Weihnachts-Abend
Fezziwig's Weihnachtsball
Viertes Kapitel XII -
Der Letzte der Geister
Er
fuhr entsetzt zurück, denn die Szene hatte sich geändert und er stand
dicht vor
einem Bett, einem einsamen, unverhangnen Bett, wo unter einer groben
Decke
etwas Verhülltes lag, was, obgleich es stumm war, sich doch in Grausen
erregender Sprache nannte.
Das
Zimmer war sehr finster, zu finster, um etwas genau erkennen zu können,
obgleich Scrooge, einem geheimen Gefühle gehorchend, sich umschaute,
voll
Begier, zu wissen, was für ein Zimmer es sei. Ein bleiches Licht,
welches von
draußen kam, fiel gerade auf das Bett; und auf diesem, geplündert und
beraubt,
unbewacht und unbeweint, lag die Leiche dieses Mannes.
Scrooge
blickte die Erscheinung an. Ihre reglose Hand wies auf das Haupt des
Leichnams.
Die Decke war so sorglos zurecht gelegt, dass das geringste
Verschieben, die
leiseste Berührung von Scrooge’s Finger das Antlitz enthüllt hätte.
Er dachte
daran, fühlte, wie leicht es geschehen könnte, und sehnte sich, es zu
tun; aber
er hatte nicht mehr Macht, die Hülle wegzuziehen, als den Geist an
seiner Seite
zu entlassen.
O,
kalter, starrer, schrecklicher Tod, hier richte Deinen Altar auf und
umgib ihn
mit den Schrecken, die Dir zu Gebote stehen; denn dies ist Dein Reich!
Aber dem
geliebten und verehrten Haupt kannst Du kein Haar krümmen, von ihm
kannst Du
keinen Zug widerlich machen. Nicht, weil die Hand schwer ist und
herabsinkt,
wenn man sie fallen lässt, nicht, weil das Herz und der Puls schweigen;
sondern
weil die Hand offen war und barmherzig, weil das Herz offen war und
warm und
gut und der Puls ein menschlicher. Töte, Schatten, töte! Und sieh, wie
seine
guten Taten aus der Todeswunde hervorströmen, um in der Welt
unsterbliches
Leben zu sehen.
Keine
Stimme flüsterte diese Worte in Scrooge’s Ohren, und doch hörte er sie,
wie er
auf das Bett blickte. Er dachte, wenn dieser Mann jetzt wieder erweckt
werden
könnte, was würde wohl sein erster Gedanke sein? Geiz, Hartherzigkeit,
habgierige Sorge. Ein schönes Ziel haben sie ihm bereitet!
Er
lag in dem dunklen leeren Hause und kein Mann, oder Weib, oder Kind war
da, um
zu sagen, er war gütig gegen mich in Dem und in Jenem, und dieses einen
gütigen
Wortes gedenkend, will ich seiner warten. Eine Katze kratzte an der Tür
und die
Ratten nagten und raschelten unter dem Kamin. Was sie in dem
Gemach des Todes wollten
und warum sie so unruhig waren, wagte Scrooge nicht auszudenken.
„Geist“,
sagte er, „dies ist ein schrecklicher Ort. Wenn ich ihn verlasse, werde
ich
nicht seine Lehre vergessen, glaube mir. Lass uns gehen.“
Immer
noch wies der Geist mit reglosem Finger auf das Haupt der Leiche.
„Ich
verstehe Dich“, antwortete Scrooge, „und ich täte es, wenn ich könnte.
Aber ich
habe die Kraft nicht dazu, Geist. Ich habe die Kraft nicht dazu.“
Wieder
schien der Geist ihn anzublicken.
„Wenn
irgend Jemand in der Stadt ist, der bei dieses Mannes Tod etwas fühlt“,
sagte
Scrooge erschüttert, „so zeige mir ihn, Geist, ich flehe Dich darum an.“
Die
Erscheinung breitete ihren dunklen Mantel einen Augenblick vor ihm aus
wie
einen Fittich; und wie sie ihn wieder wegzog, sah er ein taghelles
Zimmer, in
dem sich eine Mutter mit ihren Kindern befand.
Sie
hoffte auf Jemandes Kommen in angstvoller Erwartung; denn sie ging im
Zimmer
auf und ab; erschrak bei jedem Geräusch; sah zum Fenster hinaus;
blickte nach
der Uhr; versuchte vergebens zu arbeiten; und konnte kaum die Stimmen
der
spielenden Kinder ertragen.
Endlich
hörte sie das lang ersehnte Klopfen an der Haustür und traf, als sie
hinaussehen wollte, ihren Gatten. Sein Gesicht war bekümmert und
niedergeschlagen, obgleich er noch jung war. Es zeigte sich jetzt ein
merkwürdiger Ausdruck in demselben, eine Art ernster Freude, deren er
sich
schämte und die er sich zu unterdrücken bemühte.
Er
setzte sich zum Essen nieder, das man ihn am Feuer aufgehoben hatte;
und als
sie ihn erst nach langem Schweigen frug, was er für Nachrichten bringe,
schien
er um die Antwort verlegen zu sein.
„Sind
sie gut“, sagte sie, „oder schlecht?“
„Schlecht“,
antwortete er.
„Wir
sind ganz zu Grunde gerichtet?“
„Nein,
noch ist Hoffnung vorhanden, Karoline.“
„Wenn
er sich erweichen lässt“, rief sie erstaunt, „dann ist noch welche da!
Überall
ist noch Hoffnung, wenn ein solches Wunder geschehen ist.“
„Für
ihn ist es zu spät, sich zu erbarmen“, sagte der Gatte. „Er ist tot!“
Wenn
ihr Gesicht Wahrheit sprach, so war sie ein mildes und geduldiges
Wesen; aber
sie war dankbar dafür in ihrem Herzen und sagte es mit gefalteten
Händen. Sie
bat im nächsten Augenblick Gott, dass er ihr verzeihen möge und bereute
es;
aber das Erste war die Stimme ihres Herzens gewesen.
„Was
mir die halb betrunkene Frau gestern Abend sagte, als ich ihn sprechen
und um
eine Woche Aufschub bitten wollte; und was ich nur für eine bloße
Entschuldigung hielt, um mich abzuweisen, zeigt sich jetzt als
die reine
Wahrheit. Er war nicht nur sehr krank, er lag schon im Sterben.“
„Auf
wen wird unsere Schuld übergehen?“
„Ich
weiß es nicht. Aber vor dieser Zeit noch werden wir das Geld haben; und
selbst,
wenn dies nicht wäre, wäre es ein großes Missgeschick, in seinem Erben
einen so
unbarmherzigen Gläubiger zu finden. Wir können heute Nacht mit
leichterem
Herzen schlafen, Karoline.“
Ja,
sie mochten es verhehlen, wie sie wollten, ihre Herzen waren leichter.
Die
Gesichter der Kinder, welche sich still um sie drängten, um zu hören,
was sie
so wenig verstanden, erhellten sich und Alle wurden glücklicher durch
dieses
Mannes Tod. Das einzige von diesem Ereignis erregte Gefühl, welches ihm
der
Geist zeigen konnte, war eins der Freude.
„Lass
mich ein zärtliches, mit dem Tode verbundenes Gefühl sehen“, sagte
Scrooge,
„oder dies dunkle Zimmer, welches wir eben verlassen haben, wird mir
immer vor
Augen bleiben.“
Der
Geist führte ihn durch mehrere Straßen, durch die er oft gegangen war;
und wie
sie vorüber schwebten, hoffte Scrooge sich hier und da zu erblicken,
aber
nirgends war er zu sehen. Sie traten in Bob Cratchit’s Haus, dieselbe
Wohnung,
die sie schon früher besucht hatten, und fanden die Mutter und die
Kinder um
das Feuer sitzen.
Alles
war ruhig, Alles war still, sehr still. Die lärmenden kleinen
Cratchit’s saßen
stumm, wie steinerne Bilder, in einer Ecke und sahen auf Peter, der ein
Buch
vor sich hatte. Die Mutter und die Töchter nähten. Aber gewiss waren
sie auch
still, sehr still.
„Und
er nahm ein Kind und stellte es in ihre Mitte.“
Wo
hatte Scrooge diese Worte gehört? Der Knabe musste sie gelesen haben,
als er
und der Geist über die Schwelle traten. Warum fuhr er nicht fort?
Die
Mutter legte ihre Arbeit auf den Tisch und fuhr mit der Hand nach dem
Auge.
„Die
Farbe blendet mich“, sagte sie.
Die
Farbe? ach, der arme Tiny Tim!
„Sie
sind jetzt wieder besser“, sagte Cratchit’s Frau. „Die Farbe blendet
sie bei
Licht, und ich möchte den Vater, wenn er heim kommt, nicht sehen
lassen, dass
ich schwache Augen habe. Es muss bald seine Zeit sein.“
„Fast
schon vorüber“, erwiderte Peter, das Buch schließend. „Aber ich glaube,
er geht
jetzt ein wenig langsamer als gewöhnlich, Mutter.“
Sie
waren wieder sehr still. Endlich sagte sie mit einer ruhigen, heitern
Stimme,
die nur ein einziges Mal zitterte:
„Ich
weiß, dass er mit – ich weiß, dass er mit Tiny Tim auf der Schulter
sehr
schnell ging.“
„Und
ich auch“, rief Peter. „Oft.“
„Und
ich auch“, riefen die Andern.
„Aber
er war sehr leicht zu tragen“, fing sie wieder an, fest auf ihre Arbeit
sehend,
„und der Vater liebte ihn so, dass es keine Beschwerde war –
keine Beschwerde. Und da kommt der Vater.“
Sie
eilte ihm entgegen und Bob mit dem Schal – er hatte ihn nötig, der arme
Kerl –
trat herein. Sein Tee stand bereit und sie drängten sich Alle herbei,
wer ihm
am meisten helfen könne. Dann kletterten die beiden kleinen Cratchit’s
auf
seine Knie und jedes Kind legte eine kleine Wange an die seine, als
wollten sie
sagen: kümmere Dich nicht so sehr, Vater.
Bob
war sehr heiter und sprach sehr munter mit der ganzen Familie. Er besah
die
Arbeit auf dem Tische und lobte den Fleiß und den Eifer seiner Frau und
Töchter.
„Sie würden lange vor Sonntag fertig sein“, sagte er.
„Sonntag!
Du warst also heute dort, Robert!“ sagte seine Frau.
„Ja,
meine Liebe“, antwortete Bob. „Ich wollte, Du hättest hingehen können.
Es würde
Dein Herz erfreut haben, zu sehen, wie grün die Stelle ist. Aber Du
wirst sie
oft sehen. Ich versprach ihm, sonntags hinzugehen. Mein liebes, liebes
Kind!“
weinte Bob. „Mein liebes Kind!“
Er
brach auf einmal zusammen. Er konnte nicht dafür. Wenn er dafür gekonnt
hätte,
so wäre er und sein Kind wohl weiter von einander getrennt gewesen.
Er
verließ das Zimmer und ging die Treppe hinauf in ein Zimmer, welches
hell
erleuchtet und weihnachtsmäßig aufgeputzt war. Ein Stuhl stand dicht
neben dem
Kinde und man sah, dass vor Kurzem Jemand da gewesen war. Der arme
Bob
setzte sich nieder, und als er ein wenig nachgedacht und sich gefasst
hatte,
küsste er das kleine, kalte Gesicht. Er war versöhnt mit dem
Geschehenen und
ging wieder hinunter ganz glücklich.
Sie
setzten sich um das Feuer und unterhielten sich; die Mädchen und die
Mutter
arbeiteten fort. Bob erzählte ihnen von der außerordentlichen
Freundlichkeit
von Scrooge’s Neffen, den er kaum ein einziges Mal gesehen habe. Er
habe ihn
heute auf der Straße getroffen, und wie er gesehen, dass er ein wenig
niedergeschlagen aussähe, habe er ihn befragt, was ihn bekümmere.
„Worauf“,
sagte Bob, „denn er ist der leutseligste junge Herr, den ich nur kenne,
ich es
ihm sagte. ‚Ich bedaure Sie herzlich, Mr. Cratchit‘, sagte er, ‚und
auch Ihre
gute Frau. Übrigens, wie er das wissen kann, möchte ich wissen.“
„Was
soll er wissen, mein Lieber?“
„Nun,
dass Du eine gute Frau bist“, antwortete Bob.
„Jedermann
weiß das“, sagte Peter.
„Sehr
gut bemerkt, mein Junge“, rief Bob. „Ich hoffe, ’s ist so. ‚Herzlich
bedaure
ich‘, sagte er, ‚Ihre gute Frau. Wenn ich Ihnen auf irgend eine Weise
behülflich sein kann‘, sagte er, indem er mir seine Karte gab, das ist
meine
Wohnung. Kommen Sie nur zu mir.‘ Nun“, rief Bob, „ist es nicht gerade
um
deswillen, dass er etwas für uns tun könnte, sondern mehr wegen seiner
herzlichen Weise, dass ich mich darüber so freute. Es schien
wirklich, als hätte er unsern Tiny Tim gekannt und fühlte mit uns.“
„Er
ist gewiss eine gute Seele“, sagte Mrs. Cratchit.
„Du
würdest das noch sicherer glauben, Liebe“, antwortete Bob, „wenn Du ihn
sähest
und mit ihm sprächest. Es sollte mich gar nicht wundern, wenn er Petern
eine
bessere Stelle verschaffte. Merkt Euch meine Worte.“
„Nun
höre nur, Peter“, sagte Mrs. Cratchit.
„Und
dann“, rief eins der Mädchen, „wird sich Peter nach einer Frau umsehen.“
„Ach,
sei still“, antwortete Peter lachend.
„Nun,
das kann schon kommen“, sagte Bob, „aber dazu hat er noch Zeit im
Überfluss.
Aber wie und wenn wir uns auch von einander trennen sollten, so bin ich
doch
überzeugt, dass Keiner von uns den armen Tiny Tim, oder diese erste
Trennung,
welche wir erfuhren, vergessen wird.“
„Niemals,
Vater“, riefen Alle.
„Und
ich weiß“, sagte Bob, „ich weiß, meine Lieben, wenn wir daran denken
werden,
wie geduldig und wie sanft er war, obgleich er nur ein kleines, kleines
Kind
war, werden wir nicht so leicht uns zanken und den guten Tiny Tim
vergessen,
wenn wir’s tun.“
„Nein,
niemals, Vater“, riefen sie Alle.
„Ich
bin sehr glücklich“, sagte Bob, „sehr glücklich.“
Mrs.
Cratchit küsste ihn, seine Töchter küssten ihn, die beiden kleinen
Cratchit’s
küssten ihn und Peter und er drückten sich die Hand. Seele Tiny Tim’s,
du warst
ein Hauch von Gott.
„Geist“,
sagte Scrooge, „ein Etwas sagt mir, dass wir bald scheiden werden. Ich
weiß es,
aber ich weiß nicht wie. Sage mir, wer es war, den wir auf dem
Totenbett
sahen.“
Der
Geist der zukünftigen Weihnachten führte ihn wie früher – obgleich zu
verschiedener Zeit, dünkte ihm, überhaupt schien in den verschiedenen
letzten
Gesichten keine Zeitfolge stattzufinden – an die Zusammenkunftsorte der
Geschäftsleute, aber er sah sich nicht. Der Geist verweilte nirgends,
sondern
schwebte immer weiter, wie nach dem Ort zu, wo Scrooge die gewünschte
Lösung
des Rätsels finden würde, bis ihn dieser bat, einen Augenblick zu
verweilen.
„Ja,
dieser Hof“, sagte Scrooge, „durch den wir jetzt eilen, war einst mein
Geschäft
und war es lange Jahre. Ich sehe das Haus. Lass mich sehen, was ich in
den
kommenden Tagen sein werde.“
Der
Geist stand still; die Hand wies wo anders hin.
„Das
Haus ist dort“, rief Scrooge. „warum weisest Du wo anders hin?“
Der
unerbittliche Finger nahm keine andere Richtung an.