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Literatur


04.2


Walter Rheiner


Kleine Prosa




Miramée
   (Paris)

 
Das Verhängnis hub an in einer gläsernen Sommernacht auf dem Boulevard Poissonnière. Eine Dame sank um im Lichtkreis einer Laterne; ich fing sie in meinen Armen auf. Es war Miramée. Ihr Kopf lag an meiner Schulter. Das Antlitz tauchte, einer Insel gleich, traumhaft und weich aus dem Äther ihres Haars. Eine seltsame Schönheit ruhte in ihm, als sie einen Augenblick lang die Augen öffnete und sie langsam wieder schloß. Es war, als sei der lange Boulevard feierlich mit diesem Blick in sie eingeflossen und hinter ihren seufzenden Lippen vergangen. Sie schmiegte den Kopf tiefer zu mir, ihre Hände umklammerten sanft meinen Arm, und sie erholte sich ein wenig. „Es geht Ihnen nicht gut, Madame“, sagte ich leise. Sie flüsterte: „Ach, ich hab zu viel gelitten!“
 
Ich rief einen Wagen an. Als ich beim Einsteigen half und ihre Schwere  einen  Augenblick  lang  trug,  fühlte  ich,  wie  eine  große gemeinsame Welle durch uns beide schwebte und sich im Fluß der Bäume und Laternen verlor.
 
Der Boulevard schien sehr schmal und malte hektische Bilder an die fließenden Fenster unseres Autos. Miramée lag groß in den Polstern. Manchmal warf ein Fenster, einem Scheinwerfer gleich, eine Kaskade von Licht auf ihren Schoß. Ihr blauseidenes Kleid glänzte  auf.  Unendlich  hing  ihr  Blick  an  mir.  Dann  kam  ein Augenblick, währenddessen ich deutlich begriff, daß ich sie früher schon einmal gesehen, gehalten, geliebt – geliebt haben mußte.
 
Wo sahn wir uns schon?
 
Miramée, in der Nacht trafen wir uns quer durch den schlimmen Schlaf der Weltstadt und durch die Nebel der Menschen, die des  Nachts  aufglimmen  und  durch  die  Straßen  schreien  ohne Stimme. Schon  verstricken  uns  gnadenlose  Fäden. Unsre  Hände falten sich, und süß ist es, im Meer sich aufzulösen und durch die sieben Morgenröten zu hallen ohne Grenzen!
 
Dann waren wir in einem großen Hotel dicht bei der Madeleine, schattenhaft  in  einem  gelben  Zimmer.  Ein  Bett  wuchs  schwarz, war ein dröhnender Sarg. Der elektrische Kronleuchter, ein böses rotes Geschwür, neigte sich schwer darüber. Sie erzählte mir ihr ganzes Leben, das makabre Wüten ihres Schicksals, mit einer verlorenen Stimme, die die Wände entlang schluchzte.
 
Soll ich das Lied singen, das zu mir kam, dieses Lied, das sich um  den  Eifelturm  spannt  und  wirbelt  in  einem  unsäglichen vivace  furioso? . . . das  kreißte  und  Welten  aufwarf  von  schluchzenden  Dimensionen?  –  Apachen  von  Montmartre,  Studenten des  Quartier  Latin,  Amerikaner  auf  gewaltigen  Schiffen  und  in schreienden  Häusern,  die  des  Abends  Tausende  von  Menschen und  Wasserfälle  von  Licht  speien,  erglühende  Abende  im  Wald von Compiègne, fürchterliche Nächte in schmierigen und drohenden Hotels an den großen Boulevards, das Gleiten der Seine unter der  Qual  ihrer  grauen  Brücken,  eine  tiefe  Liebe  voll  Angst  und Not, steinerne Ärzte mit sachlichen Feststellungen, die feindseligen Betten der Salpétrière, und, durch dies alles hindurch, im Hunger geträumt, die bestürzende Silhouette des schlanksten aller Türme über Paris im unbegreiflichen Glanz des Morgenhimmels: Silber und Blei, schimmernd und dumpf . . .
 
Ich lauschte, lauschte, und leise bildete sich in mir ihr kleines, unwirkliches Profil, wie es oft gewesen sein mußte auf der schwebenden Höhe in den weiten Falten der Sacré-Cœur-Kirche nach der Beichte. Miramée stieg hinab auf Paris, rein und golden ihr Schritt,  eine  süße  Cirruswolke,  die  zu  uns  Menschen  kam  und verging, verging in Rauch und Schlamm.
 
Lang blieb ich noch entrückt und jenseits. Dann grinste sich das Hier wieder in mich ein. Ihr Leib lag bloß und weiß im Bett, das mir wie ein endloses Meer schien, hallend und urhaft. Eine bleiche Sonne  quoll  durch  die  Gardinen  hüstelnd  über  die  Dächer  des Madeleine-Viertels herein. Koste ihre rechte Brust. Die linke lag böse zerfressen und geschwürig, braun und voll tückischen Lebens. Ihr armer Leib war eine Grotte von faulenden Massen, mühsam verklebt und verbunden. Das rechte Bein, schwarz von sich abschälender Haut, ragte wie ein verbrannter Pfahl in die Luft. Und all diese Stellen, auf die sich die furchtbare Krankheit gestürzt hatte, schillerten von einem gespenstischen Leben. Fast schien die Verwesung schon beginnen zu wollen, und je mehr sie fortschritt, um so mehr schien es mir, als ob ein neues Wesen da entstände, aus ihren Augenhöhlen kicherte und in den Zähnen hinter den toten, hochgezogenen Lippen lebte.
 
Eine  sinnlose  Angst  faßte  mich.  Die  Glocken  begannen  zu läuten, lange schleiften ihre wilden Töne über mich hin. Waren es nicht schwere Silben, die sie lallten, langsam und groß: „MI-RA-MÉE, MI-RA-MÉE“? – Paris stand auf und brüllte mich an. Ich stürzte wie wahnsinnig aus dem Hotel, Straßenkämpfe schienen mir  zu  toben, die  Untergrundbahnen  brachen  herauf  und  kamen empor, ein Bahnhof schwebte in der Luft. Ich rannte, ohne Hut, ohne Besinnung. In einer Vorstadt hielt ich an, erschöpft auf einer Bank. Dann verließ mich das Bewußtsein. Als ich aufwachte, hatte man mich in eine nahe Schenke gebracht. Dort reichte man mir Schnaps. Die Pariser Arbeiter umstanden mich in ihren blauen Blusen und diskutierten eifrig. Draußen, auf dem Boulevard Ornano, zitterte die Sonne, Spatzen piepsten, und vom Hof her kam das leise Singen eines kleinen unbewußten Dienstmädchens:
 
„C’est une belle gosse,
mais une sale rosse,
on ne devrait jamais l’approcher.
O quelle torture
que l’on endure,
quand on a le malheur de l’aimer!”
 
Ich aber ging, weiße Rosen in der Hand, langsam und leicht den Boulevard  Ornano  entlang,  aus  Paris  hinaus,  in  die  uferlosen Felder.


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Textgrundlage: "Kleine Prosa", Walter Rheiner
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