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04.2
Walter
Rheiner
Kleine Prosa
Die Erniedrigung - Ein Totentanz
II
O
Gott! der Arzt! . . . –
Tobias fuhr auf und versuchte mit fieberhaften Händen die Kerze
zu entzünden. Erst
das sechste Streichholzfing Feuer. Er nahm eine Spritze. Inzwischen
drang der
Tag, grau und langsam, schleichend, durch das vermummte Fenster.
Tobias, über
die Katze stolpernd, die aufrecht saß, in beiden Vorderpfoten kleine
Spiegel hielt und
Lichtsignale gab, schloß, erst leise, dann mit einem Ruck, seine
Zimmertür auf
und glotzte bohrend in den Korridor hinein. Im Hintergrund stand dort
eine alte
Truhe, und Tobias sah auf ihr deutlich die Gestalt seiner Mutter
sitzen, die
das kummerzerfressene Antlitz zu
verbergen trachtete und
heimlich
nach
ihm schaute. Die
Schwester, Ly, hatte sich hinter den Kleidern am Garderobenständer
verborgen
und schnalzte mißbilligend mit der Zunge. Tobias starrte lange hin.
Schließlich
sagte er stockend (und die Stimme klebte ihm schlaff und fetzenweise am
Gaumen)
in den Flur hinaus: „Mutter! . . . laß
das doch! . . . Ich seh dich ja! . . . Ich
habe nur eine einzige Spritze genommen!“ Das Blut stieg ihm kalt
zu Kopfe vor dieser
Lüge, aber er hielt sie für notwendig, um die Mutter zu beruhigen, der
große
Tränen aus den Augen flossen. Sie regte sich nicht. „Na, ich . . . ich
. . .
ich sehs ja doch! . . .“ sagte Tobias. Wie er sich umwandte, sah er die
Schwester ins Zimmer huschen, wie sie gerade hinter der Gardine am
Fenster
verschwand. Er schloß wieder ab.
Zagend
schlich er auf die
Gardine zu; aber noch ehe er sie erreicht hatte, war Ly durch das
geschlossene
Fenster hinausgesprungen. Er sah nach, ob sie sich vielleicht noch am
Fensterbrett festhalte. Aber sie lag zerschmettert unten auf der Straße
und
bewegte den qualvollen Leib.
Menschen
sammelten sich
langsam an. – Tobias zitterte an allen Gliedern. Er setzte sich aufs
Bett und
gab sich zwei Injektionen hintereinander. Bei
der zweiten hatte
er die Nadel
zu tief eingestochen;
flink quoll ein
dünnes, hellrotes Rinnsal,
kroch vom Oberarm bis zum
Handgelenk, tropfte auf den Schenkel und lief das Bein entlang bis zur
Fußsohle. Es sah aus wie Eisenbahnlinien auf einer Landkarte. Die Watte
tränkte
sich rot, so oft Tobias das Blut zu stillen
versuchte. Höhnisches Gerinn!
Schließlich schien ihm, als ob er
aus tausend Stichen und aus allen Körperöffnungen blute. Todesangst
packte ihn.
Er ließ den Strömen ihren Lauf. Jetzt ward
es heller Tag. Eine
gläserne Sonne sandte kalte Blendstrahlen auf
die umliegenden hohen fünfstöckigen
Häuser; die riesigen Dächer schienen zu flattern, und auf
die Straße fielen die Sonnenstrahlen wie Millionen Nadeln. Tobias
schleppte
sich ans Fenster, um nach der Schwester zu sehen. – Auf der Straße war
es
schwarz von Menschen, einer
stoßenden, drängenden Menge,
die schweigend und
starr zu Tobias
hinaufblickte, mit schadenfrohen
und bösen
Gesichtern.
Tobias
suchte
krampfhaft auf dem
Fußboden herum. Was suchte
er doch? . . . Nadeln,
die Schwester, oder
einen Teil des anmutigen, zerschmetterten Körperchens?
Seine Hände und Knie waren voll Schmutz, denn die müde Mutter reinigte
längst
nicht mehr Tobias’ Zimmer.
Unzählige Streichhölzer, Watte,
Kerzen-und Blutstropfen lagen
herum. Tobias nahm
alles in die
Finger, nestelte daran und
betrachtete es genauest.
Er hatte Angst,
alle diese Gegenstände könnten die Schwester sein, und er sähe nur so
falsch
. . . Er kam wieder dem Fenster nahe. Drunten staute sich die
Menge,
blickte aufmerksam herauf
und befragte sich
gegenseitig, murmelnd. Aber
auch auf den
Dächern der gegenüberliegenden Häuser, in allen Fenstern,
auf allen Balkonen wimmelte es von Leuten, Männern und Frauen, zum Teil
mit
Fernrohren und Operngläsern, alle aber einzig seinethalben aufgestellt
und ihm
zuschauend. Mutter und Schwester, im Nachtkleid, frierend waren
darunter. Iris,
die Katze, spazierte hämisch, mit ironischen Pfoten, über
die
tausend Köpfe hin.
Dr. Pagenstecher, der
Apotheker, stand auf dem
mittleren Balkon und
erklärte, mit den
Armen deutend, einer Schar
Polizisten Tobias Sternraffers
schlimmen Fall. Die hörten zu; Helme und Gummiknüppel nickten. Tobias
verstand
zwar kein Wort, doch war es keine Frage, daß man über ihn sprach, über
ihn!
Jetzt
wandten
sich plötzlich alle
Polizisten um und
schauten scharf nach Tobias;
einer trat vor
(die Menschenmenge rauschte,
ein Meer) und
(es war der Polizeihauptmann in
glitzernder Uniform) schrie herüber:
„He!
Sie! Sie da! Zum
Donnerwetter! Lassen Sie das jetzt sein! Schämen Sie
sich nicht!? Sie Tier!!“
Beifall, Händeklatschen bei dem Volk unten. Immer neue
kamen aus
nahen Straßenzügen, die Balkone
füllten sich mehr
und mehr und
ein tosendes, langhinhallendes Geschrei hub an: „He! Sie
da! He! Herr Sternraffer! Herr Sternraffer!
. . . Schluß!
Schluß! Aufhören! He! Herr Sternraffer!“ Einige sprangen von den
Balkonen
herunter und kletterten eilig an der Fassade des Hauses empor, auf
Tobias’
Zimmerfenster zu. Der lallte, in Schweiß gebadet: „Nun . . . nun . . .
Aber . .
. aber . . . das Haus . . . bricht ja .
. . „Ja, es brach.
– Zuerst wankte
der hohe Schrank, satanisch grinsend. Das Bett knickte
bäuchlings ein. Ein Tosen schwoll, ein
Gedröhn!;
violette Sonnen
tanzten. Schrank und Möbel neigten sich langsam und weit vor! Tobias
versuchte
zu schreien; der Laut blieb ihm stecken.
Im Stürzen sah er noch, wie drüben
alle Balkone abbröckelten und mit den Zuschauern pfeifend in die Tiefe
fuhren .
. . Im Ozean von Getöse und Licht versank alles . . .
III
Der
Apotheker aber (. . . seht ihrs denn nicht? . . .) ist CHRISTUS
JESUS,
der über den zerfallenen Häusern und über den verfallenen Menschen
sitzet und
mitleidig den Kopf schüttelt. Er hat den Hut in
der Hand und
wird den Arzt
holen. Aus seiner
Ulstertasche zieht er eine große Mond-Harfe. Er weint, und wie die
Tränen auf die
Saiten fallen, erklingt
es leise: Du Menschensohn! Nicht spendet der Himmel Blick und gutes
Wort zu
tödlichem Jammertanz.
Ein
Marter-Regen,
dumpfe Tränen, kränzen
(o Bitternis!) eure Häupter. Ihr arm Gebein! Verkrochen in
Not und Tod, entzündet Gott des mühsamen Hirnes Schrein
. . . Du Mensch bist groß! und Dornen-Krone
trägst du, und Kreuzigung tausendfache! . . .
. . .
Und Tobias Sternraffer,
der ihn sieht, Tobias, zerweinten Körpers der Mutter armes Haupt im
Schoß,
schreit! schreit!:
seid
gut! seid gut!!
weiter
___________________________
Textgrundlage: "Kleine
Prosa", Walter Rheiner
BookOS
Logo 515: “Deat Rat Café" The Cocainbe Fiends, 1935
,
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