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04.3
Walter Rheiner
KOKAIN
Novelle
VI
Das
Herz klopfte
wie ein Hammer an seine Schädeldecke. Nach einer Weile
wandte
er sich um. Der Spuk war verschwunden. Schnell nahm er
eine neue Spritze und begann, erst leise, dann lauter und lauter,
an die Eisentür
zu
klopfen.
Er beugte sich zum Schlüsselloch
nieder und rief »Marion! Marion!« mit
unterdrückter Stimme hinein. Zwischendurch fuhr er alle Augenblicke
herum, damit
ihn niemand rücklings ergreife.
Endlich sah er
durch das Schlüsselloch, daß drinnen Licht entstand. Ein
Schatten
bewegte sich auf dem Fußboden und näherte sich der Tür.
Eine
dünne,
verschlafene Stimme, Marions
Stimme, fragte angstvoll:
»Wer
ist da, um
Gottes willen?«
»Ich
bin's, ich, Tobias ... Marion, mach auf, ich muß hinein.«
Die Tür wurde geöffnet
und kreischte leise in den Angeln. Tobias, dem
durch die letzten, schnell aufeinanderfolgenden Einspritzungen ein wilder
Paroxysmus
im Körper wühlte, torkelte hinein.
Marion, im Nachtgewand,
stand vor ihm, eine Kerze in der Hand. Sie kannte
Tobias
und seinen Zustand, denn nicht zum ersten Male suchte er
sie in der Nacht
auf.
Sie war müde (es mochte wohl halb drei Uhr sein), aber
sie ließ ihn keinen
Mißmut merken. Wortlos legte sie ihm Decken auf ein Feldbett zurecht,
das hinter
einer spanischen Wand stand.
»Leg
dich nieder«, sagte sie, »und gib mir das Kokain.«
Sie wußte,
daß sie vergeblich um das Kokain bat und daß sie es ihm auch
nicht mit
Gewalt würde entreißen können.
Tobias schüttelte den Kopf. Er hatte die Kerze auf einen
Stuhl neben
das
Bett gestellt und hockte auf dem Bettrand, mit stieren Augen die
Freundin
anglotzend, die sich wieder niederlegte.
»Hast du die Tür gut wieder abgeschlossen?
Sind die Fenster
zu?« fragte er sie.
»Ja, ja doch!«
Er zog die Jacke
aus.
Da seufzte Marion
und wandte den Kopf ab.
In der Tat! Er bot
einen gräßlichen Anblick!
Beide Hemdsärmel waren bis zum Handgelenk herab steif und
schwarz von Blut.
Übler Geruch wehte daraus auf.
»Bitte, mach schnell«,
flüsterte Marion, »und mach keine Blutflecken in die Laken.«
Sie lag immer noch abgewandt.
Übelkeit stieg ihr auf. Plötzlich erhob sie sich und
erbrach in die Ecke des Zimmers. Sie weinte vor sich hin.
Tobias, ratlos
und verzweifelt, begann
laut zu brüllen. Er schüttelte die erhobenen
Fäuste über seinem Haupt und blickte mit weit
aufgerissenen
Augen zur Decke empor.
Marion, totenblaß, lief schnell zu ihm hin und verschloß ihm mit der Hand
den Mund.
"Stille, still",
flüsterte sie ihm ins Ohr, "es darf dich niemand
hören, sonst fliege ich
hier raus!"
Nein! Niemand
hörte diesen verzweifelten
Menschen, am wenigsten jener
gütige Vater, dessen unerbittliche schwarze Stirn vor den großen
Atelierfenstern stand, starr, unberührt,
unbeweglich!
"Komm, leg dich
hin und sei ruhig", sagte Marion, "ich möchte schlafen. Mach das Licht
aus."
Tobias entkleidete sich vollständig. Marion
schaute krampfhaft weg.
Auch
der untere Rand seines Hemdes war voll Blut von den Injektionsstichen
in beide Oberschenkel.
Es war sein einziges Hemd, das er seit drei Wochen trug;
alle
andere Wäsche hielt
seine Zimmerwirtin in Charlottenburg zurück, als Pfand für
die schuldige Miete. Er stank, sich selbst ein Abscheu, widerlich,
verhaßt.
Er stellte die Medizinflasche auf den Stuhl, legte die Spritze
zurecht, streckte
sich
unbedeckt auf das Lager aus und löschte die Kerze.
Atemlos wartete er einige Minuten und starrte regungslos
zur Decke empor,
die auf dieser Zimmerseite bis zur Hälfte
und halb zur Wand herab
aus Glas war.
Marion regte sich nicht.
Durch das Zimmer schlich, träge,
schleimig, die
Nachtzeit. Es war, als zögen sich quer durch das Atelier, von
einer Wand
zur andern hin und her, dunkle klebrige
Fäden, die einen Duft von
geronnenem Blut ausströmten vermischt
mit dem süßlichen Parfüm
des
Kokains und dem
lebhafteren des Äthers.
Es war totenstill.
Marion schien zu schlafen. Nur der Nachtwind ließ manchmal
die Scheiben der Fenster leise klirren. Tobias mahlte laut mit den
Zähnen,
wie er immer tat, wenn die Kokainvergiftung in
ein bestimmtes
Stadium
getreten war. Dabei verzerrte sich sein Gesicht,
und die
Schläfen
spielten wie Wellen.
War nicht neulich,
auf dem Alexanderplatz,
eine alte hinkende
Frau schreiend vor ihm geflüchtet, als sie dieses
fratzenschneidende Gesicht sah?
Das Denken stand ihm still. Er lag
regungslos und stierte zur Glasdecke
hinauf. Von Zeit zu Zeit gab er sich im Dunkeln
und ohne näher hinzusehen
Kokaininjektionen. Er fühlte an seinen
mißhandelten Oberschenkeln,
an den zerfetzten Ober- und Unterarmen
das Blut rinnen.
Gewiß
tropfte es auch in die Bettlaken, die zu schonen Marion ihn gebeten
hatte. Er kümmerte sich nicht
mehr darum. jetzt war er schon in einem
Grade vergiftet, daß er, fast mechanisch,
in immer kürzeren Zeitabständen
Spritzen
nehmen mußte, wie etwas
Selbstverständliches, etwa
wie Atmen oder Essen, nur um
überhaupt weiterzuexistieren.
Plötzlich wurde er auf Schatten aufmerksam, die über die Glaswände und
das halbe Glasdach des Ateliers hinglitten. Er
beobachtete sie eine Zeitlang
mißtrauisch.
Wenn er genau hinschaute, glaubte er deutlich zu sehen,
daß es die Schatten
von Menschen waren,
Köpfe, Arme, Beine, die sich da am Rand
des Daches zu
schaffen machten.
Nun drang auch schon durch das Glas ein leises Geflüster.
Tobias unterschied
drei Stimmen. Männerstimmen, die eifrig redeten.
Argwöhnisch
beobachtete er die Schatten.
Er sah, wie sie sich Werkzeuge reichten,
Hebel,
Zangen, Brecheisen, und
das Geflüster, die
leisen Ausrufe
paßten
sich genau
den Bewegungen an.
"Achtung!"
hörte er. "Eins ... zwei ...
drei ... hupp!"
Und dann ein deutliches
Knacken.
Ein Wind entstand im Zimmer, ein kalter Hauch,
der von oben zu kommen
schien.
Tobias fühlte ihn mit dem ganzen Körper.
Eine schnell sich steigernde Furcht befiel ihn. Das waren
Einbrecher! Oder
Detektive! ... Hatte nicht der Maler Ludwig M ... vom Südwestkorso,
nicht
weit von hier,
von einem Einbrecher erzählt, dem er zwischen
den Speichern
begegnet war, als er in sein Atelier gehen wollte?
Lähmende Angst
brannte ihm die Kehle aus. Er lag hier hilflos, blutend,
krank
bis auf den
Tod. Marion schlief,
ein wehrloses Mädchen. Waren
es Einbrecher so konnten die kurzen Prozeß
mit ihnen machen. Waren
es Detektive, so würden
sie beide in Schutzhaft genommen werden,
und gegen ihn, Tobias, würde man Anklage
erheben. Er würde in eine
Anstalt
kommen, jahrelang, und kein Kokain mehr erhalten.
Leise stand er
auf und rüttelte die Freundin wach; sie hatte fest geschlafen.
Erschreckt fuhr sie
auf.
"Was
ist denn? Was ist?"
Tobias deutete
flüsternd zur Glasdecke hinauf: »Siehst du? Siehst du die
Leute dort?«
lallte er.
Die Schatten
bewegten sich immer noch.
"Welche
Leute?" fragte Marion ängstlich.
"Dort, dort, die
Schatten auf dem Dache«, sagte Tobias," das sind Einbrecher
oder Geheimagenten. Um Gottes willen, was sollen wir tun, Marion?"
Marion, nun ganz
wach, schaute Tobias entsetzt in die Augen.
"Unsinn!" sagte sie. "Das sind die Schatten der Bogenlampe
von unten, von der Straße"
Tobias schüttelt den Kopf.
"Bogenlampen werfen keine Schatten", flüsterte er und
stierte verzerrten Angesichts zur Decke hinauf.
Marion
begann an seinem
Verstand zu zweifeln. Ist's schon so weit mit
ihm? dachte sie.
Eine dumpfe
Angst kroch ihr das Rückgrat
hinauf. Mit diesem Wahnsinnigen,
dem
sie ausgeliefert war,
allein in einem
schlafenden Hause!
Sie wußte sich keinen
Rat. Es galt ihn zu beruhigen. Wenn der Tag
kam, würde man weiter sehen.
Sie sprach auf ihn ein: "Natürlich doch,
das sind die Schatten der Bäume unten und der Schornsteine und Windfänge
auf dem Dach. Die Bogenlampe schwingt unten im Wind, und
das bewegt die
Schatten. Geh schlafen, leg dich nieder!"
Das leuchtete
Tobias nicht recht ein, doch beruhigte er sich ein wenig.
Er würde
wachen und beobachten.
"Wo hast du denn deinen Revolver?
Du hast doch einen kleinen Revolver,
wo ist er
denn?" fragte er.
Sie aber hütete
sich, ihm die Waffe zu geben.
"Ich weiß jetzt nicht,
wo er liegt«, sagte sie, »leg dich nur, das sind keine
Einbrecher."
Tobias beschloß, wenn Marion
schliefe, nach dem
Revolver zu suchen.
Er legte sich hin und belauerte die Schatten,
die stetig hin und her schwankten
und sich
allerhand zu reichen schienen.
Trüber
Schein fiel schon durch die Scheiben,
deren Ränder klarer und schärfer
wurden.
Der erste Streif des Morgens dämmerte auf.
weiter
oben
_________________________________
Textgrundlage: „Kokain“, Novelle,
Walter Rheiner.
Die Originalausgabe erschien mit sieben Zeichnungen von
Felixmüller im Dresdner Verlag von 1917, Dresden 1918
bookos.org
Logo
514: Editorial cartoon showing Uncle Sam bothered by
Demon Rum
and the various
monstors of drug addition which follow him.
1919,
gemeinfrei
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