Weihnachtszauber 1
Ungewöhnlich
lange dauerte es diesmal. Das ganze schmucke neue Haus duftete
schon von Tannengrün und Wachskerzen und noch immer klang die Glocke
nicht, das
liebe silberhelle Glöcklein, das nur einmal des Jahres erklingt, nur
einmal
ruft und jubelt: am Christabend.
Wieder
und wieder glaubten sie's zu hören. Dann sprangen sie auf, lauschten
und liefen vor die Tür. Enttäuscht kehrten sie zurück in das trauliche
Halbdunkel ihres Zimmers und überließen sich wieder der drangvoll süßen
Ungeduld und froherregenden Erwartungsfreude. Und immer wieder ging die
kindliche Phantasie, durchwärmt von heller Herzenslust und
durchschauert von
ehrfürchtigen Empfindungen, ihre krausen Wege. Tastend jetzt und
zaghaft an
dunklen verschlossenen Türen vorbei – jetzt jäh auffliegend ins
Sonnenland des
Märchenhaften, einer aufgescheuchten Schar bunter Vöglein gleich, die
im
Sonnenglanz verschwinden, als hätt' sich ihnen überschnell eine
unsichtbare Pforte
aufgetan und rasch wieder geschlossen hinter den scheu Entflohenen.
Jetzt
schlug die Uhr vom nahen Kirchturm die Stunde. Sie lauschten und
zählten.
»Sechs
Uhr schon!« rief Klein-Elli betroffen. »Um die Zeit war das
Christkind immer schon da bei uns.«
»Ja,
mein Gott,« meinte altklug der fast achtjährige Otto, der Aelteste,
»jetzt, wo wir da heraußen wohnen, wird's wohl noch später.«
»Ja«,
hauchte Elli und ihre Augen wurden groß dabei.
Und
Norbert, der jüngste, ließ sein Spielzeug fallen, starrte die beiden
Größeren schier angstvoll an und sagte traurig: »Noch später.«
Alle
drei sehnten sich in dieser Stunde zurück in die enge, aber trauliche
Wohnung drinnen in dem großen Stadthause, hoch droben im letzten
Stockwerk.
Erst als Otto daran erinnerte, daß der Vater nie so heiter war wie
jetzt, wo
sie hier wohnten in den schönen Räumen des kleinen eigenen Hauses –
erst dann
versöhnten sich die kleinen Zürnenden wieder mit dem neuen Heim, wo
noch alles,
neu und vornehm, sie anrief. »Rühr mich nicht an! Streif nicht an mich
an! Stoß
mich nicht ab!« Und scheu wichen sie all dem unvertrauten Neuen und
Fremden aus
und gingen im Kreise um die Ecken. – Wie war's doch drinnen in der
Stadt anders
inmitten der lieben alten Möbel, die sie alle kannten und die ihnen
allerlei zu
erzählen wußten aus der geheimnisvollen Morgendämmerung ihres Daseins.
Freilich, der Vater kam dort oft mit trüben Mienen heim und ging stumm
in sein
Kämmerlein. Dann wanderte die Mutter still von der Küche ins Zimmer und
ruhelos
wieder zurück. Sie sah, was die Kleinen nicht sahen, aber in ihren
reinen
Herzen dunkel ahnten: daß an ihres Mannes Seite eine graue Gestalt
herangeschlichen war und ihre dürre Hand, ach! so vertraut auf seine
Schultern
legte – die dürre kleine Hand, die so schwer wiegen und so unerbittlich
Lebensglanz und Freudenschimmer verwischen kann wie ein feuchter
Schwamm die
Schriftzüge auf einer Tafel: die Hand der Frau Sorge. Und sie wußte
auch, was
die Kinder nicht ahnten und ahnen sollten: daß oft an ihrer
bescheidenen
Heimstatt Tür der Frau Sorge ungestümere Schwester pochte: die Not.
Ein
Glücksfall brachte mit einem Male Sonnenglanz in das nebelumflorte
Sorgenleben des kleinen kindergesegneten Beamten. Schier betäubt war er
von der
Größe und Plötzlichkeit dieses Glücks. All die drückenden Schulden
konnte er
bezahlen, seiner stillen Frau kaufen, was sie sich heimlich oft
gewünscht, und
seine Kinder kleiden, schmuck und fein und sauber, wie er es längst
ersehnte.
Und allen seinen eigenen Wünschen Erfüllung bieten. Dabei ging er aber
oft über
das gebotene Maß vornehmen Schönheitssinnes hinaus und verletzte
dadurch das
zarte Feinheitsgefühl seines Weibes. Anfangs mit stillem Lächeln, bald
aber mit
Befremden und endlich mit heimlichem Kummer merkte Frau Herma, wie ihr
sonst so
bescheidener Mann immer mehr die unleidlichen Manieren eines
Emporkömmlings
annahm und ein Wesens machte, das der Wirklichkeit gar nicht entsprach.
Daß sie
fortan sorgenlos leben, daß sie sich dieses Häuschen bauen und sich
frohgemut
der Stunde hingeben konnten – das war alles. Und das war viel,
unendlich viel
für Hermas seelenheitre Art; aber es war wenig in den Augen der Welt,
die nur
aufs Aeußerliche sieht und nicht ahnen kann, wie unsagbar reich ein
armes
Menschenherz sein kann, tief drinnen in der Brust. Und Herma war reich
gewesen
von jeher und hielt auch Konrad, ihren bisher so schweigsamen Mann, für
innerlich reich und seelentief. Und nun mußte sie sehen, wie er
protzte, wie er
groß tat vor allen Leuten. Das tat ihr weh. Und sogar der Zweifel bekam
allgemach
Gewalt über sie. Sie fragte sich, ob ihres Mannes Gemüt wirklich so
schlicht
sei und so tief bescheiden, als es ihr bisher schien und sie es liebte.
Sollte
es nur die Sorge, die Not kümmerlich ins Blühen gebracht haben? War das
schwere
Schweigen nur eine Hülle, die nichts verhüllte?
Heimlich
wünschte sie oft, es wäre geblieben wie früher. Lieber ertragen und
dulden, lieber sich beugen in Sorgen und Kümmernissen – aber innerlich
froh
sein können, vertrauensstolz froh und stark in der Ueberzeugung, in
sich einen
Schatz zu tragen, den uns niemand rauben kann, in sich ein Feuer
brennen zu
wissen, das durch nichts auf dieser Welt ganz erlöschen und ganz
erkalten kann:
die Liebe zueinander und das große tiefe herzbeglückende Vertrauen, das
solcher
Liebe entspringt. Und jetzt, wo alles Gute in ihnen sprießen, alles
Edle blühen
konnte, wo sie aus dem Sumpfe kleinlicher gemeiner Alltagssorgen auf
festes
sicheres Land gerettet waren – jetzt sollte sie erkennen müssen, daß
ihres
Mannes Gemüt seicht, seine Gesinnung oberflächlich sei? Auf wiederholte
Bemerkungen, die an sein Feingefühl gerichtet waren, hatte er nur ein
Lachen,
das in seiner selbstsicheren Unbefangenheit Herma weher tat als etwa
eine
schroffe Abweisung. War er wirklich nur und noch immer glückberauscht
oder
stand ihr die herbste Enttäuschung ihres Lebens bevor? Sie wollte
abwarten, eh
sie zum offenen Kampfe überging oder – still verzichtete.
Er
aber lebte froh in den Tag hinein und ahnte wohl kaum, was seine Frau
heimlich so tief bedrückte. Erst am Weihnachtsabend, als Herma in
voller tiefer
Stimmung in ihr Zimmer ging und erwartungsfroh jene Lade aufzog, wo sie
den
lange treu bewahrten Christbaumschmuck verbarg und er, rasch
dazwischentretend,
ihr verwehrte, den »alten Tand« nochmals auf den Baum zu hängen,
trübten ihm
die ersten herben Tränen den Glanz seines jungen Glücks. Herma, sein
feinfühliges Weib, weinte sie – jäh und unbezwingbar. Er sah sie an wie
vom
Donner gerührt. Sie aber wischte sich die salzige Flut rasch von den
Wangen,
schob die Lade zu und ging von ihm weg – still, wortlos, ohne ihn
anzusehen. Ging hinüber, den großen hohen Tannenbaum zu schmücken mit
den neuen
gleißenden Sachen, die er heimgebracht hatte. Still verrichtete sie
diese
Arbeit an seiner Seite, unfroh, mit unlustschweren Händen. Und wenn
sich ihre
Blicke begegneten, senkten sie sich rasch oder glitten aneinander
vorbei wie an
etwas Unliebem. Auch ihm ging nichts recht aus den Händen und in seine
Seele
kam eine seltsame Unruhe, ein beklemmendes Mahnen und beängstigendes
Drängen –
die Vorboten der Reue.
Ueber
all dem verging viel Zeit. Und darum währte es heute so ungewöhnlich
lange. Und mit den nun verpönten lieben alten Dingen beschäftigte sich
unterdessen die heißerregte Phantasie der Kinder. Seit Jahren kehrten
sie
geheimnisvoll immer wieder, glänzten und strahlten, glitzerten und
funkelten
aus dem Tannengrün und verschwanden nach dem Heiligendreikönigtage
ebenso
geheimnisvoll wieder.
Wohin?
Das Christkind habe sie wieder geholt, sagte die Mutter. Dem Christkind
gehören sie ganz allein und dieses bringe sie immer in dasselbe Haus
und
verwechsle sie nie. Und je öfter es dieselben Sachen den gleichen
Kindern
bringe, desto lieber habe es diese.
Und
desto lieber gewannen sie auch die Kleinen. Mit heiliger Scheu sahen
sie
jedesmal zu dem funkelnden Stern empor, der immer hoch oben am Gipfel
des
Baumes prangte und sich oft seltsam leise bewegte, als wehe
überirdischer Hauch
um ihn her oder aus ihm heraus. Und darunter das Christkindlein mit dem
Goldscheine um das blondgelockte Haupt. Es lächelte und nickte grüßend
herab;
auf seinen lieblichen Wangen lag ein rosiger Schimmer, aus seinen
großen
Blauaugen kam ein Leuchten – unfaßbar geheimnisvoll. Diese zwei
Heiligtümer
hatten die Kinder nie in der Nähe geschaut, nie in den Händen
gehabt. Und keines hätte es je gewagt, auch nur den Wunsch zu äußern,
sie
herunterzuholen. In ein viel vertraulicheres Verhältnis kamen sie
allgemach zu
den tiefer in den Zweigen hängenden Schaustücken. Sie betasteten sie
mit
scheuer Neugierde, streichelten sie, nahmen sie wohl öfter behutsam
herab und
hingen sie aus eigenem Antriebe, oder bedeutsam von der Mutter gemahnt,
wieder
an ihren Platz – dorthin, wo sie mit zarten Fingern das Christkindlein
selbst
gehangen hatte. Und jedes der Kinder nahm geistig Besitz von einem
bestimmten
Gegenstande, der ihm besonders lieb war. Des Sommers oft, wenn trübe
Regentage
sie in die Stube bannten, sprachen sie unvermutet von all den
geheimnisvollen
Sachen. Elli am liebsten von einer winzig kleinen Puppe, die, in einem
zierlichen Körbchen weich gebettet liegend, sie alljährlich so
vertraulich
anlächelte, als freute sie sich des Wiedersehens so sehr wie Elli
selbst.
Mit
heißen Wangen und leuchtenden Augen phantasierte sie eben wieder von
ihrem kleinen Liebling und behauptete plötzlich, das liebe Püppchen sei
zweifellos ein Spielzeug, mit dem im Himmel droben Lilli, das
verstorbene
Schwesterlein spielen dürfe inmitten einer Schar fröhlicher Englein.
Darum
leuchte sie auch immer so himmlisch schön, die Puppe, meinte sie
ernsthaft.