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04.3
Geschichten
Emil Verhaeren
Fünf Erzählungen
Der Gasthof zum
sanften Tod
Sie
starben am selben Tage,
ganz plötzlich, der eine im Keller, der andere auf dem Dachboden des
Gasthofes
„Zum sanften Tod". Das alte Haus hatte seinerzeit alle Pilger
beherbergt,
die aus Flandern herbeizogen, „Unsere liebe Frau zur Letzten Stund"
anzuflehen. Während zweier Jahrhunderte ward die Jungfrau hier
beschworen.
Kriege stürzten ihr Standbild. Ihre Kapelle wurde zerstört, der Gasthof
blieb
bestehen.
Die
Leute aus Weerd, aus Tibrode und Tamise kamen des Sonntags hin, ihren
Schoppen zu
trinken.
Große
kupferne Töpfe verbreiteten helle Reinlichkeit, und dieser Anblick von
Sauberkeit
und Kälte wurde noch erhöht durch die Schweigsamkeit einiger spärlicher
Trinker,
die wortlos und ernst einander anpafften. Sie hielten ihre
holländischen Pfeifen
zwischen den Fingern und spuckten in hölzerne Eimer. Wenn einer von
ihnen mit dem
Pfeifenkopf auf seinen Krug klopfte, stand Saft, der jüngere der beiden
Brüder,
auf und stieg in den Keller hinab, um das geleerte Glas wieder zu
füllen. Hatte
er es zurückgebracht, so setzte er sich hin und wurde wieder ganz starr
und stumm.
Die massive, sargartige Uhr, hinter deren Glasscheibe das bezifferte
Antlitz der
Stunden hervorlugte, tickte unentwegt ihre gleichmäßigen Silben.
Die
Sonntage ausgenommen, kam niemand hierher außer der alten
unverwüstlichen Mie Bergman,
deren geräuschvolle Geschäftigkeit das Haus um und um stöberte und
räumte.
Ach,
dieser Gasthof „Zum
sanften Tod": im Winter brütete er im Nebel, dicht an den Dämmen, die
so
klebrig waren wie Schmierseife; im Sommer lagerte vor seinem grauen Tor
der
beständige Schatten einer Taxusallee, die zur ehemaligen Kapelle
führte.
Zu
Lebzeiten der Eltern wollte der ältere der beiden Brüder, Adriaen,
fortziehen, um Priester zu werden. Er besaß einen nüchternen und
zielbewußten
Willen, dabei war er von schnüfflerischer und strenger Frömmigkeit.
Eine
Befürchtung aber hatte ihn zurückgehalten: der jüngere würde sich den
Vater langsam
erobert haben, Tag um Tag, Stunde für Stunde, und hätte schließlich ihn
verdrängt, ihn, der unbedingt der zukünftige Besitzer sein wollte. Saft
war
übrigens ein Fels von Eigensinn. Wenn er so dastand, schien er an die
Erde
festgenagelt. Seine Augen? Waren sie nicht stumpf wie Holz !
Nach dem Leichenbegängnis
des Vaters, als sie sich zum erstenmal allein zu Tische setzten, machte
Adriaen, der den Platz des Verstorbenen eingenommen hatte, das Zeichen
des
Kreuzes und sagte das Vaterunser; Saft fügte das Ave- Maria hinzu. Dann
sprachen sie nichts mehr. Nach beendeter Mahlzeit enteilte Adriaen zum
Mesner.
Saft, einen Korb auf der Schulter, begab sich in den Gemüsegarten, den
sie an
der Landstraße besaßen. Sie änderten in keiner Weise ihre eintönigen
Gewohnheiten.
Zu gleich früher Stunde ging ein jeder von ihnen auf verschiedenen
Wegen zur
Kirche. Gesondert kamen sie zurück. Zu Mittag setzten sie sich stumm
und
einsilbig an den selben Tisch, dann trennten sie sich, erleichtert,
nicht mehr
zusammen sein zu müssen.
In
Safts Garten sprossen
Pflanzen und Früchte willkürlich durcheinander, obwohl er, den Sonntag
ausgenommen, all seine Nachmittagsstunden dort verbrachte. Das
Grundstück war
breit und von wilden Hecken umzäunt. Zuweilen sah man den Kopf des
riesigen und
ungeschlachten Gärtners aus einem Bündel trockenen Laubes auftauchen,
das er
auf seine Schultern geladen und quer auf den Weg trug,
um damit eine rote und riesige Glut zu entfachen. Wenn er mit der
Schaufel hantierte, machte es den Eindruck, als wollte er totschlagen
oder
begraben. In der Nähe des Düngerhaufens hatte er einen Verschlag
eingerichtet.
Auf den Brettern reihte sich ehrsam eine ganze Familie von Zwiebeln und
Linsen.
Unter einer Falltüre verbarg er Wacholderschnaps, den er gelegentlich
von
Schmugglern kaufte.
Dies
war sein Laster: sich hier fern von allen
im Versteck zu betrinken. Sobald die Sonne untergegangen war, strich er
durchs
Land. Er hieb längs der Wege die jungen Bäume ab, riß Bretter aus den
Stegen.
Eines Nachts warf er einen ganzen Haufen Tollkirschen in einen
Ziehbrunnen.
Adriaen
lehrte die
Chorknaben Hymnen und Psalmen. Seine steifen Finger bearbeiteten das
alte
Klavier der Pfarre. Er zwang sie, die hohen Noten so lang anzuhalten,
bis ihnen
der Atem verging. Oh! Qual und Krampf aus den Kehlen der kleinen Jungen
zu
pressen! Er peinigte sie im Namen der Heiligen und der Jungfrau bis zu
dem
Augenblick, wo er sie zur Belohnung mit unsanften Liebkosungen
berührte. Sein
schiefklaffender Mund und seine gelben viereckigen Zähne flößten Furcht
ein.
Manches
Mal begab er sich ans Ende des Dorfes zu einer widerlichen,
eigensinnigen Betschwester, deren Reize vorsindflutlich waren und die
er mit
seinem Liebeseifer belästigte. Er hatte ihr eine Verkaufsbude für
Wallfahrtsandenken eingerichtet. In Gesellschaft der kleinen Heiligen
aus
bemaltem Biskuit besprachen sie nebeneinander sitzend ihre
Andachtsübungen, bis
der Abend hereinbrach. Ihre Abschiedsbezeugungen im Dunkeln erschienen
ungeheuerlich.
Eines
Tages kehrte Saft zu Mittag nicht heim. Adriaen kam allein nach Hause.
Sie nahmen die Gewohnheit an, einander während der Mahlzeiten zu
fliehen und
jeder für sich Küche zu führen.
Die
alte Mie Bergman regte sich darüber nicht wenig auf. Adriaen gebrauchte
die
Ausrede, andere Gerichte zu lieben. Bald vermieden sie auch, einander
im Flur zu
begegnen. Sie belauerten, bewachten einander hinter den Türen. Bevor
sie
ausgingen, wartete der eine, bis der andere verschwunden war. Sie
richteten
sich zwei Speisekammern ein. Saft hinterlegte in einem gemeinsamen
Kasten die
Gemüse, Adriaen das Pökelfleisch. Danach nahm jeder seinen Teil und
versteckte
ihn.
Eines
Abends kollerte Saft,
als er im trunkenen Zustand heimkam, in den Schlamm der Schelde. Er
geriet so
tief hinein, daß die Fischer, die nachts auswärts waren, zu seiner
Hilfe
herbeiruderten. Man zog ihn, völlig mit Lehm überkrustet, die Hände
beschmutzt,
den Mund voll Schlamm, heraus. Beinahe wäre er erstickt.
Adriaen
wurde benachrichtigt. Er beschloß einzugreifen. Aber das
Schweigen
zwischen ihnen, und sei es auch nur durch ein Schimpfwort, zu brechen,
hätte
einen Sieg für seinen Bruder bedeutet. Sie hatten außerdem zwischen
sich so
große Flächen des Schweigens gebreitet, daß, wenn sie sich so von einem
Ende
zum anderen herüber beschimpft hätten, ihre Worte nicht
hinübergedrungen wären.
Als
Mie Bergman am Sonntag kam, das Kupfer zu putzen, übergab ihr Adriaen
ein
Schriftstück, sie möge es Saft in den Garten hintragen. Saft las es mit
zusammengepreßten Lippen. Er wurde wütend, fluchte, wollte zu seinem
Bruder
stürzen, ihn erwürgen und ihm gleichzeitig seinen Zorn ins Gesicht
speien.
Plötzlich hielt er inne: auch er wollte nicht derjenige sein, der die
harten
Wände von Eis und Stahl zwischen ihnen zerbrach. Er steckte den Brief
zu sich.
Er würde schriftlich antworten.
So
schrieben sie einander Monate hindurch ihren Groll und Zorn, jeder die
Worte
suchend, die schließlich am sichersten die Geduld und den Starrsinn des
anderen
brechen würden.
Auch
Adriaen ward mit Schande gezeichnet. Die Reliquienverkäuferin warf ihn
hinaus, hetzte die Leute auf, bezichtigte ihn der Unverschämtheit,
schrie ihm
am hellichten Tage ihre Verachtung durch das Fenster nach. Man
vertraute die
Chorknaben dem Mesner an. Im Dorf
begann man sich zu entrüsten. Die Briefe Safts wurden immer
verächtlicher. Als
Adriaen einen von ihnen öffnete, wurden seine Finger übelriechend von
der
Unreinlichkeit, die er enthielt.
Mie
Bergman beobachtete die beiden erschreckt.
Unendlich lange Nachmittage hindurch hatte sich Adriaen aufs
Holzspalten
verlegt. Nach einer bestimmten Methode arbeitete er düster vor sich
hin. Wenn
die Dienerin vorbeikam, sah er sie mit so kaltem, scharfem Blicke an,
daß sie —
die einzige Seele auf Erden, die ihn noch ein wenig liebhalte —
plötzlich ein
Schrecken durchfuhr, er könne ihr, lediglich aus Grausamkeit, die armen
alten
Arbeiterinnenhände abhacken. Abends, bei Kerzenschein am Herde sitzend,
gedachte sie der glanzvollen Vergangenheit des Gasthauses „Zum sanften
Tod". Kaum fünfzehnjährig war sie da eingetreten. Vier Mägde füllten
die
Küche; sie salzten Würste und Speck, sie schnitten belegte Brote für
ein Heer
von Pilgern. Damals lebte die Mutter Gottes blumengeschmückt in ihrer
silbernen
Nische. Ihr Mantel war mit der Geschichte des heiligen Amandus und des
heiligen
Georg bestickt. In einem Jahr heimste damals Adriaens und Safts Vater
tausend
Taler und dreihundert Brabanter ein. Sie hatte sie eines Abends wie
goldene
Makronen auf dem Tische aufgereiht gesehen.
War
es möglich, o Gott, daß jetzt sie allein und nur einmal in der Woche in
dem
alten Herd das Feuer entzündete? An den Wänden der Küche schimmelten
feuchte
Flecke. Leer gähnten die Kästen. Die Steinfliesen hoben sich und
borsten. Die
Löcher der zerbrochenen Fensterscheiben waren mit firnisbestrichenem
Papier
verstopft, das den Wind einließ. Und im riesigen, ausgestorbenen Hause
irrten
Adriaen und Saft, die Herren, wie zwei wütende Hunde umher.
Eines
Sonntags stellten die altgewohnten Gäste des „Sanften Tod" ihr
Kommen ein. Sie ließen ihre Pfeifen abholen. Das Kupfer der Geräte
wurde matt,
und die Pendeluhr tickte fortan nur für die verlassenen einfarbig
weißen
Mauern. Der letzte Zwang, der sie genötigt hatte einander gegenüber zu
sitzen,
war nun den beiden Brüdern erspart.
Eis
kam so weit, daß sie das Geräusch, das der andere im Hause verursachte,
haßten. Wenn
Adriaen sein Holz spaltete, begann Saft, nur um den Lärm der Hacke zu
übertönen, Nägel in die Wände zu schlagen. Es regte sie auf, ihre
Schritte, ihr
Husten zu hören, ihre Anwesenheit, die sich bald da, bald dort regte,
zu
fühlen, besonders des Nachts, wenn sie in den benachbarten Zimmern
schnarchten.
Der eine floh auf den Dachboden, der andere in den Keller, um dort zu
schlafen.
Eines
Morgens vergaß Adriaen die Läden zu öffnen. Als Saft ausging, dachte
er:
So wird das Haus sich ausnehmen, wenn Adriaen nicht mehr darin sein
wird.
Adriaen hatte, als er heimkehrte, denselben Gedanken in bezug auf
seinen
Bruder.
Die
alte Mie Bergman wurde krank und kauerte in einem Lehnstuhl. Nun wurden
sie
gewahr, daß sie allein noch die Reste ihrer Wirtschaft zusammenhielt.
Ihr Haß
verlor den Zuschauer, seinen notwendigen Zeugen. Sie mußten miteinander
sprechen oder einander töten.
Saft
mengte dem Gemüse einige Schierlingblätter bei; Adriaen verbarg am
Grunde
des Zuckerstreuers Arsenik.
Dies
geschah am selben Tage, zur selben Mahlzeit. Dann, irgendwie ihr
gegenseitiges Verbrechen ahnend, und dennoch hartnäckig in ihrem
endgültigen
Schweigen verharrend, zog jeder von ihnen sich zurück, um zu verrecken,
der
eine oben, der andere unten in den entgegengesetzten Enden des
Gasthauses „Zum
sanften Tod".
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