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Literatur


04.2


Walter Rheiner


Kleine Prosa





 Die Erniedrigung - Ein Totentanz

I

Wer  ist  mehr  berufen,  die  Mächte  über  sich  zu  fühlen,  als  der Dichter?  Wer  mehr  berufen,  alle  Schauerlichkeit  ihrer  hallen - den Grotten auszutrinken, als er, der Berufene kat’ exochän, der Bejaher, der ewig Kämpfende am Ölberge, der da spricht: „Ist es nicht möglich, daß dieser Kelch von mir gehe, ich trinke ihn denn; so geschehe dein Wille! …“ Er lebt auf allen Inseln; er stürzt in jede Stadt; erfrorner Sperling, schwebt auf jeden Park hernieder; und jede Nacht ist ihm feindlich! – Nur wer dienet, mag befehlen!

. . .  So dient er, der Prinz, und über Nacht und Finsternis wird er König, triumphaler Rufer und Herrscher des Lichts. – So fiel er in (trostlose) Wüste orientalischen Giftes: er, der Berufene, Tobias  Sternraffer, der Dichter. –
 
Ein Uhr durch! … Voll Grauen schritt er über die Schiffsbrücke. Die  Pontons  ächzten, quatschige  Wasser-Tiere,  unter  seinem  eiligen Schritt. Der Dom, ein aufgeschreckter Riesen-Hase, floh mit langen Ohren in trübe Ferne. Ein Dampfer hastete verloren, mit plätschernden  Rädern,  in  die  Finsternis.  Licht-Blut  einer  Fabrik am  Ufer  pulste  durch  Stangen-Geripp  und  schmierige  Fenster-Augen. Seine Hand in der Ulstertasche umschmeichelte die Medizinflasche. Ein tiefes Grauen vorn im Hirn, an der Peripherie des Schädels, im Auge, im Nacken; und ein makabrer Drang, ein unergründliches, unbegreifliches, unwiderstehliches Sehnen nach dem Gift im Rückgrat: – so saß er, verkrochen, in der Trambahn.

Nicht konnte er es erwarten, nach Hause zu kommen.

Mutter und Schwester schliefen schon. Aber die Katze leuchtete in seinem Zimmer. Er entzündete das Gas und legte auf dem Bett-Stuhl Flasche, Spritze, Watte, Tuch und Kerze zurecht. Kaum den Überrock abgeworfen, gab er sich zwei starke Spritzen (Sol. hydro. Cocaine 0,06) in den Oberarm. Seine Füße hoben sich vom Boden, das Haar schäumte, er schwebte an der Zimmerdecke und trank den Glanz des Gaslichts. Eifrigst entkleidete er sich.

 
Noch war er nicht zu Bett, so fühlte er schon das dunkle Tuch von  oben  auf  sich  hernieder schweben,  das  ihn  fest  einwickelte, Mund,  Nase,  Ohr  und  Lunge  dick  verhüllend  und  ihn  in  eine Ecke  drückte.  Dort  schrumpfte  er  ganz  klein  zusammen.  Die Augen  rissen  sich  auf;  die  Pupillen  weiteten  sich  zu  zwei  unabsehbaren  schwarzen  Schächten . . . Ah!,  den  Druck  vom  Körper fort!  –  Hastig  nahm  er  zwei  weitere  Spritzen.  Sofort  ward  ihm wohler  und  unendlich  ruhig.  Die  Augen  schlossen  sich.  Doch dann  gingen  sie  wieder  wie  zwei  dunkle  Monde  auf:  weit!  weit!

. . . Die Hand zitterte ein wenig. Er floh ins Bett. – Die Möbel begannen zu flüstern, und die Fenster-Vorhänge machten eine leise Musik.  Das  Zimmer  schwankte,  ein  langsam  sinkendes  Schiff. Halt! man könnte ihn beobachten! . . . Er verhüllte sorgfältig die Fenster,  schloß  die  Zimmertür  ab  und  hing  seinen  Hut  an  die Klinke.  – 

Doch  die  Photographien  auf  der  Kommode  konnten den geheimen Beobachtern vielleicht als Spiegel dienen! Er legte sie platt nieder, nahm selbst einen Spiegel zur Hand und belauerte angestrengtest die Vorgänge in dem Teil des Zimmers, dem er den Rücken zuwenden mußte.

Die Angst wuchs . . . Die Tapeten belebten sich mit Augen, die langsam auf und nieder kreisten und strenge blickten. Er schreckte auf und sah sich um. Doch sofort warf er den Körper wieder zurück, denn unter dem Sofa bewegte sich etwas . . . Sollte es seine Schwester sein, die der schlafenden Mutter Lichtsignale gab über seinen  Zustand  und  die  Anzahl  der  Spritzen? . . . Er  sprang  auf, suchte unter dem Sofa, nahm eine neue Spritze, lachte (es war die Katze), löschte das Gaslicht und legte sich von neuem zu Bett.

Mit großen Augen lag er da. Die Katze schlich leise im Zimmer umher. – Neue Angst erfaßte ihn. Er hörte deutlich Stimmen, die Stimmen  seiner  Mutter  und  seiner  Schwester.  Schnell  nahm  er eine Spritze. Nun schwieg es ein wenig. Doch plötzlich klingelte es (mitten in der Nacht!), die Tür ging, jemand trat nebenan ins Zimmer.  In  seinem  Handspiegel  konnte  Tobias  nun  auf  irgend eine  Weise  (über  die  er  nicht  weiter  nachdachte)  das  Zimmer nebenan  sehen. –  Dort brannte  Licht.  Mutter  und  Schwester saßen,  im  Nachtgewand,  am  Tisch;  der Hereingetretene  war Dr. Pagenstecher, der Apotheker, von dem er das Kokain bezog. Er hatte den Hut in der Hand und den Überzieher an und schüttelte langsam und mitleidig den Kopf. Die Mutter weinte. Jetzt hörte Tobias ganz deutlich die Schwester sprechen: „Ist das nicht fürchterlich mit Tobias? . . . Wie er die Augen aufreißt! Man sollte einen Arzt  holen!  Er  wird  wahnsinnig!“  Der  Apotheker  nickte  traurig. Die Mutter schluchzte: „Ja, Herr Pagenstecher, holen Sie den Arzt!“ Der Apotheker wandte sich und ging. Die Mutter hatte, in tiefem Gram, den Kopf in die Hände auf den Tisch gelegt.



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Textgrundlage: "Kleine Prosa", Walter Rheiner
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