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Literatur


04.3


Märchen
Hans-Christian Anderson

Die Galoschen des Glücks




VI. Das Beste, was die Galoschen brachten

Am darauf folgenden Tage, in der frühen Morgenstunde, als der Schreiber noch im Bett lag, klopfte es an seine Tür, es war sein Nachbar in demselben Stockwerk, ein junger Theologe, der hereintrat.

»Leihe mir Deine Galoschen,« sagte er, »es ist so nass im Garten, aber die Sonne scheint herrlich, ich möchte eine Pfeife dort unten rauchen.«

Die Galoschen zog er an und war bald unten im Garten, welcher einen Pflaumen- und einen Apfelbaum enthielt. Selbst ein so kleiner Garten, wie dieser war, gilt in einer großen Stadt für eine Herrlichkeit.

Der Theologe wanderte im Gange auf und nieder; die Uhr war erst sechs; draußen von der Straße ertönte ein Posthorn.

»O, reisen! reisen!« rief er aus, »das ist doch das größte Glück in der Welt, das ist meiner Wünsche höchstes Ziel! Da würde diese Unruhe, die ich fühle, gestillt werden. Aber weit fort müsste es sein; ich möchte die herrliche Schweiz sehen, Italien bereisen und –«.

Ja, gut war es, dass die Galoschen sogleich wirkten, sonst wäre er gar zu weit herum gekommen, sowohl für sich selbst, wie für uns andere. Er reiste. Er war mitten in der Schweiz, aber mit acht andern in das Innere eines Wagens eingepackt; er hatte Kopfschmerzen, fühlte sich müde im Nacken und das Blut war ihm in die Füße hinabgesunken, die angeschwollen von den Stiefeln gedrückt wurden. Er befand sich in einem Zustande zwischen Schlafen und Wachen. In seiner Tasche zur Rechten hatte er den Wechsel, in seiner Tasche zur Linken den Pass, und in einem kleinen Lederbeutel auf der Brust einige festgenähte Goldstücke; jeder Traum verkündete, dass eines oder das andere dieser Kostbarkeiten verloren sei, und deshalb fuhr er wie im Fieber empor, und die erste Bewegung, welche die Hand machte, war ein Dreieck von der Rechten zur Linken und gegen die Brust hinauf, um zu fühlen, ob er seine Sachen habe oder nicht. Schirme, Stöcke und Hüte schaukelten im Netze über ihm und benahmen so ziemlich eine Aussicht, die wundervoll war; er schielte danach, während das Herz sang, was wenigstens schon ein Dichter, den wir kennen, in der Schweiz gesungen, was er aber bis jetzt noch nicht hat drucken lassen:

Hier ist's schön, so frei und still,
Montblanc seh' ich, den steilen,
Wenn nur das Geld ausreichen will,
Ach, dann ist hier gut weilen!

Groß, ernst und dunkel war die ganze Natur rings um ihn.

Die Tannenwälder erschienen wie Heidekraut auf den hohen Felsen, deren Gipfel im Wolkennebel verborgen waren; nun begann es zu schneien, der kalte Wind blies.

»Uh!« seufzte er, »wären wir doch auf der andern Seite der Alpen, dann wäre es Sommer und ich hätte Geld auf meinen Wechsel erhoben; die Angst, die ich für diesen fühle, macht, dass ich die Schweiz nicht genieße, o, wäre ich doch schon auf der andern Seite!«

Und da war er auf der andern Seite; mitten in Italien war er, zwischen Florenz und Rom. Der Trasimener See lag in der Abendbeleuchtung, wie flammendes Gold, zwischen den dunkelblauen Bergen. Hier, wo Hannibal den Flaminius schlug, hielten sich nun die Weinranken friedlich an den grünen Fingern; liebliche, halb nackte Kinder hüteten eine Herde kohlschwarzer Schweine unter einer Gruppe duftender Lorbeerbäume am Wege. Könnten wir dieses Gemälde richtig wiedergeben, so würden alle jubeln: »Herrliches Italien!« Aber das sagte keineswegs der Theologe oder ein einziger der Reisegefährten im Wagen.

Giftige Fliegen und Mücken flogen bei ihnen zu Dutzenden in den Wagen hinein, vergebens schlugen sie mit einem Myrtenzweige um sich, die Fliegen stachen dennoch; es war nicht ein Mensch im Wagen, dessen Gesicht nicht von den blutigen Bissen angeschwollen gewesen wäre. Die armen Pferde sahen wie tot aus, die Fliegen saßen in großen Scharen auf denselben, und nur augenblicklich half es, dass der Kutscher hinabstieg und die Tiere abschabte. Nun sank die Sonne unter, eine kurze, aber eisige Kälte ging durch die ganze Natur, es war gleich des Grabgewölbes kaltem Luftzug nach einem heißen Sommertage, aber ringsumher erhielten Berge und Wolken den sonderbaren grünen Ton, welchen wir auf einzelnen alten Gemälden finden, und, wenn wir ein solches Farbenspiel nicht im Süden erlebt haben, für unnatürlich halten. Es war ein herrliches Schauspiel, aber – der Magen war leer, der Körper ermüdet, alle Sehnsucht des Herzens drehte sich um ein Nachtlager, aber wie wird dies ausfallen? Man blickte weit inniger danach, als nach der schönen Natur.

Der Weg ging durch einen Olivenwald, es war, als führe er daheim zwischen knotigen Weiden, hier lag das einsame Wirtshaus. Ein Dutzend bettelnder Krüppel hatte sich vor demselben gelagert; der Rascheste derselben sah aus, um einen Ausdruck von Marryat zu gebrauchen, wie »der älteste Sohn des Hungers, der das Alter seiner Volljährigkeit erreicht hat«, die andern waren entweder blind, hatten vertrocknete Beine und krochen auf den Händen, oder zeigten abgezehrte Arme mit fingerlosen Händen. Das war das Elend recht aus den Lumpen gezogen.

»Erbarmen, meine Herren!« seufzten sie und streckten die kranken Glieder vor. Die Wirtin selbst mit bloßen Füßen, ungekämmten Haaren und nur mit einer schmutzigen Bluse bedeckt, empfing die Gäste. Die Türen waren mit Bindfaden zusammengebunden, der Fußboden in den Zimmern bot ein halb aufgewühltes Pflaster von Mauersteinen dar; Fledermäuse flogen unter der Decke hin, und der Gestank hier drinnen –.

»Decken Sie unten im Stall!« sagte einer der Reisenden, »dort unten weiß man doch, was man einatmet!«

Die Fenster wurden geöffnet, damit etwas frische Luft hereindringen könnte, aber schneller als diese kamen die verdorrten Arme und das ewige Jammern: »Erbarmen!« herein. Auf den Wänden standen viele Inschriften, die Hälfte war gegen das schöne Italien.

Das Essen wurde aufgetragen; es gab eine Suppe von Wasser, gewürzt mit Pfeffer und ranzigem Öl. Letzteres spielte die Hauptrolle beim Salat; verdorbene Eier und gebratene Hahnenkämme waren die Prachtgerichte, selbst der Wein hatte einen Beigeschmack, er war eine wahre Arznei.

Zur Nacht wurden die Koffer gegen die Tür aufgestellt; einer der Reisenden hatte die Wache, während die andern schliefen; der Theologe war der Wachthabende; o, wie schwül war es hier drinnen! die Hitze drückte, die Mücken summten und stachen, die Armen draußen jammerten im Traum.

»Ja, reisen ist schon gut,« sagte der Theologe, »hätte man nur keinen Körper; könnte dieser ruhen und der Geist dagegen fliegen. Wohin ich komme, fühle ich einen Mangel, der das Herz drückt; etwas Besseres als das Augenblickliche ist es, was ich haben will; ja, etwas Besseres, das Beste, aber wo und was ist es? Im Grunde weiß ich wohl, was ich will, ich will zu einem glücklichen Ziel, dem glücklichsten von allen!«

So wie das Wort ausgesprochen war, befand er sich in der Heimat; die langen, weißen Vorhänge hingen vor den Fenstern herab und mitten auf dem Fußboden stand der schwarze Sarg, in diesem lag er in seinem stillen Todesschlaf, sein Wunsch war erfüllt, der Körper ruhte, der Geist reiste. »Preise niemand glücklich, bevor er in seinem Grabe ist!« waren die Worte Solons, hier wurde ihre Wahrheit erneuert.

Jede Leiche ist die Sphinx der Unsterblichkeit; auch die Sphinx hier auf dem Sarge beantwortete uns, was der Lebende zwei Tage im Voraus niedergeschrieben hatte:

Du starker Tod, Dein Schweigen machet Graun;
Hast Du uns nur die Totengruft zu bieten,
Sollt nicht der Geist die Jakobsleiter schaun,
Und fortbestehn nur in den Grabesblüten?

Das größte Leiden sieht die Welt oft nicht!
Du, der Du einsam warst bis an Dein Ende,
Weit schwerer drückt das Herz so manche Pflicht,
Als hier die Erde an des Sarges Wände!

Zwei Gestalten bewegten sich im Zimmer, wir kennen sie beide, es war die Fee der Trauer und die Abgesandte des Glückes; sie beugten sich über den Toten hin.

»Siehst Du,« sagte die Trauer, »welches Glück brachten Deine Galoschen wohl der Menschheit?«

»Sie brachten wenigstens ihm, der hier schlummert, ein dauerndes Gut!« antwortete die Freude.

»O nein!« sagte die Trauer. »Selbst ging er fort, er wurde nicht gerufen; seine geistige Kraft war nicht stark genug, um die Schätze hier zu heben, die er seiner Bestimmung nach heben muss! Ich will ihm eine Wohltat erweisen!«

Sie zog die Galoschen von seinen Füßen; da war der Todesschlaf geendet, der Wiederbelebte erhob sich. Die Trauer verschwand, mit ihr aber auch die Galoschen; sie hat sie sicher als ihr Eigentum betrachtet.

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