassen,
sofort wieder nieder und begann mit fiebriger Hast die Figuren neu
aufzustellen. Er rückte sie mit solcher Hitzigkeit zusammen, dass
zweimal ein
Bauer durch die zitternden Finger zu Boden glitt; mein schon früher
peinliches
Unbehagen angesichts seiner unnatürlichen Erregtheit wuchs zu einer Art
Angst. Denn eine
sichtbare Exaltiertheit war über den vorher so stillen und ruhigen
Menschen gekommen;
das Zucken fuhr immer öfter um seinen Mund, und sein Körper zitterte
wie von
einem jähen Fieber geschüttelt.
“Nicht!”,
flüsterte ich ihm
leise zu. “Nicht jetzt! Lassen Sie’s für heute genug sein! Es ist für
Sie zu
anstrengend.”
“Anstrengend!
Ha!”, lachte
er laut und boshaft. “Siebzehn Partien hatte ich unterdessen spielen
können
statt dieser Bummelei! Anstrengend ist für mich einzig, bei diesem
Tempo nicht
einzuschlafen! — Nun! Fangen Sie doch schon einmal an!”
Diese letzten
Worte hatte er
in heftigem, beinahe groben Tone zu Czentovic gesagt. Dieser blickte
ihn ruhig und
gemessen an, aber sein steinern starrer Blick hatte etwas von einer
geballten
Faust. Mit einem Mal stand etwas Neues zwischen den beiden Spielern;
eine gefährliche
Spannung, ein leidenschaftlicher Hass. Es waren nicht zwei Partner
mehr, die
ihr Können spielhaft miteinander proben wollten, es waren zwei Feinde,
die sich
gegenseitig zu vernichten geschworen. Czentovic zögerte lange, ehe er
den
ersten Zug tat und mich überkam das deutliche Gefühl, er zögerte mit
Absicht so
lange. Offenbar hatte der geschulte Taktiker schon herausgefunden, dass
er
gerade durch seine Langsamkeit den Gegner ermüdete und irritierte. So
setzte er
nicht weniger als vier Minuten aus, ehe er die normalste, die simpelste
aller
Eröffnungen machte, indem er den Königsbauer die üblichen zwei Felder
vorschob.
Sofort fuhr unser Freund mit seinem Königsbauern ihm entgegen, aber
wieder
machte Czentovic eine endlose, kaum zu ertragende Pause; es
war, wie wenn ein starker Blitz niederfährt und man pochenden Herzens
auf den Donner
wartet und der Donner kommt und kommt nicht. Er überlegte, still,
langsam und,
wie ich immer gewisser fühlte, boshaft langsam; damit aber gab er mir
reichlich
Zeit, Dr. B. zu beobachten. Er hatte eben das dritte Glas Wasser
hinuntergestürzt;
unwillkürlich erinnerte ich mich, dass
er mir von seinem fiebrigen Durst in der Zelle erzählt. Alle Symptome
einer
abnormalen Erregung zeichneten sich deutlich ab; ich sah seine Stirn
feucht
werden und die Narbe auf seiner Hand röter und schärfer als zuvor. Aber
noch
beherrschte er sich. Erst als beim vierten Zug Czentovic wieder endlos
überlegte,
verliess ihn die Haltung und er fauchte ihn plötzlich an:
“Spielen Sie doch
schon
endlich einmal!”
Czentovic blickte
kühl auf.
“Wir haben meines Wissens zehn Minuten Zugzeit vereinbart. Ich spiele
prinzipiell nicht mit kürzerer Zeit.”
Dr. B. biss sich
die Lippe;
ich merkte, wie unter dem Tisch seine Sohle unruhig und immer unruhiger
gegen
den Boden wippte, und wurde selbst unaufhaltsam nervöser durch das
drückende
Vorgefühl, dass sich irgend etwas Unsinniges in ihm vorbereitete. In
der Tat ereignete
sich bei dem achten Zug ein Zwischenfall. Dr. B., der immer
unbeherrscht
gewartet hatte, konnte seine Spannung nicht mehr verhalten; er rückte
hin und
her und begann unbewusst mit den Fingern auf dem Tisch zu trommeln.
Abermals
hob Czentovic seinen schweren baurischen Kopf.
“Darf ich Sie
bitten nicht
zu trommeln. Es stört mich. Ich kann so nicht spielen.
“Hah!”, lachte Dr.
B. kurz.
“Das sieht man.”
Czentovics Stirn
wurde rot.
“Was wollen Sie damit sagen?”, fragte er scharf und böse.
Dr. B. lachte
abermals knapp
und boshaft. “Nichts. Nur dass Sie offenbar sehr nervös sind.”
Czentovic schwieg
und
bewegte seinen Kopf nieder. Erst nach sieben Minuten tat er den
nächsten Zug,
und in diesem tödlichen Tempo schleppte sich die Partie fort;
schliesslich
schaltete er immer das Maximum der vereinbarten Ueberlegungspause ein,
ehe er
sich zu einem Zug entschloss, und von einem Intervall zum andern wurde
das
Benehmen unseres Freundes sonderbarer. Es hatte den Anschein, als ob er
an der
Partie gar keinen Anteil mehr nehme sondern mit etwas ganz anderem
beschäftigt sei. Er liess
sein hitziges Auf- und Niederlaufen und blieb an seinem Platz reglos
sitzen.
Mit einem stieren und fast irren Blick ins Leere vor sich starrend,
murmelte er
ununterbrochen unverständliche Worte vor sich hin: entweder verlor er
sich in
endlosen Kombinationen oder er arbeitete — dies war mein innerster
Verdacht —
sich ganz andere Partien aus, denn jedesmal, wenn Czentovic endlich
gezogen
hatte, musste man ihn aus seiner Geistesabwesenheit zurückmahnen. Dann
brauchte
er immer einige Minuten, um sich in der Situation wieder
zurechtzufinden;
immer mehr beschlich mich der Verdacht, er habe eigentlich Czentovic
und uns
alle längst vergessen in dieser kalten Form des Wahnsinns, der sich
plötzlich
in irgendeiner Heftigkeit entladen konnte. Und tatsächlich, bei dem
neunzehnten
Zug brach die Krise aus. Kaum dass Czentovic seine Figur bewegt, stiess
Dr. B. plötzlich, ohne recht auf das Brett zu blicken, seinen Läufer
drei
Felder vor und schrie derart laut, dass wir alle zusammenfuhren:
“Schach! Schach
dem König!”
Wir blickten in
der
Erwartung eines besonderen Zuges sofort auf das Brett. Aber nach einer
Minute
geschah, was keiner von uns erwartet. Czentovic hob ganz, ganz langsam
den Kopf
und blickte — was er bisher nie getan — in unserem Kreise von einem zum
anderen.
Er schien irgend etwas unermesslich zu geniessen, denn allmählich
begann auf
seinen Lippen ein zufriedenes und deutlich höhnisches Lächeln. Erst
nachdem er
diesen seinen uns noch unverständlichen Triumph bis zur Neige genossen,
wandte
er sich mit falscher Höflichkeit unserer Runde zu.
“Bedaure — aber
ich sehe
kein Schach. Sieht vielleicht einer von den Herren ein Schach gegen
meinen König?”
Wir blickten auf
das Brett
und dann beunruhigt zu Dr. B. hinüber. Czentovics Königsfeld war
tatsächlich —
ein Kind konnte das erkennen — durch einen Bauern gegen den Läufer
völlig
gedeckt, also kein Schach dem König möglich. Wir wurden unruhig. Sollte
unser Freund
in seiner Hitzigkeit eine Figur danebengestossen haben, ein Feld zu
weit oder
zu nah? Durch unser Schweigen aufmerksam gemacht, starrte jetzt auch
Dr. B. auf
das Brett und begann heftig zu stammeln:
“Aber der König
gehört doch
auf f7 ..., er steht falsch, ganz falsch. . . Sie haben falsch gezogen!
Alles steht
ganz falsch auf diesem Brett. . . , der Bauer gehört doch auf g5 und
nicht auf
g4. . . Das ist ja eine ganz andere Partie.. . Das ist. . . ”
Er stockte
plötzlich. Ich
hatte ihn heftig am Arm gepackt oder vielmehr ihn so hart in den Arm
gekniffen,
dass er selbst in seiner fiebrigen Verwirrtheit meinen Griff spüren
musste. Er
wandte sich um und starrte mich wie ein Traumwandler an.
“Was . . . was
wollen Sie?”
Ich sagte nichts
als
“Remember!” und fuhr gleichzeitig mit dem Finger über die Narbe seiner
Hand. Er
folgte unwillkürlich meiner Bewegung, sein Auge starrte glasig auf den
blutroten Strich. Dann begann er plötzlich zu zittern und ein Schauer
lief über
seinen ganzen Körper.
“Um Gotteswillen”,
flüsterte
er mit blassen Lippen.
“Habe ich etwas
Unsinniges
gesagt oder getan.. . , bin ich am Ende wieder.. .?”
“Nein”, flüsterte
ich leise.
“Aber Sie müssen sofort die Partie abbrechen, es ist höchste Zeit.
Erinnern Sie
sich, was der Arzt Ihnen gesagt!”
Dr. B. stand mit
einem Ruck
auf. “ Ich bitte um Entschuldigung für
meinen dummen Irrtum, “ sagte er mit seiner alten höflichen Stimme und
verbeugte sich vor Czentovic. “Es ist natürlich purer Unsinn, was ich
gesagt
habe. Selbstverständlich bleibt es Ihre Partie.” Dann wandte er sich zu
uns.
“Auch die Herren muss ich um Entschuldigung bitten. Aber ich hatte Sie
gleich im
Voraus gewarnt, Sie sollten von mir nicht viel erwarten. Verzeihen Sie
die
Blamage — es war das letzte Mal, dass ich mich im Schach versucht habe.”
Er verbeugte sich
und ging,
in der gleichen bescheidenen und geheimmnissvollen Weise, mit der er
zuerst erschienen.
Nur ich wusste, warum dieser Mann nie mehr ein Schachbrett berühren
würde,
indes die anderen ein wenig verwirrt zurückblieben mit dem ungewissen
Gefühl,
mit knapper Not etwas Unbehaglichem entgangen zu sein. “Damned
fool”, knurrte McConnor in seiner Enttäuschung. Als letzter erhob sich
Czentovic
von seinem Sessel und warf noch einen Blick auf die halbbeendete Partie.
“Schade”, sagte er
grossmütig.
“Der Angriff war gar nicht so übel disponiert. Für einen Dilettanten
ist dieser
Herr eigentlich ungewöhnlich begabt.”