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Literatur


04.3


Am Kamin
Paul Rosenhaym

07 Das Logenbillett

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Das Logenbillett
(London)

Der Boy hatte die junge distinguierte Dame in das Arbeitszimmer geführt und sich mit einer kurzen Verbeugung zurückgezogen. „Mr. Joe Jenkins wird sofort erscheinen“, sagte er im Abgehen.

Die Dame ließ einen neugierigen Blick durch das Zimmer gleiten. Nichts in diesem Raume verriet, daß er die Behausung eines Mannes bildete, dessen Scharfsinn weit über Europa hinaus bekannt und gefürchtet war. An den Wänden hingen ein paar alte englische Kupferstiche, auf dem Tisch lagen in wahlloser Unordnung eine Anzahl Bücher und Magazine. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und vor der Besucherin stand Mr. Joe Jenkins.

„Ich bin erstaunt, gnädige Frau,“ sagte der Detektiv lächelnd, „daß Sie sich von meiner Reise nach London erfahren haben.“

„Ich hörte zufällig gesten abend,“ versetzte die junge Dame, daß Sie von Paris aus einen Abstecher nach London gemacht hätten. Es war im Foyer des St. James-Theaters, wo man davon sprach. Und ich gestehe Ihnen offen, Mr. Jenkins: ich bin sehr froh darüber. Denn ich bin in einer wichtigen Angelegenheit zu Ihnen gekommen.“

„Nun,“ sagte Mr. Jenkins lächelnd, „wenn eine junge, schöne und reiche Frau der Londoner Gesellschaft morgens früh um 11 Uhr bei mir erscheint, so liegt die Vermutung nahe, daß etwas Außergewöhnliches der Grund ist.“

„In der Tat“, sagte die junge Dame. „Und ich muß Ihnen gestehen: mein Mann weiß noch nicht einmal, daß ich bei Ihnen bin. Ich selbst wußte es vor zwei Stunden, ja, vor einer Stunde noch nicht. Der Gedanke ist mir erst eben gekommen. Aber ich bin überzeugt, daß mein Mann meinen Schritt freudig begrüßen wird. Zumal er es ist, an dem das Verbrechen verübt worden ist.“

„Sie erlauben wohl,“ sagte Mr. Jenkins, „Daß ich Platz nehme, gnädige Frau. Und nun erzählen Sie bitte ausführlich.“

„Ich nehme an, Mr. Jenkins,“ begann die Dame und lehnte sich ein wenig in dem Ledersessel zurück, „ich nehme an, daß Ihnen mein Name, den Sie auf meiner Karte gelesen haben, nicht unbekannt ist.“
„Natürlich nicht, gnädige Frau“, pflichtete Joe Jenkins bei. „Ich habe auch in Paris, wo ich bis vorgestern war, täglich die Londoner Zeitungen gelesen. Daher habe ich auch die ausführlichen Berichte über die Hochzeit der jungen, schönen, einzigen Tochter des Honorable Mr. Shutherland mit dem bekannten Juwelierhändler Mr. James Wimbledon mit Vergnügen verfolgt.“

„Ja“, sagte die junge Frau und ein flüchtiges Lächeln lief über ihr Gesicht. „Diese Heirat bildet seit Jahren einen Wunsch meiner Eltern. Sie wissen vielleicht, daß mein Vater ein reicher Mann ist. Und auch Mr. Wimbledon, mein Gatte, ist der Erbe der reichen und bekannten Juweliergroßfirma Wimbledon Brothers.“
 
„Er ist der alleinige Inhaber?“

„Ja. Sein Vater starb vor sechs Jahren, und seither hat James die Umsätze des Geschäfts mehr als verdoppelt. Seine großzügigen Spekulationen in Amsterdam und Paris waren eine Zeitlang das Tagesgespräch . . . Ich war bei Mr. Wimbledon von vornherein sicher, nicht meines Geldes wegen geheiratet zu werden ­­­­­— in dieser Furcht müssen wir reichen Mädchen ja sonst stets leben. Trotzdem kam meinem Gatten meine Mitgift natürlich nicht unerwünscht. Denn früher oder spätr konnte er das Geld vielleicht bei seinen großen Transaktionen nutzbringend mit verwerten.“

„Sie haben“, fragte Mr. Jenkins zögernd, „eine größere Mitgift von Ihrem Herrn Vater erhalten, Mrs. Wimbleton?“

„25 000 Pfund Sterling“, erwiderte die junge Dame.

„Eine halbe Million Schilling“, sagte Mr. Jenkins anerlennend. „Eine schöne Summe!“

„Unsere Hochzeit wurde, wie Sie sich vielleicht erinnern werden, Anfang April im Claridges Hotel mit großem Glanz gefeiert. Dann fuhren wir auf einen Monat nach den Kanarischen Inseln und wollten am 10. Mai zurück sein. Inzwischen hatte mein Vater uns ein Haus in Kensington Gore gekauft und es vollständig möbliert. Meine Mutter, die sehr umsichtig ist und sehr an mir hängt, hatte eine Anzahl Dienstboten engagiert, die die Weisung erhielten, am 10. Mai ihren Dienst in unserem Heim anzutreten.“

„Aber“, fiel Mr. Jenkins ein und warf einen Blick auf den Kalender, „wir schreiben heute erst den 6. Mai, gnädige Frau . . .“

„Ganz richtig“, versetzte die junge Dame lächelnd.

„Und den Grund sollen Sie sofort erfahren . . . Meinem Mann wurde das untätige Leben in Teneriffa allmählich unerträglich. Er, der gewohnt ist, jeden Tag von 9 – 5 Uhr zu arbeiten, hatte jetzt nichts weiter zu tun, als abwechselnd zu baden zúnd zu segeln und dazwischen zu essen. Anfang Mai erklärte er mir, er könne dieses Leben nicht länger führen. Und so entschlossen wir uns, schon vor der Zeit nach London zurückzukehren. Wir stellten uns da ganz romantisch vor: so gewissermaßen inkognito in London zu sein und ein paar Tage ganz für uns allein in unserem neuen Heim in Kensington Gore zu leben. Und so geschah es. Auch meine Eltern haben wir nicht von unserer Rückkehr benachrichtigt. Nur einige Geschäftsfreunde, mit denen James gleich nach seiner Rückkehr zu konferieren hatte.“

„Und die Dienstboten?“ warf Mr. Jenkins ein.

„Auch die Dienstboten“, antwortete die junge Dame lächelnd, „haben wir nicht ehelligt. Wir stellten es uns keineswegs schrecklich vor, ein paar Tage ganz allein zu hausen und unser Diner in einem Restaurant einzunehmen. In den letzten Tagen habe ich sogar selbst gekocht; denn ich habe in Lausanne Kochen gelernt. Und ich dsarf wohl sagen: es hat uns beiden recht gut geschmeckt.“

„Ich bin überzeugt davon, gnädige Frau“, ssgte Mr. Jenkins mit höflichem Lächeln. „Und darf ich fragen . . .“

„Sofort, Mr. Jenkins, fiel die Dame ein. „Entschuldigen Sie, wenn ich etwas weitschweifig von dem Glück meiner jungen Ehe rede. Aber diese Einleitung war, wie Sie gleich sehen werden, notwendig . . . So saßen wir auch gestern um halb sieben beim Diner, als es plötzlich klingelte. Das ist an und für sich eine Seltenheit, da doch so gut wie niemand von unserer Anwesenheit weiß. Einigermaßen betroffen, ging mein Mann zur Tür. Es war ein Telegraphenjunge, der einen Rohrpostbrief brachte. In diesem Rohrpostbrief lag ein Billet auf eine Loge im St. James-Theater. Und dabei lag ein Zettel mit den Worten:

‚Ratet einmal, wer euch diese Loge schick?‘

Nun, wir haben uns nicht lange den Kopf zerbrochen.

Das Billett mochte von Mr. Atkinson, dem langjährigen Geschäftsfreunde meines Mannes, kommen, der uns schön häufig kleine Aufmerksamkeiten während unseres Verlöbnisses erwiesen hatte. Vielleicht auch war es eine Überraschung von einer Freundin, die ich gestern früh in Oxford Street traf. Jedenfalls: wir hatten die Loge und entschlossen uns, sie zu benutzen. ZHumal man Bernard Shaw spielte, meinen Lieblingsschriftsteller. Wir nahmen also ein Auto und fuhren ins Theater.

Und nun kommt da Unerhörte. Als wir um halb zwölf wieder zu Hause anlangten, paßte der Schlüssel nicht. Schließlich gelang es uns doch, mit einiger Mühe die Tür zu öffnen. Nichts Gutes ahnend, schritten wir die Treppe hinauf. Da sah ich, daß die Tür zu meines Mannes Arbeitszimmer offen stand: ich wußte genau, daß ich sie abgeschlossen hatte. Ich schaltete das Licht ein, und unser erster Blick fiel auf den Geldschrank, der erbrochen war. Erbrochen und beraubt: die Kassette, die meine ganze Mitgift und außerdem einen großen Teil des Vermögens meines Mannes enthielt, war verschwunden.“

Mr. Jenkins zog nachdenklich die Stirn in Falten und fragte: „Wie kommt es, Mrs. Wimbledon, daß Sie so viel bares Geld im Hause hatten?“

„Das erklärt sich leicht“, antwortete die junge Dame. „Mein Mann beabsichtigte, heute einen größeren Einkauf zu machen. Zu diesem Zwecke hatte er sich mit barem Gelde versehen. Zumal heute Bankfeiertag ist.“

„Die beiden Logenbilletts haben sich für ihren Spender rentiert“, sagte Mr. Jenkins nach einer Pause mit finsterem Lächeln.

„Wir gingen noch in der Nacht zur Polizei. Sie nahm in der üblichen Weise den Tatbestand auf und versicherte uns, wir würden weiteres hören . . . daß wir in der Nacht nicht viel geschlafen haben, werden Sie sich denken können, Mr. Jenkins. Heute früh, als ich zu einer Besorgung in die City fuhr, kam mir plötzlich der Gedanke an Sie, Mr. Jenkins. Und kurz entschlossen nahm ich ein Cab und fuhr zu Ihnen nach Brixton hinaus.“

„Nun,“ sagte Mr. Jenkins, „es wird mich freuen, Mrs. Wimbledon, wenn ich Ihnen dienlich sein kann. Sagen Sie mir bitte eins: haben Sie einen Verdacht?“

Die junge Frau dachte einen Augenblick nach und sagte dann: „Nein, Nicht den geringsten.“

„Was enthielt der Geldschrank außer der gestohlenen Kassette?“

„Geschäftspapiere und Geschäftsbücher.“

„Sind diese vollzählig vorhanden?“

„Außer dem Gelde fehlt nichts.“

„Wieviel Leute wissen, daß Sie in London sind?“

„Fünf oder sechs.“

Jenkins zog die Uhr. „Wo befindet sich Mr. Wimbledon zurzeit?“
„In seinem Bureau in Philpot Lane.“

„Und wann kommt er nach Hause?“

„Um 6 Uhr.“

„Erwarten Sie mich bitte um 5 Uhr, und fertigen Sie mir bis dahin eine Liste derjenigen Personen an, die von Ihrem Aufenthalt in London unterrichtet sind.“
 
* * *  
Als Mr. Jenkins um 5 Uhr am Hause Nr. 11, Kensington Gore, klingelte, öffnete ihm Mrs. Wimbledon persönlich.
 
„Hat sich irgend etwas ereignet?“ fragte der Detektiv.

„Nichts, Mr. Jenkins.“

„Darf ich Sie also bitten, mich zu dem erbrochenen Geldschrank zu führen.“ Wenige Minuten später stand Mr. Jenkins sinnend vor dem stählernen Ungetüm, aus dessen ausgerissenen Eingeweisen Ströme von Kieselgur zu Boden gerieselt waren, die den unteren Teil des Geldschranks und den Fußboden mit grauweißlichem Schimmer bedeckten.

„Haben Sie den Schlüssel?“ fragte Mr. Jenkins.
 
„Hier ist er.“

Der Detektiv schloß auf, betrachtete abwechselnd die Außen- und die Innenseite des Schrankes und schüttelte den Kopf. Dann fiel sein Blick auf die Bücher. „Sie haben wohl nichts dagegen,“ wandte er sich an Mrs. Wimbledon, „wenn ich einen Blick in diese Bücher werfe. Wer weiß, vielleicht hat der Einbrecher auch an diesen Büchern seine Kunst probiert, Lassen Sie sich inzwischen in Ihrer häuslichen Tätigkeit nicht stören, gnädige Frau . . . Dies ist, wie ich vermute, der Schreibtisch Ihres Herrn Gemahls?“

„Ja.“

„Vielleicht geben Sie mir auch hierfür den Schlüssel? Womöglich finden sich auch darin Spuren eines Einbruchs!“

„Ich danke Ihnen für Ihr Interesse, Mr. Jenkins“, sagte Mrs. Wimbledon lächelnd. „Indessen befinden sich in diesem Schrank, soviel ich weiß, nur wertlose Papiere. Im übrigen besitze ich keinen Schlüssel dazu; mein Mann hat ihn bei sich. Und nun entschuldigen Sie mich bitte auf eine halbe Stunde.“

Es war kurz nach 6 Uhr, als Mr. Wimbledon nach Hause kam. Er kam nicht allein. Inspektor Wood von Scotland Yard hatte ihn im Bureau aufgesucht und war mit ihm zusammen nach dem Westen hiausgefahren, um hier höchstpersönlich den Stand der Dinge aufzunehmen.

„Und haben Sie unter Ihren Bekannten“, fragte Ispektor Wood, als die beiden die Treppe heraufstiegen, „wegen der gespendeten Billetts Nachfrage gehalten?“

„Ich hatte heute Gelegenheit,“ war die Antwort Wimbledons, „Mr. Atkonson zu sprechen und Mr. Dawson, einen anderen Geschäftsfreund. Beide kommen als Spender nicht in Betracht. Überhaupt ein Freund von mir kann’s wohl nicht gut sein. Denn Freunde, die nachts einbrechen, habe ich nicht.“
„Und doch,“ antwortete Inspektor Wood beharrlich, „und doch muß es jemand sein, der von Ihrem Hiersein weiß. Dies ist die Tür? Danke, ja, ich werde vorangehen. Ja, es kann natürlich nur ­— — — was ist das — — das ist ja Mr. Joe Jenkins! — — Tag, Jenkins“, . . . er trat auf den berühmten Detektiv zu und schüttelte ihm die Hand. „Wieder in England, Mr. Jenkins? . . . ja, ich hörte schon davon, . . . und gleich einen so schwierigen Fall? . . . Ich glaube, Mr. Wimbledon,“ wandte er sich an diesen, „es war ziemlich überflüssig, daß Sie Mr. Jenkins herbeiholten. Denn ich meine: was er kann, das können wir auch. Oder vielmehr: ebensowenig wie wir, kann er Licht in diese verzwickte Gesichte bringen!“

„Ich habe Mr. Jenkins nicht geholt“, erwiderte Wimbledon kühl.

„Ich war es, der Mr. Jenkins geholt hat. Ich habe ihn gebeten, uns seine Erfahrung zur Verfügung zu stellen.“ Es war Mrs. Wimbledon, die soeben eingetreten war. „Und ich hoffe, es ist dir recht, James?“
„Natürlich, Liebling“, antwortete Mr. Wimbledon und begrüßte seine Frau zärtlich. „Ich fürchte nur das eine, Liebling, Mr. Jenkins wird uns nicht viel nützen können. Du hast selbst gehört, was ein so erfahrener Beamer wie Inspektor Wood soeben gesagt hat.“

„Ja“, pflichtete Inspektor Wood bei, „ich fürchte, Jenkins, hier versagt auch Ihre Kunst. Ein erbrochener Geldschrank, nichts weiter. Keine Spur, gar nichts. Nichts, das einem etwas sagen könnte.“

„Nun,“ antwortete Mr. Jenkins mit gelassenem Lächeln, „etwas sagt mir dieser Geldschrank immerhin.“

Inspektor Wood sah den Detektiv mit verständnislosem Lächeln an.

„Ist Ihnen an diesem Geldschrank nichts aufgefallen, Wood?“ wandte sich dieser lächelnd nach dem Inspektor um.

Der Gefragte sah dem Detektiv ins Gesicht und sagte dann kopfschüttelnd:
„Nein.“

„Betrachten Sie die Tür des Geldschranks.“

Wood warf einen prüfenden Blick auf die Tür und schüttelte abermals den Kopf.

„Ich meine,“ fuhr Jenkins fort, „Sie sollen sie von innen betrachten.“

Inspeltor Wood und Mr. Wimbledon traten neugierig näher und betrachteten die Innenseite der Geldschranktür. Auch Mrs. Wimbledon war näher getreten.

„Fällt Ihnen nichts daran auf?“

„Nein“, sagte Wood nach einer Pause, und auch Mr. Wimbledon blickte achselzucken auf den Detektiv.

„Nun,“ fuhr dieser fort, „Sie sehen, daß diese Tür aufgemeißelt worden ist.“

„Ja, das sehen wir“, sagte Inspektor Wood mit breitem Lachen. „Daß diese Tür zuerst angeschmolzen und dann aufgemeißelt worden ist, das sehen wir allerdings.“

„Was Sie aber anscheinend nicht gesehen haben,“ fuhr Jenkins in ruhigem Tone fort, „das ist die Tatsache, daß diese Tür nicht von außen nach innen aufgemeißelt worden ist, sondern von innen nach außen!“

Der Inspektor starrte den Detektiv mit großen Augen an. „Das beweist . . .“ fragte er atemlos.

„Das beweist,“ fuhr Jenkins gelassen fort, daß jemand, der den richtigen Schlüssel besaß, es also gar nicht nötig hatte, diesen Schrank in aller Ruhe aufgeschlossen und ihn dann absichtlich demoliert hat. Absichtlich demoliert, um . . .“

„Um . . .“ wiederholte Inspektor Wood mit vor Erregung zitternden Lippen.

„Um einen Einbruch vorzutäuschen.“

„Und haben Sie eine Ahnung,“ fragte Mr. Wimbledon mit heiserer Stimme, „wer diesen fingierten Einbruch ausgeführt haben könnte?“

Der Detektiv sah den Edelsteinhändler eine Sekunde ruhig an. Dann sagte er langsam: „Sie, Mr. Wimbledon!“

In diesem Augenblick geschah etwas Unerwartetes. Mit einem einzigen Satze war Mr. Wimbledon an der Tür angelangt, hatte sie aufgerissen und sie im nächsten Moment von draußen abgeschlosse. Dann hörte man ihn mit drei Sätzen die Treppe hinuterstürmen und gleich darauf das Haus verlassen. So blitzschnell war dies alles geschehen, daß niemand den Enteilenden gehindert hatte.

„Ich habe erwartet,“ sagte Mr. Jenkins mit traurigem Lächeln, „ich habe erwartet, daß Mr. Wimbledon diesen Weg wählen würde. Es tut mir leid, gnädige Frau, daß ich Ihnen eine so traurige Wahrheit habe verkünden müssen. Aber, ich denke,“ fuhr er in tröstendem Tone fort, als Mrs. Wimbledon, die Hände vor die Augen gepreßt, in einen Sessel sank, „eine schlimme Wahrheit ist immer noch besser als eine schöne Lüge. Und Lüge war alles, was Mr. Wimbledon bisher getan und gesagt hat.

Mir waren“, fuhr Jenkins erklärend fort, „sofort Zweifel gekommen, als Sie, gnädige Frau, mir von dem plötzlichen Wunsche Ihres Gatten erzählten, vor der Zeit nach London zurückzukehren. Noch dazu in ein Haus ohne Dienstboten. Sie erklärten mir, Sie beide hätten dies sehr romantisch gefunden. Nun — eine junge Dame mag es romantisch finden — einen Mann wird es nicht anders als unbehaglich erscheinen. Mir kam sofort der Verdacht, daß Mr. Wimbledon mit diesem dienstbotenlosen Hause eine besondere Absicht verfolgte. Als ich nun den von innen nach außen erbrochenen Geldschrank sah, da wußte ich es ziemlich genau, daß ein Abgesandtet des Herrn Wimbledon hieer in der letzten Nacht gearbeitet hatte — und mein Verdacht wurde zur Gewißheit, als ich dieses fand.“ Er hielt ein gelbliches Heft in die Höhe. „Diese Fahrkarte nach Amerika fand ich in dem Schreibtische Ihres Mannes. Sie lautet auf den Namen Yack Warren und ist ausgestellt für den Dampfer Aquitania, der morgen Southhampton verläßt. Betrachten Sie den Namen Yack Warren: er hat die gleichen Anfangsbuchstaben wie der Name Ihres Gatten: Yames Wimbledon. Mr. Wimbledon hat ein geschicktes Pseudonym gewählt: so konnten auch die Monogramme in seiner Wäsche ihn nicht verraten!“

Mrs. Wimbledon hatte mit Mühe den Kopf erhoben und starrte den Detektiv an.

„Aber — warum das alles?“ fragte sie endlich tonlos.

„Auch das will ich Ihnen erklären, gnädige Frau“, fuhr Jenkins fort. „Es ist leider kein Zweifel: Ihr Gatte hatte die Absicht, morgen abend mit Ihrer Mitgift die Flucht nach Amerika zu ergreifen. Denn, obwohl er aus den Geschäftsbüchern die wichtigsten Seiten herausgerissen hat, so habe ich doch feststellen können, daß sich Mr. Wimbledon in den letzten Jahren durch seine unsinnigen Spekulationen vollkommen ruiniert hat. Der Ansturm der Gläubiger war zu erwarten, sobald seine Anwesenheit in London bekannt wurde. Deshalb entschloß er sich zur Fliúcht — mit Ihrem Gelde.“

„Aber“, warf Mrs. Wimbledon ein — „mein Mann hatte doch meine Mitgift bereits in Händen! Er hätte sie doch einfach nehmen können und abreisen! Wozu denn diese ganze Komödie mit dem fingierten Einbruch?“

„Nun, gnädige Frau,“ erwiderte Mr. Jenkins, „auch das kann ich Ihnen aufklären. Wäre die Flucht mit Ihrer Mitgift bekanntgeworden — und die ganze City hätte sie übermorgen früh gewußt — so hätte Mr. Wimbledon mit dem Gelde wohl kaum eine ruhige Minute gehabt. Wahrscheinlich hätte er Amerika überhaupt nicht erreicht, ohne daß man ihn verhaftet oder das Geld zum mindesten marconitelegraphisch beschlagnahmt haben würde. Das würde wahrscheinlich schon Ihr Herr Vater getan haben, gnädige Frau. Daher mußte Herr Wimbledon die Nachricht verbreiten, das Geld sei ihm gestohlen worden. Sie hätten dann mit ziemlicher Sicherheit übermorgen früh einen herzzerreißenden Brief on Ihrem Gemahl erhalten, worin er Ihnen mitgeteilt haben würde, er könne den Verlust des ihm anvertrauten Gutes nicht überwinden, und er habe sich daher in diesem Augenblick bereits das Leben genommen. Und während Sie seinen Tod beweint hätten, hätte er mit Ihrem Gelde in Amerika ein angenehmes Leben geführt.“

„Mein Gott!“ schluchzte die junge Frau.

„Es wird Herrn Wimbledon“, so fuhr Mr. Jenkins fort, „nicht schwer fallen, unter dem Vorwande, er habe sein Billett verloren, ein Dupblikat zu erhalten. Sollten Sie es also wünschen, gnädie Frau, so sind Sie in der Lage, morgen abend durch Inspektor Wood Hand auf Ihren Gatten, oder auf Ihr Geld, zu legen, in dem Moment, in dem er in Southhampton an Bord der Aquitania geht. Und nun gestatten Sie mir, mich zu verabschieden und Ihnen mein herzlichstes Beileid auszusprechen.“

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