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Literatur


04.3

Walter Rheiner

KOKAIN

Novelle






  VII

   Tobias hielt die Flasche empor gegen das Licht. Entsetzen befiel ihn. Es war nur noch ein ganz geringer Rest der Flüssigkeit darin, kaum einen Finger breit über dem Flaschenboden.  Ein  unnennbares Grauen  klammerte sich in seinen Nakken ... Kein Kokain mehr! ...

   Und der Tag kam herauf, der verhaßte Tag, der ihn unter die Menschen treiben würde, die alle seine Feinde sind  und  vor  denen  er  sich maßlos fürchtete. Er wand sich auf dem Lager hin und her, in dumpfer Verzweiflung. Der Kopf erhitzte sich ihm mehr und mehr in dieser Angst; eine Art heißer Wut trieb ihn dazu, noch zwei  Injektionen  zu nehmen. Den Rest der Flasche trank er aus.  Das Mundinnere war fühllos wie Sammet, wie behaart. Er fuhr mit dem Finger in den Mund, ganz tief, bis in den Schlund.
 

   Nun war die große Not da! Was sollte  er  nun  beginnen? Was war ihm die Zeit, was war ihm das Dasein ohne das Gift, nach welchem sein Körper und seine Seele schrie, nach dem sein ganzes Wesen lechzte?

   Vergessen die Furcht vor den Einbrechern oder Detektiven, erloschen  die Angst  vor  dem  Irrenhaus!  Nur  eines  erfüllte  ihn,  nur  eines brannte sein Inneres aus: der unbeugsame, unerbittliche, unwiderstehliche, dieser metaphysischunergründliche Trieb, der Wunsch nach dem Gift, das ihm Atem und Leben, Luft und Trank, Sein und Zeit bedeutete!

   Mit fieberischen Händen entzündete er die Kerze. Er wollte ganz genau nachsehen, ob wirklich nichts mehr in der Flasche war. Er hatte sie zwar eben, in dieser Minute noch, ausgetrunken, aber sein Wunsch siegte sinnlos über die Logik, es konnte, ja es konnte sein, daß noch ein wenig in der Flasche war! Oder, vielleicht hatte er am Abend zwei Flaschen gekauft, ohne bis jetzt daran zu denken? 
Oder vom letzten Male stand hier im Zimmer irgendwo noch eine verborgen?

   Er hielt die Flasche gegen das Kerzenlicht. Nein, nein, nein! Nichts
darin! Er stülpte sie um, er reckte tief die Zunge in den Flaschenhals hinein. Nichts darin!

   Da war's wie ein ferner  Donner,  der  das  Zimmer  umfah, und ein Leuchten drang rötlich durch die Fenster. Der Tag quoll mächtig empor und grollte ihm dumpf.

   Er stieg vom Bett und suchte, auf den Knien rutschend, sich mit seinem Blut, das in dicken Tropfen auf dem Fußboden vor dem Bette lag, besudelnd, das Zimmer ab. Er traute nicht der Kraft seiner Augen. Er betastete jeden Gegenstand, nahm ihn in die Hand und hielt ihn dicht vor die Augen. Konnte das nicht eine Kokainflasche sein? Wer sagte ihm, daß ihn seine Augen nicht trogen? War das, was wie ein Pantoffel aussah, wirklich ein Pantoffel, nichts anderes? Wer konnte es wissen?

   Ach, soviel er auch suchte, er fand nichts.

   Im untersten Fach der Kommode fiel ihm, als er auf dem Bauche herumrutschte, der Revolver in die Hände und eine Anzahl Patronen, die dabeilagen. Er legte beides auf einen Stuhl.
Aber die Schatten waren fort.


   Lieblich strahlten die Fenster in zartem Rosa, aus dem sich der junge Sommertag erhob, klar und ruhig, in majestätischer Grße. Hei, da pfiffen die lieben Vögleich wieder und lärmten im Licht.


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Textgrundlage: „Kokain“, Novelle, Walter Rheiner.
Die Originalausgabe erschien mit sieben Zeichnungen von
Felixmüller im Dresdner Verlag von 1917, Dresden 1918

bookos.org 

Logo 514: Editorial cartoon showing Uncle Sam bothered by
Demon Rum and the various monstors of drug addition which follow him.
1919, gemeinfrei
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