VI.
Das Beste, was die Galoschen brachten
Am darauf folgenden Tage, in der
frühen
Morgenstunde,
als der Schreiber noch im Bett lag, klopfte es an seine Tür, es war
sein
Nachbar in demselben Stockwerk, ein junger Theologe, der hereintrat.
»Leihe mir Deine Galoschen,«
sagte er, »es ist so
nass
im Garten, aber die Sonne scheint herrlich, ich möchte eine Pfeife dort
unten
rauchen.«
Die Galoschen zog er an und war
bald unten im
Garten,
welcher einen Pflaumen- und einen Apfelbaum enthielt. Selbst ein so
kleiner
Garten, wie dieser war, gilt in einer großen Stadt für eine
Herrlichkeit.
Der Theologe wanderte im Gange
auf und nieder;
die Uhr
war erst sechs; draußen von der Straße ertönte ein Posthorn.
»O, reisen! reisen!« rief er aus,
»das ist doch
das
größte Glück in der Welt, das ist meiner Wünsche höchstes Ziel! Da
würde diese
Unruhe, die ich fühle, gestillt werden. Aber weit fort müsste es sein;
ich
möchte die herrliche Schweiz sehen, Italien bereisen und –«.
Ja, gut war es, dass die
Galoschen sogleich
wirkten,
sonst wäre er gar zu weit herum gekommen, sowohl für sich selbst, wie
für uns
andere. Er reiste. Er war mitten in der Schweiz, aber mit acht andern
in das
Innere eines Wagens eingepackt; er hatte Kopfschmerzen, fühlte sich
müde im
Nacken und das Blut war ihm in die Füße hinabgesunken, die
angeschwollen
von den Stiefeln gedrückt wurden. Er befand sich in einem Zustande
zwischen
Schlafen und Wachen. In seiner Tasche zur Rechten hatte er den Wechsel,
in
seiner Tasche zur Linken den Pass, und in einem kleinen Lederbeutel auf
der
Brust einige festgenähte Goldstücke; jeder Traum verkündete, dass eines
oder
das andere dieser Kostbarkeiten verloren sei, und deshalb fuhr er wie
im Fieber
empor, und die erste Bewegung, welche die Hand machte, war ein Dreieck
von der
Rechten zur Linken und gegen die Brust hinauf, um zu fühlen, ob er
seine Sachen
habe oder nicht. Schirme, Stöcke und Hüte schaukelten im Netze über ihm
und
benahmen so ziemlich eine Aussicht, die wundervoll war; er schielte
danach,
während das Herz sang, was wenigstens schon ein Dichter, den wir
kennen, in der
Schweiz gesungen, was er aber bis jetzt noch nicht hat drucken lassen:
Hier ist's schön, so frei und
still,
Montblanc seh' ich, den steilen,
Wenn nur das Geld ausreichen will,
Ach, dann ist hier gut weilen!
Groß, ernst und dunkel war die
ganze Natur rings
um
ihn.
Die Tannenwälder erschienen wie
Heidekraut auf
den
hohen Felsen, deren Gipfel im Wolkennebel verborgen waren; nun begann
es zu
schneien, der kalte Wind blies.
»Uh!« seufzte er, »wären wir doch
auf der andern
Seite
der Alpen, dann wäre es Sommer und ich hätte Geld auf meinen Wechsel
erhoben;
die Angst, die ich für diesen fühle, macht, dass ich die Schweiz nicht
genieße,
o, wäre ich doch schon auf der andern Seite!«
Und da war er auf der andern
Seite; mitten in
Italien
war er, zwischen Florenz und Rom. Der Trasimener See lag in der
Abendbeleuchtung, wie flammendes Gold, zwischen den dunkelblauen
Bergen. Hier,
wo Hannibal den Flaminius schlug, hielten sich nun die Weinranken
friedlich an
den grünen Fingern; liebliche, halb nackte Kinder hüteten eine
Herde
kohlschwarzer Schweine unter einer Gruppe duftender Lorbeerbäume am
Wege.
Könnten wir dieses Gemälde richtig wiedergeben, so würden alle jubeln:
»Herrliches Italien!« Aber das sagte keineswegs der Theologe oder ein
einziger
der Reisegefährten im Wagen.
Giftige Fliegen und Mücken flogen
bei ihnen zu
Dutzenden in den Wagen hinein, vergebens schlugen sie mit einem
Myrtenzweige um
sich, die Fliegen stachen dennoch; es war nicht ein Mensch im Wagen,
dessen
Gesicht nicht von den blutigen Bissen angeschwollen gewesen wäre. Die
armen
Pferde sahen wie tot aus, die Fliegen saßen in großen Scharen auf
denselben,
und nur augenblicklich half es, dass der Kutscher hinabstieg und die
Tiere
abschabte. Nun sank die Sonne unter, eine kurze, aber eisige Kälte ging
durch
die ganze Natur, es war gleich des Grabgewölbes kaltem Luftzug nach
einem
heißen Sommertage, aber ringsumher erhielten Berge und Wolken den
sonderbaren
grünen Ton, welchen wir auf einzelnen alten Gemälden finden, und, wenn
wir ein
solches Farbenspiel nicht im Süden erlebt haben, für unnatürlich
halten. Es war
ein herrliches Schauspiel, aber – der Magen war leer, der Körper
ermüdet, alle
Sehnsucht des Herzens drehte sich um ein Nachtlager, aber wie wird dies
ausfallen? Man blickte weit inniger danach, als nach der schönen Natur.
Der Weg ging durch einen
Olivenwald, es war, als
führe
er daheim zwischen knotigen Weiden, hier lag das einsame Wirtshaus. Ein
Dutzend
bettelnder Krüppel hatte sich vor demselben gelagert; der Rascheste
derselben
sah aus, um einen Ausdruck von Marryat zu gebrauchen, wie »der älteste
Sohn des
Hungers, der das Alter seiner Volljährigkeit erreicht hat«, die andern
waren
entweder blind, hatten vertrocknete Beine und krochen auf den Händen,
oder
zeigten abgezehrte Arme mit fingerlosen Händen. Das war das Elend recht
aus den
Lumpen gezogen.
»Erbarmen, meine Herren!«
seufzten sie und
streckten die
kranken Glieder vor. Die Wirtin selbst mit bloßen Füßen, ungekämmten
Haaren und
nur mit einer schmutzigen Bluse bedeckt, empfing die Gäste. Die Türen
waren mit
Bindfaden zusammengebunden, der Fußboden in den Zimmern bot ein halb
aufgewühltes Pflaster von Mauersteinen dar; Fledermäuse flogen unter
der Decke
hin, und der Gestank hier drinnen –.
»Decken Sie unten im Stall!«
sagte einer der
Reisenden, »dort unten weiß man doch, was man einatmet!«
Die Fenster wurden geöffnet,
damit etwas frische
Luft
hereindringen könnte, aber schneller als diese kamen die verdorrten
Arme und
das ewige Jammern: »Erbarmen!« herein. Auf den Wänden standen viele
Inschriften, die Hälfte war gegen das schöne Italien.
Das Essen wurde aufgetragen; es
gab eine Suppe
von
Wasser, gewürzt mit Pfeffer und ranzigem Öl. Letzteres spielte die
Hauptrolle
beim Salat; verdorbene Eier und gebratene Hahnenkämme waren die
Prachtgerichte,
selbst der Wein hatte einen Beigeschmack, er war eine wahre Arznei.
Zur Nacht wurden die Koffer gegen
die Tür
aufgestellt;
einer der Reisenden hatte die Wache, während die andern schliefen; der
Theologe
war der Wachthabende; o, wie schwül war es hier drinnen! die Hitze
drückte, die
Mücken summten und stachen, die Armen draußen jammerten im Traum.
»Ja, reisen ist schon gut,« sagte
der Theologe,
»hätte
man nur keinen Körper; könnte dieser ruhen und der Geist dagegen
fliegen. Wohin
ich komme, fühle ich einen Mangel, der das Herz drückt; etwas Besseres
als das
Augenblickliche ist es, was ich haben will; ja, etwas Besseres, das
Beste, aber
wo und was ist es? Im Grunde weiß ich wohl, was ich will, ich will zu
einem
glücklichen Ziel, dem glücklichsten von allen!«
So wie das Wort ausgesprochen
war, befand er sich
in
der Heimat; die langen, weißen Vorhänge hingen vor den Fenstern herab
und
mitten auf dem Fußboden stand der schwarze Sarg, in diesem lag er
in
seinem stillen Todesschlaf, sein Wunsch war erfüllt, der Körper ruhte,
der
Geist reiste. »Preise niemand glücklich, bevor er in seinem Grabe ist!«
waren
die Worte Solons, hier wurde ihre Wahrheit erneuert.
Jede Leiche ist die Sphinx der
Unsterblichkeit;
auch
die Sphinx hier auf dem Sarge beantwortete uns, was der Lebende zwei
Tage im
Voraus niedergeschrieben hatte:
Du starker Tod, Dein Schweigen
machet Graun;
Hast Du uns nur die Totengruft zu bieten,
Sollt nicht der Geist die Jakobsleiter schaun,
Und fortbestehn nur in den Grabesblüten?
Das größte Leiden sieht die Welt
oft nicht!
Du, der Du einsam warst bis an Dein Ende,
Weit schwerer drückt das Herz so manche Pflicht,
Als hier die Erde an des Sarges Wände!
Zwei Gestalten bewegten sich im
Zimmer, wir
kennen sie
beide, es war die Fee der Trauer und die Abgesandte des Glückes; sie
beugten
sich über den Toten hin.
»Siehst Du,« sagte die Trauer,
»welches Glück
brachten
Deine Galoschen wohl der Menschheit?«
»Sie brachten wenigstens ihm, der
hier
schlummert, ein
dauerndes Gut!« antwortete die Freude.
»O nein!« sagte die Trauer.
»Selbst ging er fort,
er
wurde nicht gerufen; seine geistige Kraft war nicht stark genug, um die
Schätze
hier zu heben, die er seiner Bestimmung nach heben muss! Ich will ihm
eine
Wohltat erweisen!«
Sie
zog die Galoschen von seinen Füßen; da war
der
Todesschlaf geendet, der Wiederbelebte erhob sich. Die Trauer
verschwand, mit
ihr aber auch die Galoschen; sie hat sie sicher als ihr Eigentum
betrachtet.