Weihnachts-Abend
Fezziwig's
Weihnachtsball
Erstes
Kapitel III - Marley’s Geist
Nein,
er glaubte es selbst jetzt noch nicht. Obgleich er das Gespenst durch
und durch
und vor sich stehen sah; obgleich er den kältenden Schauer seiner
totenstarren
Augen fühlte und selbst den Stoff des Tuches erkannte, welches um
seinen Kopf
und sein Kinn gebunden war und das er früher nicht bemerkt hatte, war
er doch
noch ungläubig und sträubte sich gegen das Zeugnis seiner Sinne.
„Nun“,
sagte Scrooge, kaustisch und kalt wie
gewöhnlich, „was wollt Ihr?“
„Viel!“
Das war Marley’s Stimme.
„Wer
seid Ihr?“
„Fragt
mich, wer ich war.“
„Nun,
wer waret Ihr?“ sagte Scrooge lauter.
„Als
ich lebte, war ich Euer Compagnon, Jacob Marley.“
„Könnt
Ihr Euch setzen?“ fragte Scrooge, ihn zweifelnd ansehend.
„Ich
kann es.“
Marley's Geist
„So
tut’s.“
Scrooge
tat die Fragen, weil er nicht wusste, ob ein so durchsichtiger Geist
sich werde
setzen können, und fühlte die Notwendigkeit einer unangenehmen
Erklärung, wenn
es ihm nicht möglich wäre. Aber der Geist setzte sich auf der andern
Seite des
Kamins nieder, als wenn er es gewohnt wäre.
„Ihr
glaubt nicht an mich?“ sagte der Geist.
„Nein“,
sagte Scrooge.
„Welches
Zeugnis wollt Ihr, außer dem Eurer Sinne, von meiner Wirklichkeit
haben?“
„Ich
weiß nicht“, sagte Scrooge.
„Warum
glaubt Ihr Euren Sinnen nicht?“
„Weil
sie eine Kleinigkeit stört“, sagte Scrooge. „Eine kleine Unpässlichkeit
des
Magens macht sie zu Lügnern. Ihr könnt ein unverdautes Stück
Rindfleisch, ein
Käserindchen, ein Stückchen schlechter Kartoffel sein. Wer Ihr auch
sein mögt,
Ihr habt mehr vom Unterleib, als von der Unterwelt an Euch.“
Es
war nicht eben Scrooge’s Gewohnheit, Witze zu machen, auch fühlte er
eben jetzt
keine besondere Lust dazu. Die Wahrheit ist, dass er sich bestrebte
lustig zu
sein, um sich zu zerstreuen und sein Entsetzen niederzuhalten; denn die
Stimme
des Geistes machte selbst das Mark seiner Knochen erzittern.
Nur
einen Augenblick schweigend diesen starren, toten Augen gegenüber zu
sitzen,
wäre halber Tod gewesen, das fühlte Scrooge wohl. Auch war es so
grauenerregend, dass das Gespenst seine eigene höllische Atmosphäre
hatte.
Scrooge fühlte sie nicht selbst, aber doch musste es so sein; denn
obgleich das
Gespenst ganz regungslos dasaß, bewegten sich seine Haare, seine
Rockschöße und
seine Stiefelquasten wie von dem heißen Dunst eines Ofens.
„Ihr
seht diesen Zahnstocher“, sagte Scrooge, aus dem eben angeführten
Grunde seinen
Angriff sogleich wieder beginnend und von dem Wunsche beseelt, wenn
auch nur
für einen Augenblick den starren, eisigen Blick des Gespenstes von sich
abzuwenden.
„Ja“,
antwortete der Geist.
„Ihr
seht ihn ja nicht an“, sagte Scrooge.
„Aber
ich sehe ihn doch“, sagte das Gespenst.
„Gut“,
erwiderte Scrooge. „Ich brauche ihn nur hinunterzuschlucken und mein
ganzes
übriges Leben hindurch verfolgen mich eine Legion Kobolde, die ich
selbst
erschaffen habe. Dummes Zeug, sag’ ich, dummes Zeug!“
Bei
diesen Worten stieß das Gespenst einen schrecklichen Schrei aus
und ließ seine
Kette so grauenerregend und fürchterlich klirren, dass Scrooge sich
fest an
seinen Stuhl halten musste, um nicht in Ohnmacht herunterzufallen. Aber
wie
wuchs sein Entsetzen, als das Gespenst das Tuch von dem Kopf nahm, als
wäre es
ihm zu warm im Zimmer, und die Unterkinnlade auf die Brust herabsank.
Scrooge
fiel auf die Kniee nieder und schlug die Hände vors Gesicht.
„Gnade!“
rief er. „Schreckliche Erscheinung, warum verfolgst Du mich?“
„Mensch
mit der irdisch gesinnten Seele“, entgegnete der Geist, „glaubst Du an
mich,
oder nicht?“
„Ich
glaube“, sagte Scrooge, „ich muss glauben. Aber warum wandeln Geister
auf Erden
und warum kommen sie zu mir?“
„Von
jedem Menschen wird es verlangt“, antwortete der Geist, „dass seine
Seele unter
seinen Mitmenschen wandle, in der Ferne und in der Nähe; und wenn
dieser Geist
nicht während des Lebens hinausgeht, so ist er verdammt, es nach dem
Tode zu tun.
Er ist verdammt, durch die Welt zu wandern – ach, wehe mir – und zu
sehen, was
er nicht teilen kann, was er aber auf Erden hätte teilen und zu seinem
Glück
anwenden können.“
Und
wieder stieß das Gespenst einen Schrei aus und schüttelte seine Ketten
und rang
die schattenhaften Hände.
„Du
bist gefesselt“, sagte Scrooge zitternd. „Sage mir, warum?“
„Ich trage die Kette, die ich während meines
Lebens geschmiedet habe“, sagte der Geist. „Ich schmiedete sie Glied
nach Glied
und Elle nach Elle; mit meinem eigenen freien Willen lud ich sie mir
auf und
mit meinem eigenen freien Willen trug ich sie. Ihre Glieder kommen Dir
seltsam
vor.“
Scrooge
zitterte mehr und mehr.
„Oder
willst Du wissen“, fuhr der Geist fort, „wie schwer und wie lang die
Kette ist,
die Du selbst trägst? Sie war gerade so lang und so schwer, wie diese
hier, vor
sieben Weihnachten. Seitdem hast Du daran gearbeitet. Es ist eine
schwere
Kette.“
Scrooge
sah auf den Boden herab, in der Erwartung, von fünfzig oder sechzig
Klaftern
Eisenketten sich umschlungen zu sehen; aber er sah nichts.
„Jacob“,
sagte er flehend. „Jacob Marley, sage mir mehr. Sprich mir Trost ein,
Jacob.“
„Ich
habe keinen Trost zu geben“, antwortete der Geist. „Er kommt von andern
Regionen, Ebenezer Scrooge, und wird von andern Boten zu andern
Menschen
gebracht. Auch kann ich Dir nicht sagen, was ich Dir sagen möchte. Ein
klein
wenig mehr ist Alles, was mir erlaubt ist. Nirgendwo kann ich rasten
oder ruhen.
Mein Geist ging nie über unser Comtoir hinaus – merke wohl auf – im
Leben blieb
mein Geist immer in den engen Grenzen unsrer schachernden Höhle; und
weite
Reisen liegen noch vor mir.“
Scrooge
hatte die Gewohnheit, wenn er nachdenklich wurde, die Hand in die
Hosentasche
zu stecken. Über das, was der Geist sagte, nachsinnend, tat er es
auch jetzt, aber ohne
die Augen zu erheben, oder vom Stuhl aufzustehen.
„Du
musst Dir aber viel Zeit genommen haben, Jacob“, bemerkte er mit dem
Tone eines
Geschäftsmannes, obgleich mit vieler Demut und Ehrerbietung.
„Viel
Zeit!“ sagte der Geist.
„Sieben
Jahre tot“, sagte sinnend Scrooge. „Und die ganze Zeit über gereist.“
„Die
ganze Zeit“, sagte der Geist. „Ohne Frieden, ohne Ruhe und mit den
Qualen
ewiger Reue.“
„Du
reisest schnell“, sagte Scrooge.
„Auf
den Schwingen des Windes“, sagte der Geist.
„Du
hättest eine große Strecke in sieben Jahren bereisen können“, sagte
Scrooge.
Als
der Geist dies hörte, stieß er wieder einen Schrei aus und klirrte so
grässlich
mit seiner Kette durch das Grabesschweigen der Nacht, dass ihn die
Polizei mit
vollem Rechte wegen Ruhestörung hätte bestrafen können.
„O,
gefangen und gefesselt“, rief das Gespenst, „nicht zu wissen, dass
Zeitalter
von unaufhörlicher Arbeit sterblicher Geschöpfe vergehen, ehe das Gute,
dessen
die Erde fähig ist, sich entwickeln kann; nicht zu wissen, dass ein
christlicher Geist, und wenn er auch in einem noch so kleinen Kreise
von Liebe
wirkt, in diesem Erdenleben sich selbst belohnende Arbeit genug
finden kann! Aber ich
wusste es nicht, ach, ich wusste es nicht!“
„Aber
Du warst immer ein guter Geschäftsmann, Jacob“, stotterte Scrooge
zitternd, der
jetzt anfing, das Schicksal des Geistes auf sich selbst anzuwenden.
„Geschäft!“ rief das Gespenst, seine Hände
abermals ringend. „Der Mensch war mein Geschäft. Das allgemeine
Wohlsein war
mein Geschäft; Barmherzigkeit, Versöhnlichkeit und Liebe, alles das war
mein
Geschäft. Alles, was ich in meinem Gewerbe tat, war nur ein kleiner
Tropfen
Wasser in dem weiten Ozean meines Geschäftes.“
Er
hielt seine Kette vor sich hin, als ob dies die Ursache seines
nutzlosen
Schmerzes gewesen wäre, und warf sie wieder dröhnend nieder.
„Zu
dieser Zeit des schwindenden Jahres“, sagte das Gespenst, „leide ich am
meisten. Warum ging ich mit zur Erde blickenden Augen durch das
Gedränge meiner
Mitmenschen und wendete meinen Blick nie zu dem gesegneten Stern empor,
der die
Weisen zur Wohnung der Armut führte? Gab es keine arme Hütte, wohin
mich sein
Licht hätte leiten können?“
Scrooge
hörte mit Entsetzen das Gespenst so reden und fing an gar sehr zu
zittern.
„Höre
mich“, rief der Geist. „Meine Zeit ist fast vorüber.“
„Ich
will hören“, sagte Scrooge. „Aber mache es gnädig mit mir! Werde nicht
hitzig,
Jacob, ich bitte Dich.“
„Wie
es kommt, dass ich vor Dich in einer Dir sichtbaren Gestalt treten
kann, weiß ich nicht. Viele, viele Tage habe ich
unsichtbar neben Dir gesessen.“
Das
war kein angenehmer Gedanke. Scrooge schauderte und wischte sich den
Schweiß
von der Stirn.
„Es
ist kein leichter Teil meiner Buße“, fuhr der Geist fort. „Heute Nacht
komme ich
zu Dir, um Dich zu warnen, dass noch für Dich eine Möglichkeit
vorhanden ist,
meinem Schicksal zu entgehen. Eine Möglichkeit und eine Hoffnung, die
Du mir zu
verdanken hast.“
„Du
bist immer mein guter Freund gewesen“, sagte Scrooge. „Ich danke Dir.“
„Drei
Geister“, fuhr das Gespenst fort, „werden zu Dir kommen.“ Bei diesen
Worten
wurde Scrooge’s Angesicht noch trauriger als das des Gespenstes.
„Ist
das die Möglichkeit und die Hoffnung, die Du genannt hast, Jacob?“
fragte er
mit bebender Stimme.
„Ja.“
„Ich
– ich sollte meinen, das wäre eben keine Hoffnung“, sagte Scrooge.
„Ohne
ihr Kommen“, sagte der Geist, „kannst Du nicht hoffen, den Pfad zu
vermeiden,
den ich verfolgen muss. Erwarte den Ersten Morgen früh, wenn die Glocke
Eins
schlägt.“
„Könnte
ich sie nicht alle auf einen Schluck nehmen?“ meinte Scrooge.
„Erwarte
den Zweiten in der nächsten Nacht um dieselbe Stunde. Den Dritten in
der
nächsten Nacht, wenn der letzte Schlag Zwölf ausgeklungen hat. Schau
mich an, denn Du siehst mich nicht
mehr; und schau mich an, dass Du Dich um Deinetwillen an das erinnerst,
was
zwischen uns geschehen ist.“
Als
es diese Worte gesprochen hatte, nahm das Gespenst das Tuch von dem
Tische und
band es sich wieder um den Kopf. Scrooge erfuhr das durch das Knirschen
der
Zähne, als die Kinnladen zusammen klappten. Er wagte es, die Augen zu
erheben
und erblickte seinen übernatürlichen Besuch vor sich stehen, die Augen
noch
starr auf ihn geheftet, und die Kette um den Leib und den Arm gewunden.
Die
Erscheinung entfernte sich rückwärtsgehend; und bei jedem Schritt
öffnete sich
das Fenster ein wenig, sodass, als das Gespenst es erreichte, es weit
offen
stand. Es winkte Scrooge näher zu kommen, was er tat. Als sie noch zwei
Schritte voneinander entfernt waren, hob Marley’s Geist die Hand in die
Höhe,
ihm gebietend, nicht näher zu kommen. Scrooge stand still.
Weniger
aus Gehorsam, als aus Überraschung und Furcht: denn wie sich die
gespenstige
Hand erhob, hörte er verwirrte Klänge durch die Luft schwirren und
unzusammenhängende Töne des Klagens und des Leides, unsagbar,
schmerzensvoll
und reuig. Das Gespenst horchte ihnen eine Weile zu und stimmte dann in
das
Klagelied ein; dann schwebte es in die dunkle Nacht hinaus.
Scrooge
trat an das Fenster, von der Neugier bis zur Verzweiflung getrieben. Er
sah
hinaus.
Die
Luft war mit Schatten angefüllt, welche in] ruheloser
Hast und klagend hin und her schwebten. Jeder trug eine Kette, wie
Marley’s
Geist; einige wenige waren zusammengeschmiedet (wahrscheinlich
schuldige Ministerien),
keines war ganz fessellos. Viele waren Scrooge während ihres Lebens
bekannt
gewesen. Ganz genau hatte er einen alten Geist in einer weißen Weste
gekannt,
Die klagenden Geister
welcher
einen ungeheuren eisernen Geldkasten hinter sich herschleppte und
jämmerlich schrie, einem armen, alten Weibe mit einem Kinde nicht
beistehen zu
können, welches unten auf einer Türschwelle saß. Man sah es klar, ihre
Pein
war, sich umsonst bestreben zu müssen, den Menschen Gutes zu tun und
die Macht
dazu auf immer verloren zu haben.
Ob
diese Wesen in dem Nebel zergingen, oder ob sie der Nebel einhüllte,
wusste er
nicht zu sagen. Aber sie und ihre Gespensterstimmen vergingen zu
gleicher Zeit
und die Nacht wurde wieder so, wie sie bei seinem Nachhausegehen
gewesen war.
Scrooge
schloss das Fenster und untersuchte die Tür, durch welche das Gespenst
hereingekommen war. Sie war noch verschlossen und verriegelt, wie
vorher. Er
versuchte zu sagen: „Dummes Zeug“, aber blieb bei der ersten Silbe
stecken, und
da er von der inneren Bewegung, oder von den Anstrengungen des Tages,
oder von
seinem Einblick in die unsichtbare Welt, oder der Unterhaltung mit dem
Gespenst, oder der späten Stunde sehr erschöpft worden war, ging er
sogleich zu
Bett, ohne sich auszuziehen, und sank schnell in Schlaf.