Mein Leben bis zum Krieg
(Erstdruck Berlin - Ernst Rowohlt 1931)
In der Volksschule
Wenn
ich träume, dann immer Schlimmes, das heißt Beängstigendes, Quälendes.
Trostlos
und hilflos erlebe ich in dem Zustand unlogische, peinvolle
Situationen.
Meistens leide ich darin als Soldat unter Vorgesetzten oder als Schüler
unter
Lehrern.
Mein
erster Schultag – in der Vierten Bürgerschule in Leipzig – war durch
eine
übliche große Zuckertüte versüßt. Der zählt also nicht mit.
Ich
lernte das Abc und »Summ summ summ, Bienchen summ herum« und anderes
Fundamentales. Aber ich lernte gewiss nicht leicht. Denn bald bekam ich
Nachhilfestunden bei einem Lehrer, dem ich im Vorzimmer gebogene
Stecknadeln
ins Ledersofa einbohrte. Allerdings mehr, um einem zweiten
Nachhilfebedürftigen
zu imponieren, als um den Lehrer zu schädigen.
Wie
abscheulich fasst sich Kreide an! Wie hässlich nimmt sie sich, trocken
verwischt, auf einem schwarzen Brett aus. Wie stechend empörend kann
ein
Schieferstift auf einer Schiefertafel quietschen.
Aber
ein Schwamm ist schön. Wenn er nass, richtig nass ist. Und noch schöner
ist
eine dunkle Schwammdose aus poliertem Holz, zumal sie sich zu hundert
nicht
aufoktroyierten Spielereien verwenden lässt. Wundersam sind alte,
abgenutzte
Schulpulte. Ihre Maserung, ihre Tintenflecke und Astlöcher gaben mir
die erste,
vielleicht einschneidendste Anregung zu meinen Malerei betreffenden
Wünschen.
Imposant ist ein neuer Schulranzen aus Seehundsfell. Dass die, die sich
an ihn
gewöhnen und ihn gar tragen müssen, seine Vorzüge allmählich vergessen
und ihn
gelegentlich ohne Bedenken als Wurfgeschoss benutzen, das bestätigt ein
natürliches Gesetz.
Schwer
ist das Einleben in Pünktlichkeit. Bedrückend ist jede ungütige,
unbegriffene
Überlegenheit. Und hässlich, niederträchtig ist ein Rohrstock, wenn er
sadistisch einwillig oder kleinhirnig jähzornig als Strafmittel
gebraucht wird. Uns
schlug man damals in gewissen Fällen mit dem Lineal auf die spitz
hinzuhaltenden Fingernägel. Tat schauderhaft weh.
Beneidenswert,
nie wiederkommend ist der rechenkunstlose, schnell vergessende,
unbesonnen
zugreifende, frei naschende Taumel unserer jüngsten Gehzeit und
Lernzeit.
Schon
in der Bürgerschule wurden wir Kleinen in Klassen-, Rassen- und
Massenkämpfe
verwickelt. Schulen fochten gegen Schulen. Kinder einer Gegend schlugen
sich
mit solchen einer andern Gegend.
Einmal
raste ich, von einer Überzahl roher, steinewerfender Feinde verfolgt,
atemlos
durch die Waldstraße. Ich prallte dabei gegen einen Erwachsenen, der
dort mit
einem anderen Herrn im Gespräch stand, mich nun erschreckt auffing und
gleich
erkannte. Es war ein Lehrer, nicht meiner, aber an meiner Schule.
Außerdem
schriftstellerte er, wie ich von meinem Vater mit Interesse vernommen
hatte.
Als ich befragt von meiner Flucht und meinen Verfolgern erzählte,
streichelte
er mich und sagte etwas zu seinem Bekannten, worin die Worte vorkamen
»Da läuft
solch Kind wie ein gehetztes Reh«.
oben
Gymnasium I
Ich
kam auf das Königliche Staatsgymnasium, wo mein Bruder bereits eine
höhere
Klasse besuchte. Nicht lange hielt die Freude über eine grüne Mütze mit
silberner Litze an. Das große, ernste Schulgebäude und der finstere
Rektor im
zerknitterten Frack flößten mir gleicherweise Schrecken ein. Nun brach
das grausige
Latein über mich herein; und andere Fächer, vorgetragen, eingepaukt und
abgefragt von respektfordernden Dunkelmenschen, vor denen mein Herz
sich von
Anfang an verschloss. Der einzige interessante Mann schien mir der
Turnlehrer Dr. Gasch.
Weil er eine Nase aus Hühnerfleisch hatte, von einem Duell her.
Unter den Mitschülern lernte ich gute und lustige
Kameraden kennen, mit denen ich Fußball spielte, Tauschgeschäfte
betrieb oder
gegen die Zöglinge des Thomasgymnasiums zu Felde zog.
Damals trug ich lange blonde Locken. Da ich mit
einem
dunklen Sammetanzug und weißem Spitzenkragen bekleidet war, sah
ich wohl recht nett aus. Aber wegen der langen
Haare wurde ich oft gehänselt. Man zog mich im Scherz und im Ernst
daran.
Schließlich legten die Lehrer meinen Eltern nahe, mir diese auffallende
und
unmännliche Schönheit kürzen zu lassen, was denn auch zu meiner
Befriedigung
geschah.
Ach, das Lernen fiel so schwer. Draußen gab es
Schlittschuhbahnen
und im Sommer eine moderne, freie Schwimmanstalt. Dort konnte man von
hohen und
höheren Sprungbrettern, sogar von einer Schaukel abspringen. Oder man
ließ sich
auf dem heißen Asphalt von der Sonne bräunen. Wenn man dazu sich ein
Blatt auf
die Brust legte und es stundenlang in Geduld ertrug, dann hatte man
hinterher
auf der dunklen Haut ein helles Muster. Herr Wallwitz, mein
Schwimmlehrer,
packte mich rauh und norddeutsch an. Er stieß mich, wenn ich nicht
springen
wollte, ohne weiteres ins Wasser. Und ließ mein Mut nach, so gab er die
Leine
locker, dass ich tüchtig Wasser schluckte und spuckte und verwirrte
mich
nachher noch durch seinen kühlen, treffsicheren Spott.
Dem Restaurateur der Schwimmanstalt durfte ich an
Hochbetriebstagen beim Verkaufen von Würstchen helfen. Dabei entwendete
ich
einmal Kleingeld aus der Kasse. Das wurde nie entdeckt und betraf auch
nur eine
Wenigkeit. Aber mein Gewissen blieb lange davon bedrückt.
Ich schaute einer Feuersbrunst zu. Mehrere
Lagerschuppen
brannten lichterloh. Ursache war: Das Stroh von Eierkisten hatte sich
entzündet.
Die Menschenmenge, in der ich stand, war nur
durch ein
schmales Flüsschen von dem Brandherd getrennt. Wir sahen, wie drüben
Arbeiter
die Gelegenheit benutzten, um sich Eier beiseite zu schaffen. Als ihnen
das
nicht mehr möglich war, fingen sie an, die rohen Eier über das
Flüsschen auf
uns Neugierige zu werfen. Jeder Treffer gab selbstverständlich großes
Hallo.
Aber wir blieben alle tapfer stehen. Wen's trifft, den trifft's. Es war
wie in
einer Schlacht.
Ich schrieb eine kleine Humoreske in sächsischem
Dialekt,
»Änne Heringsgeschichte«. Vermutlich überfeilte mein Vater die Sache
noch
etwas. Die »Fliegenden Blätter« oder die »Meggendorfer Blätter«
druckten das
Dichtwerk und zahlten zwanzig Mark dafür.
Das war meine erste Publikation und war mein
erstes
Honorar.
Die Stunden im Gymnasium vergingen so unsagbar
freudlos, langsam. Trotzdem ich eine Fülle von
Unter-der-Bank-Spielen ersann und hinter dem Rucken des Vordermanns
stets eine
Sonderbeschäftigung oder Privatlektüre hatte. Mein liebstes Buch war
»Der
Waldläufer«.
Ich stibitzte meinem Nachbarn das Frühstücksbrot,
eine
Klappstulle. Zwischen die beiden Brothälften legte ich Papier, das ich
dann, so
weit es überragte, abschnitt. Worauf ich das Brot zurücklegte, um mich
in der
Pause zu amüsieren, wenn jener Junge sich während des Kauens
Papierstücke aus
dem Munde zog.
Keines der Lehrfächer regte mich an. Ich war in
allen
schlecht. Sogar im deutschen Aufsatz, für den ich durch meinen
schriftstellernden Vater mehr mitbekommen hatte als die andern Knaben.
Im
Zeichnen versagte ich völlig. Ich brachte es nicht fertig, ein
einigermaßen
sauberes Quadrat zu zeichnen. Fortan durfte ich die allgemeinen
Zeichenübungen
nicht mehr mitmachen, sondern musste mich wahrend des Unterrichts
unbeteiligt
auf eine Sonderbank setzen, wo es mir überlassen blieb, einen
hässlichen
Gipsdackel abzuzeichnen. Hundertmal habe ich ihn gezeichnet. Er wurde
immer
unkenntlicher.
Auch der Gesangslehrer wusste nichts mit mir
anzufangen.
Denn ich hatte mir an dem Tage des Tauchaschen Jahrmarktes als halb
nackter
Gassensioux den Kehlkopf ein für allemal kaputt geschrien. – Es kam
vor, dass
Schüler aus den elterlichen Garten Strauße mitbrachten und einem Lehrer
überreichten. Um meinen Musikdirektor zu versöhnen, brachte ich auch
ihm einmal
ein Bukett mit, das ich unterwegs eilig in den städtischen Anlagen
gepflückt
hatte. Da es aber nach der weit herbstlichen Jahreszeit nur aus
blütenlosen
Strauchzweigen und kahlen Kräutern bestand, warf es der Lehrer aus dem
Fenster,
verprügelte mich noch einmal, und von da an war ich vom
Gesangunterricht
dispensiert, bekam allerdings durch ein Versehen in den
Jahreszeugnissen immer
eine 1 in diesem Fach.
Auf dem Fleischerplatz standen zur Zeit der Messe
aufregende Schaubuden. Hinter einem Gitter sah man einen Gefangenen in
Ketten,
der unermüdlich eine Tretmühle bewegte. Unter einem zähnefletschenden
Baren hob
und senkte sich der zerfleischte Busen einer Frau. Eine Portion Eis mit
Pappteller und Blechlöffel kostete fünf Pfennige. Türkischer Honig war
noch
preiswerter. Auf dem Karussell galt es, im Vorbeifahren nach einem
vorgehaltenen Ring zu haschen, der eine Freifahrt garantierte.
In der Schule war's trostlos. Schönschrift und
Orthografie
brachten mich zur Verzweiflung. Kein Lehrer mochte mich leiden. Meine
Hefte
waren schmierig. Glaubte ich mich unbeobachtet, so trieb ich Allotria.
In den
Pausen war ich nicht zu bändigen. Ich wurde verpetzt oder erwischt und
immer
wieder bestraft. Strafarbeiten, Nachsitzen, Arrest, schließlich Karzer.
– Immer
neue Lügen erfand ich, um den Eltern das zu verbergen und mein
verspätetes
Heimkommen zu rechtfertigen. Aber direkte Briefe oder persönliche
Rücksprachen
brachten alles an den Tag, und die halbjährlichen Zensuren klagten in
einer
düsteren Sprache.
»Leider mussten wir sogar einem der Schüler im
Betragen eine Fünf erteilen « sagte der Rektor in seiner feierlichen
Aktusrede
zu Ostern. Ich hatte der Rede nicht zugehört, aber als der Rex an jene
Bemerkung meinen Namen knüpfte und in der Totenstille der Aula sich auf
einmal
ein paar hundert Menschen nach mir umsahen, versteckte ich schnell und
verlegen
etwas, worin ich gelesen hatte. Die Fünf im Betragen konnte auf
irgendein
ehrenrühriges Vergehen deuten. Man beglaubigte mir, dass zwar so etwas
nicht
vorläge, dass aber die Unsumme von kleinen Untaten und .....
Mich drückte immer ein schlechtes Gewissen, wenn
ich zur
Schule ging oder von der Schule kam. An einem Winter Mittag hatte ich
mit
anderen Schülern eine Strafstunde absolviert und verließ das Gymnasium.
Neben
mir lief mein auch betroffener Freund Martin Fischer die Treppe hinab.
Vor der
Schule war der schmutzige Schnee zu hohen Haufen zusammengeschaufelt.
Fischer
und ich schwiegen, uns war nicht wohl zumut. Aber unverabredet stürzten
wir
uns, unten angelangt, beide gleichzeitig mit dem Kopf voran in einen
Schneehaufen. Als wir mit Schnee und Dreck bedeckt wieder auftauchten,
ergab
sich eine lustige Erklärung. Unabhängig voneinander waren wir beide auf
denselben Gedanken verfallen: zu Hause lieber sagen
»Schneeballschlacht« als
»Nachsitzen müssen«.
Meine Eltern hatten inzwischen die Wohnung an der
Alten
Elster aufgegeben und hübsche Parterreräume in der Poniatowskistraße
gemietet.
Eine Glasveranda gehörte dazu und ein Garten mit einem Springbrunnen.
Ein Springbrunnen war immer schön, bleibt immer
schön,
für Kinder in der Stadt eine unerschöpfliche Quelle der Unterhaltung.
Zwei hohe
Kastanien standen im Garten. Die eine musste
abgesägt werden, weil sie zu viel Licht wegnahm.
Es war ein aufregendes Schauspiel, als sie stürzte und dabei mit den
äußersten
Ausläufern ihrer Krone unsere Fenster streifte. – In den Türrahmen der
Gartenlaube hängten wir eine Hängematte als Schaukel auf. Ich verhakte
mich mit
den Zähnen darin, als ich meiner Schwester im Haschen nachlief. Meine
Vorderzähne standen nach oben. Aber der Zahnarzt renkte das schnell
wieder ein.
Ich war ja so jung. – Einen schattigen, armseligen Winkel neben der
Verandatreppe überließ man mir auf meine Bitte als Privatbeet. Selbst
der Efeu
gedieh dort nur spärlich, und trotz aller Mühe brachte ich nicht mehr
als eine
Kartoffel zum Keimen. – Auch meine tiefen Grabungen dort nach
verborgenen
Schätzen und Altertümern blieben ohne Erfolg. Es war ein geheimnisvoll
lockender Trieb in mir, etwas zu entdecken, etwas zu erfinden, etwas zu
finden.
Mitunter fand ich auch etwas, ein Goldkettchen,
andermal
einen Spazierstock. Einmal sogar einen zusammengerollten Teppich. Der
war aber
so groß und schwer, dass ich ihn nur mit Hilfe von zwei Kameraden
keuchend nach
Hause brachte. Und dann setzte Mutter zu meiner höchsten und ehrlichen
Entrüstung durch, dass wir dieses wertvolle Stück wieder nach dem
Hofdurchgang
zurückschleppten, wo ich es gefunden hatte.
Joachim Ringelnatz
(Rechtschreibung der heutigen Schreibweise
angepasst)
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Bild : Herbstbaum im Winter, Schiele Egon - EJ:
1912,
Sammlung Leopold, Wien - Gemeinfrei
zeno.org
Geschichte:
Joachim Ringelnatz - Mein Leben
bis zum Krieg
Joachim
Ringelnatz: Das Gesamtwerk
in sieben Bänden. Band 6:
Mein Leben bis zum Kriege, Zürich 1994, S.
5-8. Gemeinfrei
Volksschule
Gymnasium
Bild 1:
Ringelnatz-Porträt, gemeinfrei
wikimedia
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