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Literatur


04.3


Am Kamin
Paul Rosenhaym

08 Rauch im Westwind

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Rauch im Westwind!
(Stockholm)

Der herbe Hauch des Meeres wehte frisch und salzig herüber zu den beiden Männern, die seit zwei Stunden den langen Küstenweg entlang schritten, der von Salsjöbaden zur Stadt führe. Jenseits, im Westen, standen die gewaltigen Linien der Türme von Stockholm gegen den verschleierten Horizont, und fern drüben, hinter jenen gluterfüllten Wolken, tauchte der feurige Sonnenball in die untergründlichen Fluten des Mälarsees.
 
Die beiden Männer standen schweigend und blickten gedankenverloren auf das majestätische Schauspiel. Eben nahm der größere von beiden den Hut ab und ließ den frischen Wind um die erhitzte Stirn spielen.
 
„Der Wind war nicht stärker als heute, Mr. Jenkins“, nahm der kleinere von beiden das Wort. „Eher noch schwächer. Und deshalb ist es ein Rätsel, daß dieses furchtbare Unglück passieren konnte. Bei unseren erprobten Aviatikern!“

Joe Jenkins nickte. „Ich muß gestehen: der Fall ist einer der rätselhaftesten, die mir je begegnet sind. Und Sie sind fest überzeugt, Herr Bark, daß es nicht atmosphärische Störungen sind, die diese seltsamen Unglücksfälle verursacht haben?“

Der Ministerialrat schüttelte lebhaft den Kopf.

„Nein, Mr. Jenkins. Wir haben auf der Stelle unsere ersten Gelehrten von Stockholm und Upsala befragt. Sie haben eingehend und gewissenhaft alles geprüft, und sie sind übereinstimmend zu dem Ergebnis gelangt, daß das Wetter und die Natur keine Schuld haben an diesen unerhörten Vorkommnissen. Nie hat man über dem Hafen von Stockholm derartige Wirbelwinde beobachtet. Bedenken Sie, Mr. Jenkins: vollkommen ruhige Luft — klar und durchsichtig wie Kristall. Ja, einmal, vor vierzehn Tagen, da war es überhaupt ganz windstill. Hier, wo wir stehen, und drüben, und dort . . . überall . . . standen sie, um unsere kühnen Flieger zu sehen. Eben kommt der erste und schnellste von ihnen herübergesurrt. Da . . . auf einmal . . . ein Schrei . . . man sieht, wie eine Böe den Apparat erfaßt . . . der Flieger saust ein Stückchen steil abwärts und erlangt einen Augenblick das Gleichgewicht wieder. Deutlich hört man das nahe Rattern des Motors . . . eben will der Flieger sich wieder in die verlorene Höhe hinaufschrauben . . . da . . . plötzlich . . . wirbelt der Apparat um seine eigene Achse wie ein Schiff, das in den Maelstrom geraten ist . . . ein entsetzter Aufschrei aus zwei Millionen Kehlen . . . und drei Minuten später liegt der Flieger mit zerschmetterten Gliedern zu unseren Füßen.“

Der Detektiv schüttelt den Kopf. „Zunächst glaubten Sie an eine Zufall . . .?“

Ministerialrat Bark nickte. „Ja. Wir glaubten an atmosphärische Störungen . . . an einen Zusammenhang mit Erschütterungen, die gerade aus Mitteldeutschland und aus der Schweiz gemeldet wurden. Drei Tage später stieg einer unserer besten Flieger auf.
 
Wieder war das Wetter fast windstill. Auf einmal überschlägt sich der Apparat, sichtlich von einem Wirbel erfaßt . . . und dabei war es in dem Moment vollkommen ruhig. Ich sah zufällig, wie sich gerade ein Mann neben mir eine Pfeife anzündete — und zu  gleicher Zeit dort oben . . . dieser Zyklon . . . noch heute liegt es wie ein entsetzlicher Druck auf mir, wenn ich an den Anblick zurückdenke . . . im nächsten Moment ziehen wir einen gräßlich verstümmelten Toten unter seinem Apparat hervor . . .

Noch in derselben Nacht lief ein dunkles Gerücht durch Stockholm, daß hier ein unbegreifliches, unerklärliches Verbrechen vorliege . . . unerhörte, wahnwitzige Kommentare tauchten auf . . .

Am nächsten Sonntag stieg Olaf Söderström auf . . .

Olaf Söderström . . . unser Stolz und unsere Hoffnung . . . Schwedens bester Pilot . . . ein Mann mit Nerven von Stahl . . . der Liebling der Frauen . . . der Kühnste unserer Helden . . . Alle Vorsichtsmaßregeln, die Menschen ersinnen können, waren getroffen. Der Hangar des Aeroplans war Tag und Nacht von einer Abteilung Soldaten bewacht; sogar das Dach des Hangars wurde observiert. Söderström selbst schlief bei seinem Apparat. . .
 
Es war ein strahlender Frühherbstsonntag, als Olaf Söderström aufstieg. Alle Schiffe im Hafen hatten geflaggt; vom Turm der Riddarholmskirche ertönte der Posaunenchor . . .

Eine halbe Stunde später stürzte er mit seinem Apparat ins Wasser; der furchtbare Aufprall auf die Oberfläche des Norrströms hatte seinen Körper auseinandergerissen und seine Glieder hundertfach gebrochen . . .

Nun legte sich ein eisiges Grauen über unser Land. Nun zweifelte kein Mensch mehr, daß hinter allen diesen Unbegreiflichkeiten das Verbrechen stand. Das Verbrechen!

Aber . . . welcher Mensch von Fleisch und Blut wäre imstande, Wind und Wetter zu gebieten? Welcher Mensch vermochte dem Sturm zu befehlen: Rase! Welcher Irdische hätte die Machst, sich zum Herrn der Lüfte aufzuwerfen? . . . Unser Volk ist ein Seemannsvolk, Mr. Jenkins . . . und Seeleute sind abergläubisch. Und so raunte und flüsterte man bald: der Satan selbst habe seine Hand im Spiel gehabt . . .

Aber selbst den Gebildeten ging es nicht viel besser: je mehr man forschte und grübelte, desto toller und abenteuerlicher wurden die Hypothesen und die Kombinationen.

Da fiel von einer hohen Stelle ein Name: Joe Jenkins!

Am nächsten Tage schon beschlossen wir in geheimer Sitzung, Sie nach Stockholm zu bitten. Wir haben gehört, Mr. Jenkins, daß ein Problem erst da anfängt Sie zu interessieren, wo andere es als unlösbar beiseite schieben. Nun wohl . . . wenn je eine Aufgabe Ihrer würdig war, Mr. Jenkins, so ist es diese! . . . Helfens Sie uns . . . Sie sind die Hoffnung eines ganzen Landes!“ —

Der Detektiv zog aus der Tasche seines Raglans eine Zeitung und faltete sie auseinander. „Trotz aller dieser Ereignisse lese ich, daß morgen früh ein neuer Schauflug stattfinden wird?“

„Ja, Mr. Jenkins. Unsere Flieger fürchten nicht den Tod. Morgen früh werden drei unserer besten Aviatiker aufsteigen!“

Joe Jenkins knüpfte den Mantel fester zu, wandte sich langsam herum und ließ seine scharfen Augen über die See gleiten, auf der schon die Schatten der Dämmerung lagen.

Der Detektiv nickte: „All right . . . Übrigens legt, wie ich sehe, unsere Schaluppe dort unten an. Ich habe noch einiges in Stockholm zu tun — darum wäre es mir erwünscht, wenn wir zurückfahren würden. —„

Der kleine Dampfer, der schaukelnd an der Gutthofsbro lag, schoß wie ein Pfeil davon, nachdem die beiden Herren eingestiegen waren.

Ministerialrat Bark blickte gedankenvoll in das Wasser, das schäumend am Bug aufspritzte. „Wie heißen Sie im Grand-Hotel, Mr. Jenkins?“ fragte er leise. „Ich bin gemeldet unter dem Namen Ralph Thomson, Kaufmann aus Newyork.“
 
* * *

„ Der Bootsführer ist da, Mr. Thompson.“ —

Joe Jenkins schob die Mokkatasse, die den Schluß seines einfachen Soupers gebildet hatte, zurück, knipste behaglich eine Zigarre ab und sagte, indem er sie umständlich entzündete: „Ich komme, Portier.“

Der alte Bootsführer mit dem struppigen Seemansbart lüftete leicht die Mütze, als Joe Jenkins, in seinen langen Mackintosh gehüllt, auf den nächtlichen S. Blasiehhamnen hinaustrat.

Gegenüber dem Marktplatz Karls des Zwölften lag schon die kleine Motorschaluppe ratternd an der Schiffsbrücke. Der Heizer, der den beiden ungeduldig entgegengesehen hatte, schnellte mit einem geschickten Griff das dicke Tau von den Duc d’Alben herunter, und schlingernd und stampfend begann das Boot sich in die Fluten zu bohren.

Über dem Hafen von Stockholm lag eine sternenhelle Frühherbstnacht. An den Docks wuchteten stumm und drohend die schwärzlichen Leiber der Überseedampfer, die hier von Sturm und Gefahr ausruhten. Ihre weißen, grünen und roten Lichter, die an den Masten schaukelten, warfen ihre zitternden Reflexe in die dunklen Wellen, die klatschend an das Ufer rollten.

„Der Wind ist umgesprungen, Herr“, begann der Bootsführer zögernd.

Joe Jenkins nickte und sah nachdenklich zum Himmel. „Heute nachmittag blies es von Norden,“ bestätigte er; „und jetzt geht der Rauch der Dampfer in die Richtung auf die Salzsee zu.“

Der Bootsführer nickte. „Westwind, Herr.“

Aus vielen Hunderten von Schornsteinen kamen wie aus ebenso vielen unruhigen Kratern dunkle, sich ballende und wieder auseinanderstiebende Rauchschwaden, die in langen parallelen Linien von Westen nach Osten zogen. „Das deutet wohl auf Regen?“ fragte der Detektiv lächelnd.

Der Bootsführer warf einen Blick auf den sternenklaren Horizont. „Wenn’s so bleibt, Herr, dann haben wir in zwei Tagen Sturm und Regen. Haben Sie gesehen, wie der Himmel blutig war, als die Sonne unterging?“

Die Fahrt ging an Skeppsholmen vorüber; das Boot näherte sich allmählich der Kastellinsel. Starke Wellen hoben es plötzlich empor; ein paar einfahrende Schiffe dampften langsam und vorsichtig vorüber. Behend und schlank wie ein Windspiel nahm die kleine Schaluppe den Weg zwischen ihnen hindurch. Die offene See tauchte auf, und nach und nach verlor sich das Ufer immer mehr von den Blicken.

Sie fuhren an ein paar stilliegenden Schiffen vorbei. Ein paar grüßende Scherzworte hallten durch die Nacht; die Antwort schallte dumpf und rollend über die Wasser.

An den Piers der Kastellinsel lagen drei weiße Jachten unter Dampf. Joe Jenkins ließ seine forschenden Augen über die dunkle Wasserfläche gleiten, und plötzlich sagte er mit einer seltsam heiseren Stimme:

„Stop!“

Ein kurzer Zuruf an den Heizer. Das Zittern der Schiffsschraube verstummte augenblicklich,und geräuschlos glitt das Boot vorwärts.

Joe Jenkins stand unbeweglich, die Hände tief in die Taschen seines Mackintoshs vergraben, und starrte hinüber zu den drei weißen Jachten dort drüben an den Piers der Insel. Er zog kopfschüttelnd das Fernglas und setzte es an die Augen. Klar und scharf trat das Bild der drei Jachten vor das Objektiv.

Nein — es war keine Täuschung. Die Rauchfahnen der beiden äußeren Schiffe gingen scharf und gerade nach Osten. Der Rauch, der aus dem Schornstein des mittleren Schiffes kam — quirlend, flockig, schwärzlich . . . der Rauch aus dem dritten Dampfer ging nach Norden . . . Nach Norden . . .

Eine Hand rührte Joe Jenkins am Arm. Er wandte sich zur Seite; neben ihm stand der Bootsmann. „Haben Sie es gesehen, Herr?“ fragte er mit einer Stimme, aus der eine geheime Angst zu zittern schien. „Haben Sie es gesehen?“

Joe Jenkins nickte.

„Es ist das zweitemal, daß ich es beobachte“, fuhr der Alte fort. „Das erstemal . . . das war vor acht Tagen. Ich kam von Djurgardsstaden; es war spät nachts, und ich hatte mit meinen Kameraden ein wenig gekneipt — beim altern Hilversum, müssen Sie wissen. Da sah ich es zum erstenmal . . .

Wir hatten Nordwind; aus allen Schiffen ging der Rauch schnurgerade nach Süden. Dieses Schiff . . . das dort in der Mitte . . . dieses Schiff schickte seinen Rauch nach Westen . . . Erst glaubte ich, ich wäre benebelt, Herr. Ich rief meinen Heizer; der schaute auch hinüber. Und als er sich zu mir herumdrehte, war er totenblaß; nein, ich hatte mich nicht geirrt. Noch in derselben Nacht ist der Heizer gestorben; am Herzschlag, sagte der Doktor; aber ich mache mir meine eigenen Gedanken darüber.“

„Was ist das für ein Schiff?“ frage Joe Jenkins.  „ich weiß es nicht, Herr . . .“ Er sah sich scheu um, und dann fuhr er zögernd fort: „Ich möchte sagen: ich will es gar nicht wissen . . . ich hab‘ mich nicht herangetraut an das Schiff. Und von hier kann man, auch am Tage, den Namen nicht lesen.“

Joe Jenkins lächelte. „Fahren Sie an die Jacht heran.“

Der Alte sah einen Augenblick schweigend zu Boden. Dann nahm er die Mütze ab, kratzte sich den Kopf und sagte in festem Ton: „Nein, Herr. Ich tue es nicht.“

„Ich werde Ihnen zwanzig Kronen extra geben.“

„Nein, Herr. Und wenn Sie mir hundert Kronen gäben; ich tät‘ es nicht. Ich hab‘ Frau und Kinder zu Hause . . . lassen Sie uns heimfahren, Herr! Glauben Sie mir: man soll den Himmel nicht versuchen!“

Joe Jenkins sah unschlüssig zu Boden. Das Rattern einer Schiffsschraube kam dumpf und klatschend durch die Nacht.

„Dort drüben fährt eine Zollbarkasse, begann der Alte. „Vielleicht weiß der Führer den Namen. Soll ich ihn fragen?“ — “Ja”, sagte Joe Jenkins.

Der Propeller begann zu arbeiten, der Bug des Schiffes wandte sich nach Süden, und nach zehn Minuten lag die Schaluppe an der Seite der kleinen Zollbarkasse. Ein paar Rufe hinüber und herüber, die der Detektiv nicht verstand; dann pflügten die beiden flinken Botte auseinander . . . „Es ist die Jacht ‚Hurricane‘“, sagte der Bootsführer.

„Nationalität?“ fragte Joe Jenkins.

„Unbekannt. Scheinen Sportsleute zu sein, denn sie haben den Schauflügen beigewohnt“, sagte der Zollbarkassenführer. „Es kommen ja jetzt viele von solchen ausländischen Gästen.“
 
„Sie liegen unter Dampf . . .“

„Vermutlich wollen sie mit Tagesanbruch nach dem Start der Hydroplane dampfen.“

Die dumpfen Töne einer Kirchturmuhr zitterten über das Wasser.

„Halb elf!“ sagte Joe Jenkins. „Wir wollen nach Hause fahren.“
 
* * *
 
Es war nach Mitternacht, als der Detektiv wieder im Grand-Hotel anlangte.

„Ein Herr wartet auf Sie, Mr. Thompson“, meldete der Portier und überreichte dem Gast einen Zettel.
 
„Ein Herr . . .“ Joe Jenkins warf einen Blick auf das Blatt Papier: „Wo ist er?“

„Nebenan im Grand-Café. Sie können durch diese kleine Tür gehen.“

Der Detektiv öffnete die Tür, die zu dem menschenerfüllten Raum führte. Er bliebe stehen und sah sich suchend um.

Von einem der Tische erhob sich ein Herr und ging auf Joe Jenkins zu.

Es war Ministerialrat Bark. „Gott sei Dank!“ sagte er leise.

Der Detektiv war einen schnellen Blick über die Erscheinung Barks. Erst jetzt sah er, daß sein Gesicht erdfahl war, und daß seine Hände zitterten.

„Ist etwas geschehen?“ fragte Jenkins kurz.

Der andere sah sich vorsichtig um und nickte.

„Kommen Sie mit mir auf mein Zimmer.“

„Nun?“ Der Besucher hatte sich in einen Stuhl niedergelassen und saß zusammengekauert und mit dem Gesichtsausdruck eines Mannes da, dem irgend etwas Unbegreifliches widerfahren sein mochte. Seine Stimme, die am Nachmittag klar und hell geklungen hatte, schrillte heiser und kaum verständlich durch den Raum. „Ich habe Ihnen“, begann der Besucher mit zitternder Stimme, „heute nachmittag ein Ereignis verschwiegen, und zwar aus dem Grunde, weil ich es für unwesentlich gehalten habe. Inzwischen bin ich anderer Meinung geworden. . . ich sehe jetzt ein: ich habe unrecht daran getan, Ihnen nicht alles zu sagen . . . um es gerade heraus zu sagen: ich werde voraussichtlich diese Nacht sterben. . .“

Joe Jenkins hob langsam seinen Blick und ließ die Augen über den Mann gleiten, der bleich und zitternd vor ihm saß . „Und diese Todesgefahr — hängt sie .  . . zusammen mit . . . den Aeroplanabstürzen?“ fragte er.

„Ja, Mr. Jenkins. Ich will Ihnen erzählen. Es war vor drei Tagen, als ich mitten in der Nacht, kurz vor zwei Uhr, plötzlich davon erwachte, daß laut und schrill das Telephon anschlug. Ich stand auf, eilte an den Apparat und meldete mich.

Eine unbekannte Stimme sagte: „Herr Bark . . . Sie haben eine gefährliche Mission auf sich geladen . . . Sie spüren den Ursachen der Aeroplanabstürze nach. Eine Kommission, deren Obmann ich bin, hat Ihren Tod beschlossen, wenn Sie nicht innerhalb drei Tagen von Ihrem Posten zurücktreten. Sollten wir nicht in drei Tagen von heute ab in den Morgenblättern Ihre Demission lesen, so wird sich Ihr Schicksal vollziehen!“

Ich stellte zitternd eine Gegenfrage — das Telephon blieb stumm. Der Sprecher war verschwunden.“

„Haben Sie bei der Telephonzentrale recherchiert?“

„Natürlich. Der Anruf war von einer öffentlichen Telephonstation aus geschehen; Sie wissen wohl, daß diese Zellen bei uns die ganze Nacht geöffnet sind.“

„Was taten Sie nun?“

„Sie werden sich denken können, Mr .Jenkins, daß mich diese Drohung außerordentlich erschreckt hat. Aber als dann allmählich der junge Tag anbrach . . . als die Sonne hell und freundlich ins Zimmer schien . . . da verschwand meine Angst mehr und mehr. Endlich habe ich über die Drohung gelächelt — ja . . . ich habe sie für einen üblen Scherz gehalten . . . und schließlich habe ich darüber gelacht . . . gelacht . . . bis heute . . .“

„ . . . Bis heute . . .?“ wiederholte Joe Jenkins . . .

„Ja. Als ich Sie heute verließ, Joe Jenkins . . .da merkte ich, daß mir jemand folgte . . . auf Schritt und Tritt . . . Ich blieb stehen; er verschwand in einer Seitengasse. Ich ging weiter; mein Verfolger war auf einmal wieder da . . .  Kein Zweifel: die Aufmerksamkeit dieses Mannes galt mir . . .

Ich wohne am Berzeliipark. Als ich mein Arbeitszimmer betrat, drängte sich mir plötzlich das Gefühl auf, daß eben ein Fremder in diesem Raum gewesen sein mußte. Ich untersuchte das Zimmer . . . ja . . . das Schloß meines Schreibtisches war verbogen; wichtige Papiere fehlen. Zufällig blicke ich, als ich die Rouleaux herunterlassen will, zum Fenster hinaus. Da sehe ich plötzlich, daß mich von der anderen Seite zwei Männer beobachten . . . zwei elegant gekleidete Männer. Und plötzlich fällt es mir ein: heute ist der dritte Tag!

Je mehr die Nacht hereingesunken ist, desto mehr hat sich in mir die Überzeugung festgesetzt: dies wird meine letzte Nacht sein! Und darum bin ich zu Ihnen geflüchtet, Mr. Jenkins.“

Joe Jenkins streifte die Asche von seiner Zigarre und sagte leise, indem er einen seltsamen Blick auf sein Gegenüber heftete:

„Nun wohl, Herr Bark. Teilen Sie diese Nacht mein Zimmer mit mir!“

Sophus Bark lächelte ein wenig. „Das geht leider nicht, Mr. Jenkins. So gern ich es täte: die meteorologischen Bureaux von Stockholm, Upsala und Gotenburg werden mich während dieser ganzen Nacht telephonisch über die Wetterverhältnisse auf dem Laufenden halten. Ich muß in meinem Hause bleiben, will ich nicht meiner Mission untreu werden.“

„Welchen Vorschlag wollten Sie mir also machen?“ fragte Joe Jenkins.

„Ich möchte Sie bitten: kommen Sie mit mir! Beschützen Sie mich und meine Villa — der Berzeliipark ist kaum eine Viertelstunde von hier entfernt.“

Der Detektiv stand auf und ging mit schweren Schritten im Zimmer auf und ab.

„Es ist ein großes Opfer, das ich Ihnen da bringen soll, Herr Bark!“ sagte er endlich. „Aber ich will es tun! . . .  Gestatten Sie mir, meinen Sekretär einige Anweisungen zu geben . . .“ Er drückte auf den Knopf des Telephons und gab jemandem ein paar Befehle, die der Besucher nicht vertand. —

Joe Jenkins legte den Hörer auf die Gabel zurück und stand auf. „Wir können gehen“, sagte er, indem er den Hut aufsetzte. — —

Die kleine Villa am Berzeliipark lag tief und schweigend hinter hohen Ulmen. Das kleine, saubere Häuschen war über und über mit wilden Wein besponnen . . .

Der Himmel hatte sich bezogen. Ein feuchter Hauch strich durch die Bäume wie ein zitterndes Flüstern, das sich scheu erhob und jäh wieder verstummte.

Eine spärliche Gaslaterne flackerte und ihr Widerschein zuckte seltsam flimmernd auf in den dunklen Fenstern des kleinen Hauses. Sophus Bark schloß auf.

Der Fußboden des langen Korridors hallte laut und dumpf wider von den Tritten der beiden. „Dieses Haus hat große Gewölbe?“ fragte der Detektiv.

Der andere nickte. „Es ist ein altes Haus aus der Zeit Gustav Adolfs, Mr. Jenkins“ Er stieß die Tür zum Arbeitszimmer auf und knipste das Licht an.

Der mittelgroße Raum war geschmackvoll und komfortabel eingerichtet. An der linken Seitenwand und zwischen den Fenstern zog sich die große Bibliothek entlang. Den ganzen Fußboden bedeckte ein weicher Smyrna. Die Fenster waren vergittert. In die rechte Wand war eine Glastür eingelassen, durch die man in ein kleines Zimmer blickte.

„Es ist mein Schlafzimmer“, erklärte Sophus Bark. Er warf einen sehnsuchtsvollen Blick auf das weißschimmernde Bett. „Wenn Sie nichts dagegen haben, so möchte ich eine Stunde schlafen. Sie finden hier im Arbeitszimmer alles: Importen, Whisky und eine reichhaltige Bibliothek.“
 
„Ich werde mir schon die Zeit vertreiben . . . übrigen möchte ich mir schnell Ihr Haus ansehen . . . sind die Zimmer offen?“

„Alle, Mr. Jenkins.“

„Ich bin in fünf Minuten zurück.“

Die Tür schloß sich hinter dem Detektiv. Der Ministerialrat setzte sich in den Klubsessel und blätterte in einem Journal. Ein paar Türen schlugen im Hause; unten im Keller tönte ein leiser Schritt ­ Joe Jenkins war an der Arbeit!

Ein paar Minuten später trat der Detektiv wieder ein.

Sophus Bark legte die Hand vor den Mund und gähnte diskret. Dann winkte er noch einmal dem Detektiv zu und ging in sein Schlafzimmer.

Im Schlafzimmer wandte sich Bark noch einmal um.

Dort im Arbeitszimmer saß vor dem Schreibtisch Joe Jenkins; deutlich zeichnete sich sein scharfes Profil von der dunklen Tapete ab. Eben stand der Detektiv auf und ging mit leisen Schritten im Zimmer auf und ab.

Einen Augenblick schien es dem beobachtenden Blick Sophus Barks, als sei die Gestalt des Detektivs kleiner und gedrungener als vorhin. Dann verwarf er den Gedanken mit innerlichem Lachen als eine Ausgeburt seiner aufgeregten Phantasie. Er ging mit zwei unhörbaren Schritten an einen Schalter in der Nähe des Fensters und drehte den Hebel . . .

Rasselnd und polternd sausten zwei eiserne Jalousien vor die beiden Tür des Arbeitszimmer. Der Detektiv war gefangen . . .

Der Mann im Schlafzimmer lachte kurz und höhnisch auf. Dann ging er an den Kleiderschrank, nahm eine schottische Mütze heraus und schlüpfte in einen langen Ulster.

Er öffnete das Fenster, dessen geölte Angeln sich lautlos drehten, und schlüpfte geräuschlos in den Garten hinaus. Ein paar Sekunden später stand er auf dem menschenleeren Platz.

Der Nybrohamnen lag dunkel und schweigend vor ihm. Dort drüben, im Osten, tat sich die unendliche weiße Linie des Strandwegs auf.

Bark blieb stehen und lauschte. Aus der Ferne kam ein seltsam dumpfer Ton, wie das verworrene Gemisch von Menschenstimmen, unter das sich der Ton rollender Wagen, das Trappen von Pferden und das Rattern von Automobilen mischte. Stockholm machte sich auf, seine Flieger zu begrüßen“

Er schlug eine hastige Gangart ein, und in einer halben Stunde leuchtete die Grefbron vor ihm auf. Ein leiser Pfiff . . . aus dem Dunkel tauchte ein Boot auf. Klirrend fiel eine Kette — dann schoß das Boot im Dunkel der Nacht durch die Wellen, die sich zischend aufbäumten, in der Richtung nach Südosten davon.
 
* * *

Vor dem Grand-Hotel harrte eine unabsehbare Reihe  von Automobilen.

Noch lag die dunkle Nacht über der Stadt Stockholm  — in den weiten, lichtdurchfluteten Räumen des Hotels war fieberndes Leben. Die meisten der Gäste, die mit Sonnenaufgang am Start der Aeroplane sein wollten, hatten diese Nacht wachend verbracht, in der großen Halle, im Café oder in den Restaurants des großen Welthauses. Eine zitternde Erwartung lag über allen diesen Menschen. In aller Nerven zuckte und wühlte die Erinnerung an die Todesstürze der letzten Zeit; Furcht, Sensationsgier und die ganze Wollust eines geheimen Grauens malte sich auf den bleichen Gesichtern. Hier und da wurden Wetten mit halblauter Stimme abgeschlossen.

Eben trat mit hastigen Schritten ein Herr in das Vestibül und ging mit leichtem Gruß auf den Nachtportier zu. „Kann ich Mr. Thompson noch sprechen?“

Der Portier warf einen erstaunten Blick auf den Ankömmling und sagte in diskretem Ton:

„Nein, Herr Ministerialrat. Seitdem Mr. Thompson mit Ihnen zusammen fortgegangen ist, hat er das Hotel nicht wieder betreten.“

Der Ankömmling sah dem Sprecher erstaunt ins Gesicht. Dann sagte er kopfschüttelnd: „Seitdem ich . . .

Vielleicht, daß hier . . .“, er nahm einen Zettel aus dem Fach Nr. 124 und faltete ihn auseinander. „Sie haben Glück, Herr Bark“, sagte er nickend. „Hier liegt eine telephonische Meldung, die in  meiner Abwesenheit eingelaufen sein muß. Mr. Thompson ist nach dem Berzeliipark Nr. 11 gefahren, um dort diese Nacht zu bleiben. Dort sollen wir Nachrichten abgeben, die etwa während dieser Zeit für ihn einlaufen.“

Der Besucher drehte sich hastig herum und ging mit eilenden Schritten auf die Straße hinaus. Draußen wartete noch sein Automobil. Er schwang sich hinein: „Berzeliipark Nr. 11!“

Der Portier blickte ihm kopfschüttelnd nach. —  —

Die elektrische Klingel schrillte gebieterisch durch das weinbewachsene Haus am Berzeliipark. Ein Licht flammte auf; im nächsten Augenblick ging ein Fenster auf und zwischen den Gitterstäben erschien das Gesicht Joe Jenkins‘.

„Sagen Sie, Mr. Jenkins,“ begann Sophus Bark mit atemloser, zitternder Stimme, „was bedeutet das? Ich höre in Ihrem Hotel, daß ein Herr Sie abgeholt hat, der genau ausgesehen hat wie ich und der meinen Namen . . .“

In diesem Augenblick unterbrach er sich und starrte den am Fenster Stehenden mit weitgeöffneten Augen an. „Aber . . . Sie sind ja gar nicht Mr. Jenkins!“ sagte er bebend und trat einen Schritt zurück.

Der andere lachte leise und nickte. „Sie haben recht. Ich bin nicht Mr. Jenkins; ich bin nur Ralph Stanley, sein Assistent und Sekretär. Ich vertrete meinen Herrn hier . . . und ich bin hier gefangen . . .“
Der andere blickte den vor ihm Stehenden noch immer voller Bestürzung an. „Was bedeutet das alles?“ sagte er endlich, und seine Stimme klang wie ein scheues Flüstern. „Was bedeutet das? Wo ist Mr. Jenkins? Er ist nicht hier . . . er ist nicht im Hotel . . . sein Assistent ist gefangen . . . in einer halben Stunde geht die Sonne auf. Dann beginnt der Schauflug . . . und . . . und . . .Mr. Jenkins . . .“

Der Assistent hob langsam den Kopf. Und indem in sein Gesicht ein ernstes, fast feierliches Lächeln trat, sagte er leise: „Mr. Jenkins ist auf seinem Posten Herr Bark!“
 
*  * *

Dort drüben, hinter der schimmernden Salzsee, schoß eine feurige Flammengarbe zum Himmel empor. Wie von einer unsichtbaren Hand zerrissen, teilte sich der Nebel, und lächelnd und sieghaft stieg fern drüben der feurige Sonnenball aus den Wassern. —

Ein Raunen und Murmeln kam durch die Luft und wurde stärker und stärker. Ein Schuß durchschnitt den Morgenwind.

Das ferne Rattern der Propeller setzte ein. Ein einziger vieltausendstimmiger Jubelruf begrüßte die ersten Flieger, deren schlanke Apparate am Horizont sichtbar wurden.

Die fiebernde Erregung wuchs von Sekunde zu Sekunde. So stolz und so siegesgewiß waren vor Tagen auch jene aufgestiegen, die nach wenigen Minuten tot und verstümmelt auf der Erde gelegen hatten. Sollte diese kühnen Piloten das gleiche Schicksal treffen?

Die Apparate kamen ratternd näher. Schon konnte man deutlich jede Linie ihrer feinen Gliederung erkennen.

Die Schaluppe, die den Doppelgänger Sophus Barks trug, legte eben sanft gleitend am Fallreep an, das zu der Jacht „Hurricane“ emporführte. Ein kurzer Pfiff von unten; ein gleicher Pfiff von oben antwortete. Dann kletterte der Ankömmling mit ein paar behenden Bewegungen empor und schwang sich über die Reeling.

„Guten Tag, Herr Omelianowitsch!“ sagte eine joviale Stimme.
 
Der Ankömmling drehte sich mit einem unterdrückten Ausruf herum. Vor ihm stand Joe Jenkins.

„Nicht wahr, Herr Omelianowitsch,“ sagte der Detektiv lächelnd, „das hatten Sie wohl nicht gedacht, daß ich Sie an Bord Ihrer eigenen Jacht erwarten würde?“

Der Angekommene stierte noch immer fassungslos den Sprecher an. Dann wandte er langsam seine Blicke nach rechts und nach links, wo ein Dutzend unbekannter Männer stand, die ihn interessiert betrachteten.

„Ich verstehe nicht“, stammelte er endlich. „Mr. Jenkins . . . eben waren Sie doch noch . . . in meiner Villa am Berzeliipark . . .“

„Ein kleiner Irrtum, Herr Omelianowitsch“, verbesserte der Detektiv. „Nämlich, als ich hinausging, angeblich um mir Ihr Haus anzusehen, da war ich es noch  — aber als ich wieder hereinkam, da war ich es nicht mehr; da ist in Wirklichkeit mein Assistent für mich eingesprungen  — in meiner Maske, versteht sich  —, während ich selbst, so schnell ich konnte, mit einem Dutzend Polizeibeamten nach der Jacht „Hurricane“ fuhr. Denn die Erscheinung einer Rauchwolke, die bei Westwind nach Norden ging, wollte mir nicht aus dem Kopf.

Im übrigen mein Kompliment, Herr Omelianowitch!

Die Druckluftanlage auf Ihrem Schiffe, die die menschenfreundliche Bestimmung hat, einen Luftwirbel zu erzeugen, der die in seinen Bannkreis geratenden Aeroplane zum Absturz bringt  — alle Hochachtung! — sie ist einfach genial erdacht. Ihre Regierung wird Ihnen diese Erfindung nicht schlecht bezahlt haben.

Rauch im Westwind, der nach Norden ging . . . Als ich das sah, da wußte ich sofort: nur eine Kompressorenanlage von unerhörter Stärke konnte dieses Phänomen erzeugt haben; und während ich grübelnd die Erscheinung betrachtete und mir den Kopf zerbrach, da fuhr es mir plötzlich durch den Sinn: eine Generalprobe zu  dem Schauflug des kommenden Morgens! — Eine Generalprobe, jawohl, nichts anderes.

Durch meinen Assistenten ließ ich inzwischen Erkundigungen bei der Polizei einholen. Da erfuhr ich, daß der Besitzer der Jacht ‚Hurricane‘ ein Mann mit einem seltsam harten russischen Akzent sei, der sich zwar Lornsen nenne, der aber identisch sein soll mit einem gewissen Omelianowitch.

Da begann mein Interesse für Sie zu wachsen. Und als Sie mir nun gar das Vergnügen Ihres Besuches machten und in der  — übrigens ziemlich durchsichtigen ­ Maske des Ministerialrats Bark erschienen  — kein schlechter Gedanke übrigens . . . da wußte ich es genau, daß Sie mich für diese Nacht unschädlich zu machen beabsichtigten . . . warum . . . das war nicht schwer zu erraten, wenn ich an den Schauflug dachte, der mit Sonnenaufgang beginnen sollte . . .“

Der Ertappte machte eine blitzschnelle Wendung zur Seite und setzte den Fuß auf die Reeling. „Nicht doch,“ sagte Joe Jenkins gelassen und zog Omelianowitch sanft zurück; „das Wasser ist recht kalt des Morgens; wie leicht könnten Sie sich eine Influenza zuziehen . . . schließen Sie sich lieber diesen Herren an, die sich eine Ehre daraus machen werden, Sie ungefährdet nach dem sicheren Kungsholmen zu geleiten!“

Ein lautes Rattern unterbrach ihn. Alles richtete den Blick empor. Mit der ruhigen Majestät eines Adlers zog der erste der Aeroplane seine Kreise über dem weißen Schiff. Joe Jenkins nahm lächelnd seine Mütze ab und schwenkte sie grüßend empor. „Gute Fahrt, alter Junge . . . dich wird kein Wirbelwind herunterholen!“

Er winkte dem Schaluppenführer. „Ich werde mit Ihnen nach Stockholm zurückfahren.“ sagte er erklärend: „Ich denke, ich fahre zunächst nach dem Berzeliipark Nr. 11. Denn ich würde mich sehr wundern, wenn nicht mein Assistent, freiwillig oder unfreiwillig, noch dort zu finden wäre . . .“

Wie auf ein gegebenes Zeichen stieg an den Schiffen rings im weiten Hafen der Flaggensalut empor. Ein ferner, fremder Klang zitterte durch die salzige Morgenluft: das jubelnde Geläut der Kirchenglocken bot den kühnen Fliegern den Gruß der Stadt Stockholm.


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