|
|
|
|
|
lifedays-seite
moment
in time
|
|
|
04.3
Walter Rheiner
KOKAIN
Novelle
V
Hier, im Schatten des Gebüschs, nahm er sein Jackett ab, legte es auf
das
Pflaster
an einen Baumstamm, krempelte den Hemdsärmel auf, der große
dunkle Blutlachen zeigte und den eigentümlichen Geruch vergossenen
Blutes
ausströmte, und nahm, mit
knirschend zusammengebissenen
Zähnen, in aller Sorgfalt und mit betonter Langsamkeit,
zwei Injektionen
vor.
Er hielt
die Flasche gegen das ferne
Laternenlicht. Sie war noch zu zwei
Dritteln
voll. Befriedigt schob er sie in die Hosentasche,
zog die andere
Flasche
hervor und wusch
den Oberarm mit Äther ab. Auch Stirn
und Hals
netzte er damit.
Die Büsche in den Vorgärten flüsterten. In der Ferne nahte eine der letzten
Straßenbahnen.
Rasch zog Tobias
sich wieder an.
Oh, nun wünschte er zu Hause zu sein,
um die Verderbnis, hinter verriegelten
und verhangenen Schlössern, ganz auszukosten. Nach seinem
möblierten
Zimmer aber, das wußte
er, konnte er nicht gehen. Die Wirtin
würde
seine Zimmertür abgeschlossen und den Schlüssel
fortgesteckt
haben, so
daß er nicht hinein können wird.
Wohin, wohin,
mein Gott, in seiner Not! Barhäuptig stand er unter den
Sternen.
Sollte er wiederum, wie öfter schon, die
ganze Nacht herumirren, um schließlich
den grauen Morgen
am Spreekanal zu finden oder an der Gasanstalt,
die
dann wie eine Faust aus den Nebeln stiege?
Der Äther mußte irgendwie die rasende Erregung
gemindert haben, die
ihn gefangenhielt. Sein Puls, das fühlte
er, ging noch fliegend, hoch, schnell.
Oder war es das Alleinsein, die Abwesenheit von Menschen, die ihm
diese relative
Ruhe gab?
Er setzte
sich in Marsch,
mit der Zähigkeit des Gift-Fanatikers, die ihn
nicht Muskeln
noch Sehnen spüren ließ. Die lange Kaiserallee hinab bis
zum Bahnhof
Wilmersdorf-Friedenau. Hier schwenkte
er seitlich ab und
stand bald vor
dem großen Mietshaus.
Hier wohnte Marion, die goldene Freundin aus dem Café, in einem großen
Atelier.
Die Haustür war verschlossen. Er pfiff einige Male und rief: »Marion, Marion!«
Vergeblich.
Sicherlich schlief sie schon.
Während er wartend
auf und ab ging und die Nachtluft aus dem freien
Vorstadtgelände ihn umwehte, begann aufs
neue der schwarze Himmel
auf ihm zu lasten.
Die Sterne tropften schwer und klebrig. Die hohen
Häuser
bedrückten ihn. Der Wind sang in den schwingenden Bogenlampen,
die ein
irres und grelles Licht umherwarfen.
Die Angst befiel ihn aufs neue. Er sah sich furchtsam um,
schlich in einen
dunklen
Winkel und verabreichte sich zwei neue Spritzen.
Ha, da schoß das Fieber, gäle Flamme, wieder in ihm auf!
Die Stirn knisterte,
die Augen wurden
weit und paralytisch aufgezerrt.
Ruhelos trat
er von einem
Bein aufs andere.
Fast hatte er schon
vergessen, was er hier wollte, als
sich Schritte dem Hause
näherten.
Ein Herr blieb vor der Haustür stehen und rasselte mit
seinen Schlüsseln.
Tobias trat
schüchtern hinzu und grüßte.
"Es öffnet niemand",
sagte er stockend, "ich soll eine Dame zu ihrer kranken
Verwandten
holen."
Der Herr ließ ihn schweigend durch die geöffnete
Tür und schloß wieder
ab.
Tobias schaltete das Minutenlicht ein und rannte
in großer Eile die Treppen
hinauf.
Plötzlich
fiel ihm ein, daß es besser sei, den Herrn erst in seine Wohnung gehen zu lassen. Er wartete. Schon im ersten Stock
öffnete der
Angekommene eine
Flurtür und trat ein.
Die
Tür fiel zu. Das
Licht erlosch. Durch die bunten Glasfenster des Treppenhauses drang
phantastisch das zitternde Licht der Laternen von unten herauf.
Tobias schlich zagend
zum vierten Stock empor, mit tödlicher Angst vor jedem
Treppenabsatz, der ihn an einer Wohnung vorbeiführte.
Oben, im vierten Stock, führte erst eine angelehnte Tür
in einen korridorartigen Vorraum mit
Lichtschalter. Im Hintergrunde war eine schwere Eisentür,
die zu Marions Atelier ging.
Wieder schalteteTobias das Licht ein. Auf das Fensterbrett des
Lichtschachtes stellte er seine Flasche und das Etui mit seiner
Injektionsspritze. Er rieb wieder die blutigen Arme mit Äther ab und
genoß eine neue Einspritzung.
Da begannen mit Macht neue
Halluzinationen.
Er
fuhr herum. Unten im Treppenhaus, im Erdgeschoß, erhoben sich
Stimmen. Stimmen vieler Menschen, die sich anschickten emporzusteigen.
Ein wirres, halblautes Geflüster. Tobias undterschied einzelne
Perioden: "Das muß endlich
aufhören ... Es ist ein Skandal ... Das Schwein ruiniert sich und seine
Angehörigen ... Ins Irrenhaus mit dem Subjekt! ... Wir werden ihn ins
Automobil schaffen ... Packen Sie ihn nur gleich! ...Und daß er nicht
die Flasche austrinkt, das bringt der Kerl fertig ..."
Tobias zitterte. Schweiß rann ihm (... oder war es Blut?). Er hörte die
Stimme seiner
Mutter, während das Licht wieder erlosch: "Tobias,
mein Sohn! Tobias, ich flehe
dich an! ... Tobias, Tobias!... Tobias ... !"
Die Stimme verhallte klagend. Tapp,tapp, tapp! Man stieg
die Treppe herauf, regelmäßig, immer näher. Das Geflüster zwischendurch
verstummte keinen Augenblick.
Sollte
er es wagen, das Licht wieder anzuzünden? ... Er tat's.
... Da lag vor ihm,
vor seinen Füßen,
leise sich noch windend,
der Körper der sterbenden Mutter.
Daneben hockte schwarz gekleidet, das Gesicht in schwarze Schleier
gehüllt, die Schwester
und weinte leise, gesenkten Hauptes.
Tobias fuhr zurück. Er wandte sich ab und preßte das heiße
Gesicht an die Wand.
weiter
oben
_________________________________
Textgrundlage: „Kokain“, Novelle,
Walter Rheiner.
Die Originalausgabe erschien mit sieben Zeichnungen von
Felixmüller im Dresdner Verlag von 1917, Dresden 1918
bookos.org
Logo
514: Editorial cartoon showing Uncle Sam bothered by
Demon Rum
and the various
monstors of drug addition which follow him.
1919,
gemeinfrei
Wikimedia
|
lifedays-seite
- moment in time |
|
|
|
|
|
|
|