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Literatur


04.w2

Weihnachten

Märchen und Geschichten




Weihnachts-Abend


Fezziwig's Weihnachtsball


 Erstes Kapitel III - Marley’s Geist

Nein, er glaubte es selbst jetzt noch nicht. Obgleich er das Gespenst durch und durch und vor sich stehen sah; obgleich er den kältenden Schauer seiner totenstarren Augen fühlte und selbst den Stoff des Tuches erkannte, welches um seinen Kopf und sein Kinn gebunden war und das er früher nicht bemerkt hatte, war er doch noch ungläubig und sträubte sich gegen das Zeugnis seiner Sinne.

 „Nun“, sagte Scrooge, kaustisch und kalt wie gewöhnlich, „was wollt Ihr?“

„Viel!“ Das war Marley’s Stimme.

„Wer seid Ihr?“

„Fragt mich, wer ich war.“

„Nun, wer waret Ihr?“ sagte Scrooge lauter.

„Als ich lebte, war ich Euer Compagnon, Jacob Marley.“

„Könnt Ihr Euch setzen?“ fragte Scrooge, ihn zweifelnd ansehend.

„Ich kann es.“


Marley's Geist

„So tut’s.“

Scrooge tat die Fragen, weil er nicht wusste, ob ein so durchsichtiger Geist sich werde setzen können, und fühlte die Notwendigkeit einer unangenehmen Erklärung, wenn es ihm nicht möglich wäre. Aber der Geist setzte sich auf der andern Seite des Kamins nieder, als wenn er es gewohnt wäre.

„Ihr glaubt nicht an mich?“ sagte der Geist.

„Nein“, sagte Scrooge.

„Welches Zeugnis wollt Ihr, außer dem Eurer Sinne, von meiner Wirklichkeit haben?“

„Ich weiß nicht“, sagte Scrooge.

„Warum glaubt Ihr Euren Sinnen nicht?“

„Weil sie eine Kleinigkeit stört“, sagte Scrooge. „Eine kleine Unpässlichkeit des Magens macht sie zu Lügnern. Ihr könnt ein unverdautes Stück Rindfleisch, ein Käserindchen, ein Stückchen schlechter Kartoffel sein. Wer Ihr auch sein mögt, Ihr habt mehr vom Unterleib, als von der Unterwelt an Euch.“

Es war nicht eben Scrooge’s Gewohnheit, Witze zu machen, auch fühlte er eben jetzt keine besondere Lust dazu. Die Wahrheit ist, dass er sich bestrebte lustig zu sein, um sich zu zerstreuen und sein Entsetzen niederzuhalten; denn die Stimme des Geistes machte selbst das Mark seiner Knochen erzittern.

Nur einen Augenblick schweigend diesen starren, toten Augen gegenüber zu sitzen, wäre halber Tod gewesen, das fühlte Scrooge wohl. Auch war es so grauenerregend, dass das Gespenst seine eigene höllische Atmosphäre hatte. Scrooge fühlte sie nicht selbst, aber doch musste es so sein; denn obgleich das Gespenst ganz regungslos dasaß, bewegten sich seine Haare, seine Rockschöße und seine Stiefelquasten wie von dem heißen Dunst eines Ofens.

„Ihr seht diesen Zahnstocher“, sagte Scrooge, aus dem eben angeführten Grunde seinen Angriff sogleich wieder beginnend und von dem Wunsche beseelt, wenn auch nur für einen Augenblick den starren, eisigen Blick des Gespenstes von sich abzuwenden.

„Ja“, antwortete der Geist.

„Ihr seht ihn ja nicht an“, sagte Scrooge.

„Aber ich sehe ihn doch“, sagte das Gespenst.

„Gut“, erwiderte Scrooge. „Ich brauche ihn nur hinunterzuschlucken und mein ganzes übriges Leben hindurch verfolgen mich eine Legion Kobolde, die ich selbst erschaffen habe. Dummes Zeug, sag’ ich, dummes Zeug!“

Bei diesen Worten stieß das Gespenst einen schrecklichen Schrei aus und ließ seine Kette so grauenerregend und fürchterlich klirren, dass Scrooge sich fest an seinen Stuhl halten musste, um nicht in Ohnmacht herunterzufallen. Aber wie wuchs sein Entsetzen, als das Gespenst das Tuch von dem Kopf nahm, als wäre es ihm zu warm im Zimmer, und die Unterkinnlade auf die Brust herabsank.

Scrooge fiel auf die Kniee nieder und schlug die Hände vors Gesicht.

„Gnade!“ rief er. „Schreckliche Erscheinung, warum verfolgst Du mich?“

„Mensch mit der irdisch gesinnten Seele“, entgegnete der Geist, „glaubst Du an mich, oder nicht?“

„Ich glaube“, sagte Scrooge, „ich muss glauben. Aber warum wandeln Geister auf Erden und warum kommen sie zu mir?“

„Von jedem Menschen wird es verlangt“, antwortete der Geist, „dass seine Seele unter seinen Mitmenschen wandle, in der Ferne und in der Nähe; und wenn dieser Geist nicht während des Lebens hinausgeht, so ist er verdammt, es nach dem Tode zu tun. Er ist verdammt, durch die Welt zu wandern – ach, wehe mir – und zu sehen, was er nicht teilen kann, was er aber auf Erden hätte teilen und zu seinem Glück anwenden können.“

Und wieder stieß das Gespenst einen Schrei aus und schüttelte seine Ketten und rang die schattenhaften Hände.

„Du bist gefesselt“, sagte Scrooge zitternd. „Sage mir, warum?“
„Ich trage die Kette, die ich während meines Lebens geschmiedet habe“, sagte der Geist. „Ich schmiedete sie Glied nach Glied und Elle nach Elle; mit meinem eigenen freien Willen lud ich sie mir auf und mit meinem eigenen freien Willen trug ich sie. Ihre Glieder kommen Dir seltsam vor.“
Scrooge zitterte mehr und mehr.

„Oder willst Du wissen“, fuhr der Geist fort, „wie schwer und wie lang die Kette ist, die Du selbst trägst? Sie war gerade so lang und so schwer, wie diese hier, vor sieben Weihnachten. Seitdem hast Du daran gearbeitet. Es ist eine schwere Kette.“

Scrooge sah auf den Boden herab, in der Erwartung, von fünfzig oder sechzig Klaftern Eisenketten sich umschlungen zu sehen; aber er sah nichts.

„Jacob“, sagte er flehend. „Jacob Marley, sage mir mehr. Sprich mir Trost ein, Jacob.“
„Ich habe keinen Trost zu geben“, antwortete der Geist. „Er kommt von andern Regionen, Ebenezer Scrooge, und wird von andern Boten zu andern Menschen gebracht. Auch kann ich Dir nicht sagen, was ich Dir sagen möchte. Ein klein wenig mehr ist Alles, was mir erlaubt ist. Nirgendwo kann ich rasten oder ruhen. Mein Geist ging nie über unser Comtoir hinaus – merke wohl auf – im Leben blieb mein Geist immer in den engen Grenzen unsrer schachernden Höhle; und weite Reisen liegen noch vor mir.“

Scrooge hatte die Gewohnheit, wenn er nachdenklich wurde, die Hand in die Hosentasche zu stecken. Über das, was der Geist sagte, nachsinnend, tat er es auch jetzt, aber ohne die Augen zu erheben, oder vom Stuhl aufzustehen.

„Du musst Dir aber viel Zeit genommen haben, Jacob“, bemerkte er mit dem Tone eines Geschäftsmannes, obgleich mit vieler Demut und Ehrerbietung.

„Viel Zeit!“ sagte der Geist.
„Sieben Jahre tot“, sagte sinnend Scrooge. „Und die ganze Zeit über gereist.“
„Die ganze Zeit“, sagte der Geist. „Ohne Frieden, ohne Ruhe und mit den Qualen ewiger Reue.“
„Du reisest schnell“, sagte Scrooge.
„Auf den Schwingen des Windes“, sagte der Geist.
„Du hättest eine große Strecke in sieben Jahren bereisen können“, sagte Scrooge.

Als der Geist dies hörte, stieß er wieder einen Schrei aus und klirrte so grässlich mit seiner Kette durch das Grabesschweigen der Nacht, dass ihn die Polizei mit vollem Rechte wegen Ruhestörung hätte bestrafen können.

„O, gefangen und gefesselt“, rief das Gespenst, „nicht zu wissen, dass Zeitalter von unaufhörlicher Arbeit sterblicher Geschöpfe vergehen, ehe das Gute, dessen die Erde fähig ist, sich entwickeln kann; nicht zu wissen, dass ein christlicher Geist, und wenn er auch in einem noch so kleinen Kreise von Liebe wirkt, in diesem Erdenleben sich selbst belohnende Arbeit genug finden kann! Aber ich wusste es nicht, ach, ich wusste es nicht!“

„Aber Du warst immer ein guter Geschäftsmann, Jacob“, stotterte Scrooge zitternd, der jetzt anfing, das Schicksal des Geistes auf sich selbst anzuwenden.

 „Geschäft!“ rief das Gespenst, seine Hände abermals ringend. „Der Mensch war mein Geschäft. Das allgemeine Wohlsein war mein Geschäft; Barmherzigkeit, Versöhnlichkeit und Liebe, alles das war mein Geschäft. Alles, was ich in meinem Gewerbe tat, war nur ein kleiner Tropfen Wasser in dem weiten Ozean meines Geschäftes.“

Er hielt seine Kette vor sich hin, als ob dies die Ursache seines nutzlosen Schmerzes gewesen wäre, und warf sie wieder dröhnend nieder.

„Zu dieser Zeit des schwindenden Jahres“, sagte das Gespenst, „leide ich am meisten. Warum ging ich mit zur Erde blickenden Augen durch das Gedränge meiner Mitmenschen und wendete meinen Blick nie zu dem gesegneten Stern empor, der die Weisen zur Wohnung der Armut führte? Gab es keine arme Hütte, wohin mich sein Licht hätte leiten können?“

Scrooge hörte mit Entsetzen das Gespenst so reden und fing an gar sehr zu zittern.

„Höre mich“, rief der Geist. „Meine Zeit ist fast vorüber.“

„Ich will hören“, sagte Scrooge. „Aber mache es gnädig mit mir! Werde nicht hitzig, Jacob, ich bitte Dich.“

„Wie es kommt, dass ich vor Dich in einer Dir sichtbaren Gestalt treten kann, weiß ich nicht. Viele, viele Tage habe ich unsichtbar neben Dir gesessen.“

Das war kein angenehmer Gedanke. Scrooge schauderte und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Es ist kein leichter Teil meiner Buße“, fuhr der Geist fort. „Heute Nacht komme ich zu Dir, um Dich zu warnen, dass noch für Dich eine Möglichkeit vorhanden ist, meinem Schicksal zu entgehen. Eine Möglichkeit und eine Hoffnung, die Du mir zu verdanken hast.“

„Du bist immer mein guter Freund gewesen“, sagte Scrooge. „Ich danke Dir.“

„Drei Geister“, fuhr das Gespenst fort, „werden zu Dir kommen.“ Bei diesen Worten wurde Scrooge’s Angesicht noch trauriger als das des Gespenstes.

„Ist das die Möglichkeit und die Hoffnung, die Du genannt hast, Jacob?“ fragte er mit bebender Stimme.

„Ja.“

„Ich – ich sollte meinen, das wäre eben keine Hoffnung“, sagte Scrooge.

„Ohne ihr Kommen“, sagte der Geist, „kannst Du nicht hoffen, den Pfad zu vermeiden, den ich verfolgen muss. Erwarte den Ersten Morgen früh, wenn die Glocke Eins schlägt.“

„Könnte ich sie nicht alle auf einen Schluck nehmen?“ meinte Scrooge.

„Erwarte den Zweiten in der nächsten Nacht um dieselbe Stunde. Den Dritten in der nächsten Nacht, wenn der letzte Schlag Zwölf ausgeklungen hat. Schau mich an, denn Du siehst mich nicht mehr; und schau mich an, dass Du Dich um Deinetwillen an das erinnerst, was zwischen uns geschehen ist.“

Als es diese Worte gesprochen hatte, nahm das Gespenst das Tuch von dem Tische und band es sich wieder um den Kopf. Scrooge erfuhr das durch das Knirschen der Zähne, als die Kinnladen zusammen klappten. Er wagte es, die Augen zu erheben und erblickte seinen übernatürlichen Besuch vor sich stehen, die Augen noch starr auf ihn geheftet, und die Kette um den Leib und den Arm gewunden.

Die Erscheinung entfernte sich rückwärtsgehend; und bei jedem Schritt öffnete sich das Fenster ein wenig, sodass, als das Gespenst es erreichte, es weit offen stand. Es winkte Scrooge näher zu kommen, was er tat. Als sie noch zwei Schritte voneinander entfernt waren, hob Marley’s Geist die Hand in die Höhe, ihm gebietend, nicht näher zu kommen. Scrooge stand still.

Weniger aus Gehorsam, als aus Überraschung und Furcht: denn wie sich die gespenstige Hand erhob, hörte er verwirrte Klänge durch die Luft schwirren und unzusammenhängende Töne des Klagens und des Leides, unsagbar, schmerzensvoll und reuig. Das Gespenst horchte ihnen eine Weile zu und stimmte dann in das Klagelied ein; dann schwebte es in die dunkle Nacht hinaus.

Scrooge trat an das Fenster, von der Neugier bis zur Verzweiflung getrieben. Er sah hinaus.

Die Luft war mit Schatten angefüllt, welche in] ruheloser Hast und klagend hin und her schwebten. Jeder trug eine Kette, wie Marley’s Geist; einige wenige waren zusammengeschmiedet (wahrscheinlich schuldige Ministerien), keines war ganz fessellos. Viele waren Scrooge während ihres Lebens bekannt gewesen. Ganz genau hatte er einen alten Geist in einer weißen Weste gekannt,


Die klagenden Geister

welcher einen ungeheuren eisernen Geldkasten hinter sich herschleppte und jämmerlich schrie, einem armen, alten Weibe mit einem Kinde nicht beistehen zu können, welches unten auf einer Türschwelle saß. Man sah es klar, ihre Pein war, sich umsonst bestreben zu müssen, den Menschen Gutes zu tun und die Macht dazu auf immer verloren zu haben.

Ob diese Wesen in dem Nebel zergingen, oder ob sie der Nebel einhüllte, wusste er nicht zu sagen. Aber sie und ihre Gespensterstimmen vergingen zu gleicher Zeit und die Nacht wurde wieder so, wie sie bei seinem Nachhausegehen gewesen war.

Scrooge schloss das Fenster und untersuchte die Tür, durch welche das Gespenst hereingekommen war. Sie war noch verschlossen und verriegelt, wie vorher. Er versuchte zu sagen: „Dummes Zeug“, aber blieb bei der ersten Silbe stecken, und da er von der inneren Bewegung, oder von den Anstrengungen des Tages, oder von seinem Einblick in die unsichtbare Welt, oder der Unterhaltung mit dem Gespenst, oder der späten Stunde sehr erschöpft worden war, ging er sogleich zu Bett, ohne sich auszuziehen, und sank schnell in Schlaf.







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Textgrundlage:  "Der Weihnachts-Abend",
Charles Dickens, Entstehungsdaten: 1843,
ED: 1877, Übersetzer: Julius Seybt, Verlag
G. Grote, Druck Fischer & Wittig,
Erscheinungsort: Berlin
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Bild 1: "Fezziwig‘s Weihnachtsball",
Federzeichnungen von John Leech (1817-1864)

Logo 166: "Hamlet and his Fuseli", Henry Fusili,
1780-1785,  gemeinfrei
wikimedia 

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