„Ich habe Sie bitten lassen, Mr. Joe
Jenkins, weil ich in
einer mir unerklärlichen Angelegenheit Ihren Rat haben möchte.“
Mr. Jenkins, der Detektiv, sah sich
aufmerksam in dem
eleganten Privatkontor des Bankiers um. Er konstatierte mit
Befriedigung, daß
das Zimmer mit vornehmer Einfachheit ausgestattet war und in jeder
Einzelheit
den reichen und geschmackvollen Besitzer verriet.
„Ich hörte, daß Sie auf Ihrer Reise
durch Europa in Paris
Station gemacht haben. Und da war, nach dem Vorgefallenen, mein erster
Gedanke
der: hier kann nur Mr. Jenkins helfen“, begann der Bankier von neuem.
„Sie sind bestohlen worden, Herr
Dufayel?“
„Ja. Und zwar auf eine völlig
rätselhafte Weise. Ein
Geldbrief mit 53000 Franken ist geöffnet und seines Inhalts beraubt
worden. Die
Siegel sind unverletzt, und doch ist das Geld fort.“
„Wer hat den Brief gesiegelt?“
„Ich selbst. Ich habe ihn auch
persönlich zur Post
gebracht. Als der Brief zwei Tage später in London zur Ablieferung
gelangte und
in Gegenwart des Postbeamten geöffnet wurde, lag statt des Geldes eine
Zeitung
in dem Brief.“
„Ich muß Sie bitten, Herr Dufayel,
mir über einige Punkte
Auskunft zu geben.“
„Ich stehe zu Ihrer Verfügung. Aber
wollen Sie nicht
Platz nehmen?“
Der Detektiv ließ sich in dem Sessel
nieder, der in der
Nähe des Kamins stand und legte gemächlich die Beine übereinander.
„Rauchen Sie?“
„Danke, ja.“ Mr. Jenkins nahm aus
der dargebotenen
Importenkiste eine Henry Clay und fragte, indem er die Banderole löste
und die
Spitze abschnitt:
„Besitzen Sie das Kuvert des
Geldbriefes?“
„Ja. Hier ist es.“ Der Bankier
entnahm seiner Brieftasche
einen gelben Umschlag und überreichte ihn dem Detektiv, der prüfend die
Aufschrift betrachtete.
„Wer hat dies Kuvert geschrieben?“ —
„Ich selbst!“
Wann haben Sie den Geldbrief
abgesandt?“
„Am 21. Januar.“
„Wissen Sie die Tageszeit?“ — „Ja.
Es war um 7 Uhr
abends.“
„Sie selbst haben das Geld
hineingelegt, den Brief
gesiegelt und ihn dann zur Post gebracht?“
„Ja. Mein Chauffeur erwartete mich
unten im Auto, um mich
in die Oper zu fahren. Unterwegs ließ ich vor dem kleinen Postamt der
Rue de Sentier
halten und gab den Geldbrief auf.“
„Ist Ihnen“, fragte der Detektiv
zögernd, „irgend etwas
aufgefallen, während Sie den Geldbrief postfertig machten?“
Der Bankier schüttelte den Kopf.
„Eine Kleinigkeit . . .“
begann er zögernd.
„Erzählen Sie!“
„Als ich den Brief siegeln wollte,
fehlte der Siegellack.
Ich selbst hatte am Tage zuvor eine Stange neben mich auf meinen
Schreibtisch
gelegt. Sie war fort.“
„Hat sich diese Stange Siegellack
später wieder
angefunden?“
„Nein.“
„Was taten Sie, um den Brief siegeln
zu können? Verließen
Sie das Privatkontor?“
„Ich trat einen Augenblick in das
Hauptkontor, blieb aber
in der Tür stehen. Hier ließ ich mir von dem Lehrling ein anderes Stück
Siegellack geben und kehrte dann sofort in das Privatbureau zurück, wo
ich den
Brief siegelte.“
„Wäre es möglich, Herr Dufayel, daß
während dieser kurzen
Unterbrechung jemand Ihr Zimmer betreten hat?“ — „Nein. Es ist
ausgeschlossen“,
antwortete der Bankier. — „Der Brief ist ohne Zweifel umgetauscht
worden.
Dieser Umtausch hat mit ziemlicher Sicherheit stattgefunden in dem
Augenblick,
in dem Sie das Privatkontor verließen.“ — „Das hätte ich sicher sofort
bemerkt.
Auch kenne ich natürlich meine Handschrift.“ — Der Detektiv erhob sich
und trat
ans Fenster, dessen Stores und Vorhänge zugezogen waren und fast bis
auf den
Parkettboden herniederreichten. „Wie ist Ihre persönliche Arbeitszeit,
Herr
Dufayel?“ — „Ich pflege von zehn bis zwei und von sechs bis halb acht
Uhr hier
zu sein.“
„Ich danke Ihnen. Dieses Zimmer hat,
wie ich sehe, einen
separaten Zugang zum Korridor. Wer hat außer Ihnen einen Schlüssel
dazu?“
„Nur meine Frau.“
Der Detektiv sah einen Augenblick zu
Boden und fragte
dann langsam: „Wo war Ihre Frau an dem betreffenden Abend?“ — „Sie
erwartete
mich in der Oper.“
„Ich möchte Ihr Personal kennen
lernen. Aus wieviel
Personen besteht es?“
„Ich habe sechs Buchhalter, zwei
Korrespondenten, drei
Schreibmaschinendamen und einen Lehrling. Außerdem meinen Prokuristen,
Herrn
Valois. Aber dieser kommt nicht in Frage.“
„Warum nicht?“
„Er war an dem betreffenden Tage
geschäftlich verreist,
nach Rouen, und hat erst gestern abend seine Reise auf meinen Wunsch
unterbrochen.“
„Wie lange ist er in Ihrem Hause?“
„Seit sechs Jahren.“
„Ist er tüchtig?“
„Außergewöhnlich. Übrigens muß er
sofort kommen, um mir
die Briefe zur Unterschrift zu bringen. Ich werde Sie mit ihm bekannt
machen.“
Der Bankier stand auf, öffnete die Tür zum Hauptkontor und fragte: „Ist
die
Post fertig?“
„Sofort, Herr Dufayel.“ Fast
unmittelbar hinter dem
zurückgekehrten Chef trat ein Herr in der Mitte der Dreißig ein. Mit
einer
leichten Verbeugung legte er einen Stoß Briefe auf den Schreibtisch des
Bankiers und sagte in höflichem Tone erklärend: „Ich wollte Sie nicht
stören.“
Er wollte sich eben wieder zurückziehen, als der Bankier vorstellte:
„Dies ist
Mr. Joe Jenkins, der berühmte Detektiv. Er ist gekommen, um Licht in
unsere
dunkle Geldbriefangelegenheit zu bringen.“
Der Prokurist ging auf den
Amerikaner zu, schüttelte ihm
die Hand und sagte mit offenem Lächeln: „Erfreut, Sie zu sehen, Mr.
Jenkins.
Die Geschichte ist sehr fatal. Es ist schade, daß ich an jenem Tage
nicht in
Paris war, sonst wäre das alles vielleicht nicht passiert.“
„Wie ich höre, Herr Valois, waren
Sie verreist?“
„Ja. Ich war in Rouen.“
„Ah, in Rouen. Ich kenne es. Es ist
eine sehr schöne
altertümliche Stadt. Ich habe dort mal vierzehn Tage gewohnt, vor zwei
Jahren.
Im Hotel du Lion d’Or. Es ist wohl das einzige gute Hotel, das die
Stadt hat?“
„Sie irren sich, Mr. Jenkins,“
erwiderte Herr Valois mit
höflichem Lächeln, „Rouen hat inzwischen weit bessere Hotels mit allem
Komfort
der Neuzeit erhalten. Ich wohne z. B. im Hotel de I’Abondance, und ich
kann es
Ihnen sehr empfehlen.“
„Sehr freundlich, Herr Valois. Ich
werde es mir merken.
Herr Dufayel, Ihr Chef, hat mir viel Lobendes von Ihnen erzählt. Es ist
in der
Tat bedauerlich, daß Sie an jenem Tage abwesend waren. Sie besorgen das
Reisegeschäft?“
„Ja,“ sagte der Prokurist mit einem
gewissen Stolz, „Herr
Dufayel hat mir den Besuch unserer auswärtigen Klienten überlassen.“
„Es muß Ihrer Frau Gemahlin nicht
angenehm sein, Herr
Valois, ihren Gatten so häufig entbehren zu müssen!“
Die beiden Herren lächelten. „Herr
Valois ist
Junggeselle“, erläuterte Herr Dufayel.
„Ah, das ist etwas anderes!“ sagte
Mr. Jenkins,
gleichfalls lächelnd, „ich bitte um Entschuldigung. Sie sehen, auch ein
Detektiv kann sich irren!“ Er erhob sich.
„Sie gestatten wohl, daß ich dieses
Kuvert an mich nehme?
Und noch eins. Ich möchte einen Blick aus jenem Fenster tun.“ Er
schritt auf
das Fenster zu, zog die Vorhänge und die Gardinen auf und sah auf die
ziemlich
stille Straße hinab. Dann öffnete er das Fenster einen Augenblick, sah
sich um und
machte sofort wieder zu. „Von der Straße ist der Täter nicht gekommen,“
erklärte er, halb zu sich selbst, „die Mauer ist vollständig glatt, und
die
Etage liegt verhältnismäßig hoch. Es bleibt also nur übrig, anzunehmen
. . .
halloh — was ist das?“ Er zog eine Taschenlaterne und ließ den Strahl
auf das
schwarz marmorne Fensterbrett fallen, auf das er sich niedergebeugt
hatte. Die
beiden Herren traten eiligst hinzu und erkannten auf den ersten Blick
den
Abdruck von zwei Füßen. Jemand hatte auf dem Fensterbrett gestanden.
Herr Dufayel starrte einen
Augenblick wortlos auf die
Fußspuren und sagte dann mit merkwürdig zitternder Stimme: „Fast könnte
man
glauben, es wäre der Fuß eines Kindes, so klein ist er.“ — „Nein,“
sagte Mr.
Jenkins langsam, während er einen Block aus der Tasche zog und die Spur
darauf
abdrückte, „es ist kein Kunderfuß. Es ist der Fuß einer Frau.“
Er faltete das Blatt mit der
Zeichnung sorgfältig
zusammen. „Ich möchte noch um verschiedene Einzelheiten bitten, die
indessen
verhältnismäßig unwichtig sind. Ich möchte daher Sie, Herr Dufayel,
nicht damit
behelligen. Vielleicht würde Ihr Prokurist, Herr Valois, die Güte
haben, mir
außerhalb der Geschäftszeit eine Stunde zur Verfügung zu stehen?“
„Mit Vergnügen“, erwiderte der
Angeredete verbindlich.
„Ich werde gern alles tun, was irgendwie dazu dienen kann, Licht in
diese Sache
zu bringen, die immer unerklärlicher wird.“
„Vielleicht hat Herr Valois die
Liebenswürdigkeit, mich
am Donnerstag abend um halb sieben in meiner Wohnung zu besuchen? Ich
wohne 31,
Avenue Wagram.“
„Ich werde nicht verfehlen.“
„Und wann werde ich das Vergnügen
haben, Sie wieder bei
mir zu sehen?“ fragte Herr Dufayel.
Der Detektiv dachte einen Moment
nach. „Wir haben heute
Dienstag. Erwarten Sie mich übermorgen, Donnerstag abend, um halb acht.“
Mr. Joe Jenkins schüttelte dem
Bankier die Hand und
wollte auf dem Wege durch das Hauptkontor das Bankgeschäft verlassen.
„Sie
können es bequemer haben“, sagte Herr Dufayel lächelnd und schloß die
Separattür auf, die direkt auf den Korridor führte. Der Bankier
geleitete
seinen Gast höflich an die Haustür.
„Noch eins, Herr Dufayel,“ begann
Mr. Jenkins; „ich
möchte Sie bitten, mir heute abend eine Liste mit den Namen und
Adressen Ihres
gesamten Personals zugehen zu lassen, so daß ich sie morgen mit erster
Post in
meinem Besitze habe.“
„Sehr wohl. Glauben Sie, Aussichten
zu haben, den Täter
zu ermitteln?“
„Ich denke ihn Ihnen am Donnerstag
zu liefern. Adieu.“
In diesem Moment wurde von außen die
Korridortür
geöffnet, und auf der Schwelle stand eine distinguiert aussehende junge
Dame.
Die Züge des Bankiers erhielten
einen strahlenden
Ausdruck. „Meine Frau“, sagte er. „Dies ist Mr. Joe Jenkins. Er ist im
Begriff,
den Dieb des Geldbriefes ausfindig zu machen.“
Die junge Dame, die, wie der
Detektiv bemekrkte, sehr
schön war, warf einen etwas spottischen Blick auf Mr. Jenkins und
sagte: „Ich
fürchte, mein Herr, Sie werden sich vergeblich bemühen. Nach allem, was
ich von
dem Fall gehört habe, ist der Brief nicht hier in Paris, sondern
unterwegs
seines Inhalts beraubt worden.“
„Sie irren, meine Gnädigste“,
erwiderte der Angeredete in
ruhigem Tone. „Der Diebstahl ist hier geschehen, im Privatkontor Ihres
Gatten.
„
„Aber kein Fremder hat einen
Schlüssel zu diesem Zimmer.“
— „Und doch ist der Brief von jemandem genommen und durch einen ganz
gleichen
ersetzt worden, der einen Schlüssel zu diesem Zimmer hatte.“
„Soviel ich weiß, besitze außer
meinem Mann nur ich einen
Schlüssel zu diesem Privatkontor. Schließlich werden Sie noch
behaupten, ich
hätte das Geld gestohlen!“
„Ich behaupte nie etwas, was ich
nicht beweisen kann“,
erwiderte Mr. Jenkins langsam. „Ich habe Ihrem Gatten versprochen, ihm
übermorgen abend den Täter zu bringen.“
„Ich wünsche Ihnen viel Glück dazu,“
sagte Madame Dufayel
spottend, „und wenn Sie den Täter haben, so halten Sie ihn fest.“
„Es ist kein Täter,“ sagte Mr.
Jenkins ruhig, „es ist
eine Täterin.“
Der Detektiv schritt langsam die
Treppe hinunter und
rief, auf der Straße angelangt, ein vorüberfahrendes Auto an: „Nach dem
Orléans-Bahnhof!“
* * *
Es war am Donnerstag abend, als Herr
Dufayel nachdenklich
in seinem Privatkontor saß. Von Mr. Jenkins hatte er während dieser
Zeit nichts
gehört. Würde er sein Versprechen halten? Würde er ihm heute abend den
Täter
bringen? Der Bankier konnte sich eines unbehaglichen Gefühls nicht
erwehren,
als er sich diese Frage vorlegte. Immer wieder mußte er an die
Unterhaltung
denken, die Mr. Jenkins in der Haustür mit seiner Frau gehabt hatte.
Während
er, den Kopf in die Hand gestützt, dasaß, hörte er die Entreetür gehen.
Einen
Augenblick später klopfte es an seinem Privatkontor, und auf sein
Herein traten
Mr. Jenkins und Herr Valois ein.
„Treten Sie näher, meine Herren.“
Mr. Jenkins trat auf
den Schreibtisch zu, an dem Herr Dufayel saß, während Herr Valois
bescheiden in
der Nähe der Tür blieb.
„Nun, Mr. Jenkins,“ begann Herr
Dufayel, „haben Sie den
Dieb entdeckt?“ — „Ja.“
Der Bankier lächelte. „Sie scheinen
sich nicht mehr Ihres
Versprechens zu entsinnen, Mr. Jenkins. Sie wollten mir heute abend den
Dieb
bringen.“ — „Ich habe ihn gebracht.“ — Der Bankier sah sich erstaunt im
Zimmer
um. „Wo ist der Täter?“ — In diesem Zimmer!“
Mit einem Ruck sprang der Bankier
auf die Füße und
starrte seinen Prokuristen an, der blitzschnell die Hand auf den
Türgriff
legte.
„Geben Sie sich keine Mühe, Herr
Valois“, sagte Mr.
Jenkins ruhig. „Das Haus ist umstellt; sowie Sie unten erscheinen,
werden Sie
verhaftet. Ihre Helfershelferin, Mademoiselle Fleury vom Varieté Diena,
sitzt
bereits mit zweien meiner Agenten unten im Automobil.“
Mr. Jenkins öffnete das Fenster, was
ein verabredetes
Zeichen zu sein schien, denn gleich darauf erschienen zwei seiner
Assistenten,
denen er den Auftrag gab, Herrn Valois in den Wagen zu bringen. Der
Prokurist
leistete keinen Widerstand.
„Fassen Sie sich, Herr Dufayel,“
sagte Mr. Jenkins zu dem
Bankier, als die beiden allein waren, „diese Lösung ist noch eine
verhältnismäßig erfreuliche.“
„Sie haben recht“, murmelte der
Bankier und fuhr sich mit
der Hand über die Stirn. „Aber sagen Sie mir das eine: Wie haben Sie
das
herausgebracht?“
„Ich hatte im Anfang zwei Spuren,“
erwiderte der
Detektiv, indem er sich behaglich in den Sessel lehnte, „die eine
führte zu
Herrn Valois, die andere — die andere führte zu einer anderen Person.“
— „Und
wie kamen Sie zuerst auf den Verdacht, Herr Valois sei der Täter?“
„Durch das Fehlen des Siegellacks.
Offenbar war er nur
darum fortgenommen worden, damit Sie gezwungen waren, Ihr Privatkontor
einen
Augenblick zu verlassen, um Ersatz zu beschaffen. In dem Moment, in dem
Sie
hinausgingen, ist der Täter dann hinzugesprungen und hat den Geldbrief,
der auf
Ihrem Schreibtisch lag, blitzschnell mit einem genau gleichen
vertauscht.
Richtiger gesagt, die Täterin, denn es war eine Dame, die Freundin und
Helfershelferin des Herrn Valois, eben Fräulein Fleury.“
„Danach müßte aber die Täterin
während der ganzen Zeit
hier im Zimmer gewesen sein.“ — „Allerdings. Die Diebin hat zwei
Stunden auf
dem Fensterbrett hinter den Gardinen gestanden.“
Wie aber ist sie hereingekommen?“
„Sie sagten mir, daß Sie um sechs
Uhr ins Bureau zu
kommen pflegten. Das war natürlich Ihrem Prokuristen bekannt, und seine
Freundin ist daher kurz vor sechs Uhr hier eingedrungen. Mit einem
Nachschlüssel hat Fräulein Fleury die Tür aufgeschlossen und sich dann
auf
ihren Beobachtungsposten begeben.“ — „Aber die Handschrift ist doch
meine
eigene?“
„Sie irren. Herrn Valois war
bekannt, daß Sie am 21.Januar
den Betrag von 53000 Frank nach London schicken würden. Er hat mit
bewundernswürdiger Geschicklichkeit ein Kuvert präpariert, das eine der
Ihrigen
täuschend nachgebildete Handschrift trug. Dies hat Fräulein Fleury
bereitgehalten und dann den Umtausch vorgenommen.“
„Warum hat die Diebin nicht einfach
das Kuvert mit dem
Gelde an sich genommen?“
„Hätten Sie bei Ihrer Rückkehr die
Entdeckung gemacht,
daß der Geldbrief verschwunden sei, so hätten Sie unverzüglich das
Kontor
durchsuchen lassen, und man hätte ohne Zweifel die Täterin hinter der
Gardine
entdeckt.“ — „Allerdings. Und Herr Valois? Ich glaubte ihn in Rouen!“ —
„Er war
auch in Rouen, und zwar nicht allein.“ — „Nicht allein?“
„Ich bin vorgestern abend um 8 Uhr
14 nach Rouen
gefahren, bin im Hotel de l’Abondance abgestiegen und habe
festgestellt, daß
Herr Valois dort mit seiner Frau gewohnt hat.“ — „Mit seiner Frau?“
„Nun . . . was man so nennt. Mit
seiner Freundin, Madame
Fleury, wie ich später herausgebracht habe.
Ich habe weiter festgestellt, daß
Fräulein Fleury am 21.
Januar mittags 12 Uhr 26 nach Paris gefahren und noch in der gleichen
Nacht
zurückgekehrt ist. Man hat in der Nacht eine erregte Unterhaltung
zwischen den
beiden Eheleuten gehört.“
„Streit um die Beute!“ sagte Herr
Dufayel.
„Wahrscheinlich. Fräulein Fleury
scheint überhaupt eine
artige Dame zu sein. Herr Valois hat sich ihretwegen ruiniert.“ — „Und
woher
wissen Sie das alles, Mr. Joe Jenkins?“
Der Detektiv lächelte und fuhr fort:
„Ich bin dann sofort
nach meiner Rückkehr in die Wohnung des Herrn Valois gefahren. Sobald
ich von
Rouen zurück war, suchte ich, als Schuster verkleidet, die Behausung
des Herrn
Valois auf. Ich hatte ein Paar Damenstiefelchen mitgenommen und
behauptete,
Herr Valois habe diese für seine Frau bestellt. Es gelang mir
schließlich von
der mißtrauischen Haushälterin zu erfahren, daß Herr Valois eine
Freundin habe,
der er in der Avenue de la Grande Armée eine Wohnung gemietet habe. Für
diese
seien wahrscheinlich die Stiefel bestimmt. Ich eilte also in die Avenue
de la
Grande Armée und fand eine Wohnung vor, die an Miete allein ungefähr so
viel
kostet, wie Herr Valois bei Ihnen jährlich verdienen dürfte.
Mademoiselle
Fleury war abwesend, in der Probe, was mir sehr angenehm war. Ich ließ
mir von
dem Kammermädchen ein Paar Stiefelchen von Madame geben. Als ich sie
mit dem
Abdruck der Fußspur verglich, war jeder Zweifel ausgeschlossen.“
Es klingelte. Der Bankier erhob
sich. „Es ist meine
Frau“, erklärte er. „Sie wird von Ihrem Erfolg außerordentlich
überrascht
sein.“
„Ich möchte nicht stören“,
entgegnete Mr. Jenkins. „Haben
Sie die Güte, mich Madame Dufayel zu empfehlen. Sie lassen mich wohl
durch den
anderen Ausgang hinaus.“
„Erwarten
Sie also morgen früh meinen Scheck, und
empfangen Sie meinen Dank.“
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