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Literatur


04.2


Walter Rheiner


Kleine Prosa




Drei Fragmente aus einer Kriegsnovelle

I
 
Am Abend brodelten ihre Köpfe, irre Kugeln, in der Dorfschenke. Der Regen peitschte an die schmalen Fensterscheiben. Oft klang es wie fernes Hufgetrappel einer großen Reiterschar, die ununterbrochen  das  Dorf  umritt,  einzelne  Scharen  vorwarf,  andere  zurückzog. Der Geruch des Regens drang durch die Holzwände und durchtränkte die Dunst-Schwaden der Zigaretten und des Tabaks, die über die wirren Angesichter wanderten. Zwei trübe Lampen quollen und kreisten langsam an der Decke, die bald nahe schien, bald fern. Ein langsamer Rhythmus bewegte die Glieder der Soldaten, die puppenhaft, abgestorben auf den Tischen und Bänken
umherlagen und lang über den Boden schlurften. In der Ecke ein schlechtes  Klavier,  eine  falsche  Geige,  deren  Töne  wie  Drähte durchs Zimmer schwirrten, in zackigen Takten. Des Geigers stieres Auge blinkte über der Violine; er grinste teuflisch, wenn er sah, wie die Töne die enggedrängte Schar maskenhaft bewegten. Köpfe und Schultern wogten hin und her, taumelnd. Nicht erkannte einer den andern. »Kamerad«, »Bier«, »Gib Feuer«, »Die Russen«, »Bauchschuß«, schrie es. Die Billardkugeln knallten. Einer hatte Streit, war zornig; sein Gesicht, blutrot, sah wie gespalten aus: ein Axthieb lief  bis  zur  hochgezogenen  Oberlippe.  Olaf  hockte  eng  in  einer Ecke. Verfaultes zersetzte sich in ihm, eine fahle Flamme schwelte in  seinem Innern.  Ein  Walzer  taumelte  aus  der  Musik-Ecke  auf. (»Les baisers sont fétris«, singt es in Olaf mit.) Ein Akrobat tanzte ihn auf den Händen. Berlin war weit, die große glühende Spinne.
 
Es rollte davon, weit weg, überschlug sich, zog alle Städte an seinen  Fäden  nach.  Der  Wind  stürmte  ums  Haus,  die  Musik,  das Gespräch knarrte. Alle Gesichter waren blank, teigig aufgegangen.
 
Man wußte: draußen wimmeln die Millionen. Die große Schlange im Osten und Westen windet sich unaufhörlich. Sie dreht sich um sich selbst, speit Gift. Ein Hochwald von Kanonen starrt in die Wolken.  Breite  Flüsse  von  Blut  fließen  ins  Meer;  Leicheninseln zerfallen. Hier aber hocken neue Massen Fleisch. Weiß und kalt ist der Qualm des Tabaks. Ermattung senkt sich. Man schweigt, zwei, drei Sekunden, in denen süß und leise die Bilder geliebter Frauen aus den Augen treten, die sie innen schauten. Dann wieder Lärm. Erids Antlitz zitterte groß und deutlich an der Decke. Ein Dunststreif  machte  die  Bewegung  ihrer  Schulter.  Olaf  versank. Man kroch ins feuchte Stroh. Einzelne Sterne kamen, dann wieder Regen. Nasse Mäuse über die heißen Lippen. Eine ferne Trompete, langsames Signal. Man stierte ins Dunkel. Schlief endlich ein, im grauenden Morgen, fröstelnd.
 

II
 
Ein krachendes Gewölbe, schließt die Nacht ihren schwarzen Ring um die Heere. Feurige Bänder schlingen sich über den Scheiteln der Geduckten. Schnüren den Atem der Tausende fester. Große Garben  von  Heu-  und  Leichenduft  wandern  über  die  Fluren. Versteckte kleine Feuer schwelen atemlos und ängstlich, von schmalen  Antlitzen  schattenhaft  umstellt.  Rauh  lallen  Befehle, schleichen  sich  an  den  Erdwänden  der  Schützengräben  weiter. Man flüstert, schweigt. Der Himmel aber tobt; Schollen treiben darin; er bröckelt, bricht. Stürzen nicht riesige schwarze Schalen herab, in denen, eingeschüchtert, kleine Sterne schwimmen? Das Feld  vor  den  Gräben  ist  ein  brodelnder  heißer  See.  Erdwellen  kochen, Hügel-Blasen platzen. Es wogt. Wie Geysire steigen die Granaten auf. Aus dem Bauch der Erde scheinen sie zu kommen.
 
Plötzlich schlagen die Granaten im regelmäßigen Rhythmus auf. Danse macabre! Schrapnells sprühen auseinander; alle Augen glotzen hinauf. Wozu plötzlich die Vision der Erinnerung: Feuerwerk in der Werkbundausstellung in Köln am Rhein. Feuergüsse von  der  Rheinbrücke.  Glänzende  Terrassen,  Fontänen,  blumige Frauen, Gold und die irisierenden, wollüstig den Atem verhaltenden  Takte  des Tango  argentino? Ah!  Huschen  Wolken  über  das nächtige Firmament?  Fliehen  zum  Meer?  Die  Nacht  brüllt.  Sie birst. Die Nacht ist ein klirrender Metalldeckel, der sich über den Horizont geschoben hat. Nun splittert er, und die Sonne dahinter
jubelt in rasendem Feuer. Versunkene Gesichter, lauernd über den Gewehrkolben gebeugt, grell vom Feuer bespien, ohne Ausdruck, maskenhaft. Das Blut zuckt durch den Körper. In einer Sekunde dreimal durch Auge, Herz, Beine, Hirn; es klopft. Es will heraus.
 
Da, eine irre Stimme, sich überschlagend, durch das Dickicht dieses Schweigens: »Sturm auf! Marsch – marsch!« Aus den Gräben flackern sie auf, diese verschütteten Flammengesichter; die Glieder zucken empor. Die Arme wirbeln wie Maschinenkolben. Olaf fühlt plötzlich den ganzen Mechanismus seines Körpers. Die Muskeln straffen  sich,  die  Augen  liegen  fühlbar  in  den  Höhlen;  er  fühlt die Haare wachsen, fühlt das Spiel der Sehnen in Armen, Beinen, Händen. Die Waffe ist in der Hand. Vorwärts. Die Raubtiere springen. Sie röhren. Speichel fließt aus Mund, Rotz aus Nase, Wasser aus Augen, Poren, Penis. Und das Gehirn liegt auf einer Scheibe, ja, auf einer gläsernen Scheibe, die sich rasend dreht. Es spritzt aus, nach Nord, Süd, voran, rückwärts. Zentrifugalkraft. Der Körper tobt. Ja: Blut auch, Blut muß auch spritzen! Und: links liegt das Nordmeer, Ostsee, Weißes Meer; rechts Schwarzes Meer. Sie stehn auf, die Meere, haushoch. Sie brechen ein ins Land. Auf langen Taifunbeinen stelzen sie herein. Und der Himmel nähert sich. Erschüttert  von  riesigen  dunklen  Sonnen  aus  schwarzem  Marmor. Und die Wälder biegen sich. Die Sterne baumeln in ihren Ästen. Und dort ist der Feind, die Russen. Ah! Moskau, Glocken, Schnee! »Hunde!  Freunde!  Menschen!  Tiere! Wir  Mörder!  Ihr  Mörder! Moskau! Berlin!« – »Prußki schtoi!« – »Schtoi, schtoi!« – »Hurrah, urra!« – »Heh!« – »Halt!« – »Aas!« Bajonett in den Wanst! Olaf stößt, rennt nieder, stößt, schießt mit dem Revolver. Ein Schlag gegen seine Schulter. Eine Granate zerreißt eine Gruppe Kameraden. Einer fällt ihm in die Arme, sein Halsstumpf gurgelt ihm heißes Blut ins Gesicht. Rückgrat und Hirn wird eisig, starr. Der Lärm
klingt dick und fern. Ah! Das Meer glättet sich! Er sinkt um.
 
 
III
 
Tausend  Fahnen  stürmen  in  seiner  Seele.  Die  Trikolore  flammt ihm aus den Augen. »Ah! Midinette, ich werde dich niederreiten!« Auf dem Treppenflur huschen, staubig glitzernd im Dämmer, die Gespenster  jener  grünen  und  blauen  Nächte,  die  ineinander  verkrallten Stunden romantischer Seelenfusion. Ah! Aber die Fronten stehn auf im Osten und Westen, sonnenbeglänzte Städte knattern, und ein neuer Tag stürzt aus den Zügen Tausender, deren Schritte durch die Mittag-Straßen Berlins trommeln. O strahlende Flotte auf  den  gläsernen  Meeren!  Arbeit  kracht,  wühlt,  schäumt  ringsum. Und der Tag liegt offen und spiegelt den ausgehöhlten blauen Himmel.  Schon  steht  er  im  Zimmer,  und  sie  weht  ihn  kühl  an, im grünen Schleier, und ihr Haar liegt wieder unerträglich glatt, süchtig,  und  das  Weiße  ihrer  Augen  ist  gebogner  Mond  über Traumteichen.  Fort  der  Traum!  Strahlendes  Erfassen  des  wilden, nackten,  tanzenden  Tags!  Und  seine  neue  Stimme,  blank  und ohne Hülle aufsteigend: »Liebst du mich, Erid?« – »Ich liebe dich, ich war bei dir alle Tage, ich hab mich über dich hinausgeworfen, Ole.« Doch er, hart: »Ich liebe dich, heute. Wenn du mich liebst, so verlaß deinen Mann, geh mit mir. Ich lebe im Keller, wo Sonne köstlicher Sonntag ist. Scheuche mir nachts die Ratten von der Stirn.
Wir werden aus einer Schüssel essen, mit einem Löffel, abwechselnd. Komm!« Sie zittert. »Ole!« – »Komm, meine Braut, meine Geliebte, gefunden durch die Äonen!« – »Ist dies dein Ernst, Ole? Du weißt, ich kann nicht von ihm gehen. Er …« Und Olaf, unterbrechend: »Ja. Er macht dir das Leben angenehm. Du darfst träumen, singen,schlafen. Nur eins kannst du nicht, arme Frau: lieben. Bist eine Frau  und  kannst  nicht  lieben! Komm!  Bei  mir  kannst  du  lieben. Hilf mir hungern, arbeiten, kämpfen. Wir werden das Leben bezwingen, und die Tat wird blühen, die selige Tat …« – Sie schreit auf, laut: »Ole! Sind das deine Worte? Ich kann nicht lieben? Und liebe dich, so tief, so innen, so über allem! Sprich nicht so! Ist das nicht  Liebe,  tausendmal  gefühlt,  tausendmal  genannt  von  dir!« – »Nein, Erid, nicht Liebe. Nur deren Gespenst! Sieh, wie die Städte gegen  den  Himmel  schwirren! Arbeit  ist,  Tat  ist! Nicht  Traum. Schwingendes  Außen  aus  herrlichem  Innen.  Nichts  verkriecht in sich (. . . ah, diese imitatio coitus der Seele, denkt er dabei . . .). Brausendes  Oben  aus  schweigender  Tiefe.  Und  seliges  In-Allem statt Über-Allem. Arme! Komm, ich werde dich das Leben lehren und die große Liebe (. . . Blondes Mondschäfchen, lacht sein Herz dazu . . .). Ganz mein, ganz der Welt, ganz dem Tag. Hei, wie rein die Luft geht, die Berge leuchten und die Flüsse flattern. Und die Kranen klirren. Perlende Schiffe. Und die Sonne schwirrt, jauchzender Diskus! Komm!« – »Ich kann nicht, ich … Ole … bist du Ole?« –»Neu bin ich. Komm, wir schlingen das Band. Wir fahren nach  Paris,  nach  London,  nach  St.  Petersburg,  nach  Rom,  nach New  York,  den  brüderlichen  Städten!«  Und  sie  singend:  »Nicht kenne ich dich mehr, Olaf, mein Geliebter. Sieh, ich sitze in der Laube, und der Mond wirft singende Netze. Und meine Seele ist bei dir über den Dächern der großen Stadt. Hohe Kantilene dein Schritt,  Olaf,  mein  Du,  mein  draußen  wanderndes  Herz.  Sieh, wie  die  Nacht  ausblüht  aus  meinen  Augen.  Ah,  sie  trinken  den Himmel  aus,  dich  zu  treffen.  Und  dein  letzter  Handkuß  ist  ein langsamer  Tanz  auf  diesem  Schnee  der  Hand,  Olaf.  Wir  schlafen ein zu gleicher Zeit, unsere Seele schläft ein. Wo liegen unsre Körper, getrennt oder nah oder weit? Wie sind wir verflochten, und die Welt ist eine perlende Spieluhr in unserer Brust, um die nächtliche Winde wehen …« Sie schrickt auf, das Gesicht überhell; es fällt, ein Mondstein, vom Himmel.


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Textgrundlage: "Kleine Prosa", Walter Rheiner
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