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04.3
Walter Rheiner
KOKAIN
Novelle
VIII
Tobias richtete
sich auf und wandte sich dem Fenster zu. Sprachlos
stand
er in dem gewaltsamen Licht, das sich im Osten gebar
und auf ihn hereinbrach, auf diesen geschändeten, blutig zerfetzten Körper,
der sich ihm unbewußt hingab wie einem
himmlischen Bade.
Tobias
öffnete
das Fenster und erschauerte unter dem frischen Hauch, der
ihn traf.
Marion, der goldene Engel, schlief fest.
Tobias ging in das
Badezimmer
nebenan
und ließ warmes Wasser in die Wanne laufen. Er wusch seine
Wunden und den ganzen Leib, der hie und da nervös zuckte unter der
Berührung
seiner Hände. Dann
hüllte er sich in sein blutiges Hemd
und
kleidete sich
an. Die kleine Weckuhr zeigte fast sieben Uhr.
Er trat an Marions Bett und schaute lange die Schlafende an. Schließlich
beugte
er sich nieder und küßte sie auf die Stirn.
Sie
erwachte.
"Marion",
sagte er, ich muß
gehen. "Hast du ein Stückchen Brot da?
Mich
hungert."
"Bleib
hier", sagte sie, "ich werde aufstehen und etwas kochen."
Er
trat zurück, hinter
den Wandschirm, und setzte
sich auf sein Lager.
Große Blutflecken waren im Kopfkissen und in den Laken, die ganz zerknüllt
über das Bett und den Fußboden verstreut
lagen. Auf dem Stuhl
neben
dem Bett fand Tobias noch den Revolver. Er lud die sechs
Lager
der Trommel
und steckte den Revolver zu sich.
Er war ganz ruhig geworden und unendlich müde. Marion hatte sich
angezogen und war ins Badezimmer gegangen, um die Suppe auf dem Gasofen
anzurichten.
Tobias starrte wortlos durchs Fenster in das Brachfeld der Vorstadt
hinab.
Hier wurde noch gebaut. Grundstücke mit Drahtgittern
umhegt und mit schmutzigem Gras bewachsen, lagen da. Asphaltierte
Straßen, in denen noch keine Häuser standen, kreuzten sich und liefen
geruhsam im Glanz der Morgensonne hin. Vögel
sangen mild. Ein
tiefes Blau stand am Himmel und sandte linden Hauch. Schäfchenwolken
wanderten langsam im Azur.
Marion brachte die Suppe, die dick und nahrhaft
war und
ihm wohl mundete. Einige Scheiben trockenen Brotes, die sie ihm gab, aß
er dazu. Wie immer, nachdem die magennervenlähmende Wirkung des Giftes
aufhörte, regte sich ein mächtiger Hunger und Durst. Er aß zwei Teller
der Suppe aus.
Marion war freundlich und gut und plauderte mit ihm. Sie
bat ihn nicht, vom Kokain zu lassen. Sie wußte, daß es vergebens war.
In
ihm war eine große Dankbarkeit für dies milde Geschöpf, das
einzige,
das ihn nicht
verstieß, ihn, den Paria ohne Freunde,
den jedes Haus ausspie
wie einen
eklen Auswurf.
"Hast
du Geld?"
fragte sie ihn.
Er
schüttelte stumm
den Kopf.
"Ich habe noch
eine Mark, davon kann ich dir fünfzig Pfennige geben. Und hier: Speisemarken für die Volksküche."
Sie gab es ihm.
Da legte er den
Kopf auf den Tischrand und begann zu weinen.
Ein tiefes Schluchzen brach aus ihm hervor. Er ergriff die gute
Mädchenhand und legte sein irres Antlitz hinein. Tränen netzten sie.
Marion strich ihm leise übers Haar: "Armer Tobias."
weiter
oben
_________________________________
Textgrundlage: „Kokain“, Novelle,
Walter Rheiner.
Die Originalausgabe erschien mit sieben Zeichnungen von
Felixmüller im Dresdner Verlag von 1917, Dresden 1918
bookos.org
Logo
514: Editorial cartoon showing Uncle Sam bothered by
Demon Rum
and the various
monstors of drug addition which follow him.
1919,
gemeinfrei
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