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Literatur


04.2


Walter Rheiner


Kleine Prosa




Nocturne

    (Köln)


Ich komme am Dom vorbei. Der steht da: unersättlich, mit der großen in die Nacht hineingreifenden Gebärde . . .
 
Kleine  weiche  Kokotten  stehen  im  Schatten  der  Häuser  und haben  jenes  mir  ach so bekannte  Zucken um den Mund,  wenn ein  großer gedunsener  Mann  auf  sie  zutappt  und  mit  breiten Froschfingern ihre kleine Brust betastet.
 
Und ich stehe auf dem Bahnhof.
 

Da liegt der braune Zug in den Gleisen, der nachts seine Not von London über Ostende, Berlin und Warschau nach Moskau heult, atmend wie ein gepeinigtes Tier.
 
Und ich weiß: –
 
Um diese Zeit sinken schwere Wolken von Schnee tief in die kanadischen Wälder; um  diese  Zeit  wälzt  sich  ein  kranker,  müder  Krake  auf  dem Meeresgrund dem Tode zu; um diese Zeit bröckelt wieder eine zermorschte Landschaft von dem greisen Monde ab. –
 
Und ich weiß: –
 
Ich  empfinde  das  alles:  das  tiefe  Elend,  in  dem  ich  liege,  das helle Glück, zu dem ich fliege in anderen Stunden; in mir ist die Angst des Bibers; der Hunger des Känguruhs, das unter  südlichen  Sternen  einsam  auf  flüsternden  Steppen  springt; meine Seele ist ein Zwinger voll wilder Tiere, voll lauernder, boshafter Affen und nagender Hyänen;
 
und ich bin machtlos, arm; ich falle vor ihr nieder wie ein nackter Wilder, der im heißen Dunst und Dunkel brütender Sümpfe die Kugelblitze um den Kilima-Ndscharo rollen hört; – und doch weine ich und lache und singe mit zersprungenen Lippen; und  mein  Herz  glüht  wie  eine  Perle,  und  meine  Augen  sind Diamanten: –
 
Meine Welt! Meine tanzende, große Welt!


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Textgrundlage: "Kleine Prosa", Walter Rheiner
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