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04.2
Literarische
Epochen
Verzeichnis der
literarischen Epochen
Klassische Moderne
Ein
Deutschland!
Von
Theobald Tiger
Feierlich
treten wir nunmehr in das Jahr 1919,
und
es freut uns, daß wir allhier versammelt Feind und Freund sehn;
unserm
tierischen Gehaben entsprechend wollen wir sie beschnuppern und
betrachten,
und,
je nachdem, beißen oder auf den Popo klapsen oder schweigend achten.
Wie
ist das zunächst mit Oberschlesien?
Sind
da die Herren Schwarzröcke im Spiel gewesien?
oder
markieren alldort die lieben Polen
den
Teufel, der die Deutschen will holen?
Es
knistert aber nicht nur an dieser Stelle im Reiche;
im
Rheinland beobachten wir ganz das gleiche:
auch
hier möchte man sich selbständig machen, und nicht minder
partikularistisch
erglänzt der Vereinszylinder.
Und
es ertönt die alte deutsche Musike:
Wir
wollen unsere eigene kleine Republike!
Zweitausend
Jahre alt ist diese Melodie –
und
es scheint fast so, als lernten die Deutschen es nie.
Haben
sie denn nicht begriffen, was vor sich gegangen?
Fühlen
sie nicht im Osten nun Westen die klemmenden Zangen?
Müssen
sich denn die Deutschen immer untereinander zanken
und
vom Kürassierstiefel zum Schlafrock hin und wieder wanken?
Ein
Deutschland! Soll das niemals anders werden?
Ein
Deutschland ohne diese lächerlichen Bürgergebärden –
Ein
Deutschland! Freunde, seid klug und gebt euch die Hand!
Wir
pfeifen auf schrilles Hurrageschrei. Wir brauchen
ein
Vaterland!
Volk
in Not
Von
Theobald Tiger
Und
während in Versailles die Würfel rollen –
das
Spiel steht schlecht …
Und
während in Versailles die Würfel rollen,
tanzt
dieses Volk in nimmermüdem Foxtrott
um
seine alten goldnen Kälbergötzen:
Der
Spielklub stippevoll. Die feinen Leute,
die
vormittags geschlummert, nachmittags
hingegen
vierte Hypotheken sanft verschoben,
erblühn
im hellen Schein der gelben Lampen
zu
neuem Leben. Poker. Meistens Bac.
„Die
Frau da drüben ist die Freundin
des
großen Brauereibesitzers … Ja, die Perlen –!
Er
kanns und hats, und sie verliert am Abend,
was
er am Tag verdient. Ich bitte Sie! Er lacht!“
Ein
großer Schlag – der Jüngling, der die Bank hält,
zahlt
(Haltung! Haltung! Halt dir senkrecht, Karle!)
auf
einem Sitz an einen hagern Alten
einhundertfünfzigtausend
Mark.
Versailles?
–
Ah!
Versailles!
Es
rauscht der Ball. Das Ganze: dritter Klasse.
Hier
tanzt das Glück auf ziemlich großen Füßen,
hier
lacht das Glück von ziemlich dicken Lippen,
hier
schiebt der Mann mit der Matrosenmütze –
und
eine heisre Stimme ruft: „Du, Orje! Orje!
Schmeiß
mir doch ma det schwachze Meechen riba!“
Und
eine andre Stimme übertönt den Reigen,
hart,
im Kommandotone: „Bitte woiter!“
Versailles?
–
Ah!
Versailles!
Im
Kino nicht ein Platz. Vorn, auf der Leinwand,
ist
Mord und Totschlag. Seidne Betten kippen,
die
Dirne hebt beschwörend dürre Arme,
der
Ludewich zieht voller Hast ein Messer,
und
hinten lauscht, im Cutaway, der Gent.
Ein
Brief:
„Da
du mich nicht mehr liebst,
schieß
ich mir tott. Auf Wiedersehen! Luzie.“
Das
Publikum: ein Tier mit tausend Köpfen –
kein
Laut – die Frauen atmen schwerer –
der
Regisseur legt einen kleinen Mord ein – –
Versailles?
–
Ah!
Versailles!
Und
so beim Rennen, so bei Künstlerspielen,
und
so im Café, in Hotels und Dielen …
Versailles?
–
Ah!
Versailles!
So
sollt man also trauern? Und: es hilft nichts?
Es
kommt ja alles, wie es kommen muß?
Und
keiner achtete auf eure Haltung?
Ich
weiß doch nicht.
Ein
Volk in schweren Nöten,
ein
Volk vor bitterster Entscheidungsstunde,
vergibt
sich nichts, wenn es in Würde schweigt.
Ich
hielt euch einen Spiegel vor. Saht ihr nur Fratzen?
Das
Glas zerrt nicht – es wird wohl Wahrheit sein.
Bedenkt:
der Panter mit den scharfen Tatzen
spielt
jetzt mit uns. Er tastet nach dem Rhein …
Wacht Deutschland noch? Dann soll es höher streben:
Gebt uns das alte deutsche saubre Leben!
Weihnachten
Von
Theobald Tiger
In
meiner Heimat, da oben im Norden,
sind
wir als Kinder versammelt worden,
Anna
stand hinter der Tür und hatte
einen
Vollbart an aus furchtbar viel Watte.
Und
während wir drin um den Weihnachtsbaum sangen,
hat
sie ganz vorsichtig angefangen,
ein
kleines Paket durch die Tür zu schieben,
da
stand nun irgendwas drauf geschrieben:
Für
Peter – Für Theo – Für Mary – Für Claire –
10
und
wir platzten vor Neugier, was das wohl wäre – –
Und
dann machte die Weihnachtsfrau draußen: Schwapp!
Und
warf den Packen und rief:
„Julklapp!“
Ich
werf euch nun so einige Packen
mit
Spielzeug und Bildern und Nüssen zum Knacken:
Karl
Liebknecht, wie bist du rein und fanatisch,
auf
die Dauer wirkst du doch unsympathisch;
du
bestärkst den Radau, treibst der Rechten die Mühlen –
ich
glaube, du sitzt grade zwischen zwei Stühlen – –
Julklapp!
Frau
Schwerindustrie, da hockst du und wartest.
Weißt
du, daß du uns vier Jahre lang narrtest?
Jetzt
sind dir die Felle stromabwärts geschwommen –
Bei
Thyssen! sie werden schon wiederkommen – –
Julklapp!
Herr
Major, die gesträubtesten Schnurrbarthaare
trösten
uns nicht über die letzten Jahre.
Wo
ist Ihr Glanz? Jetzt sitzt er und putscht.
Herr
Major, Sie sind hinten runtergeruscht!
Julklapp!
Fühlst
du dich etwa vom Frieden betroffen?
Herr
Schieber? Mein Lieber, ich will es nicht hoffen.
Denn
darin seid ihr euch gleich geblieben:
Für
den Tüchtigen gibt es stets was zu schieben – –
Julklapp!
A
und
S – eine liebe Erscheinung!
Von
jeher war das meine Meinung:
wir
haben zu wenig Beamte im Haus.
A.
u.
S. Vielleicht heißt das: „aus“?
Julklapp!
Die
Kinder … das ist ein ernstes Kapitel:
Brotkarten,
Vaterns Soldatenkittel –
die
Schule fällt aus – unsre Hoffnung nicht minder –
ich
glaube, ich habe zum Glück keine Kinder …
Julklapp!
Der
Tanz ist erwacht mit einem Male.
Der
Fox-Trott zieht durch alle Lokale;
und
wer ihn nicht richtig tanzen kann,
der
ist überhaupt kein deutscher Mann – –
Julklapp!
Mein
Kino, du hast jetzt gute Tage!
Keine
Aufsicht mehr, keine Zensurenplage.
Man
kann jetzt unverhüllt alles sehn –
und
trotzdem bist du genau so schön – –
Julklapp!
*
* *
Ich
hoffe, ich habe keinen vergessen.
Aber
ihr geht nun gewiß zum Weihnachtsessen.
Und
wenn wir das hier so alles lesen:
es
ist eine schöne Bescherung gewesen!
Ausblick
Von
Theobald Tiger
Wenn
ick mir so die Welt bekieke,
besonders
die am Pankefluß,
den
Straßenkampf mit Tanzmusike,
den
Schiebetrott des Spartakus …
Lieg
ich des Morgens still im Bettchen,
und
kommt Mama auf leisen Zehn
mit
unserm guten Morgenblättchen –:
Ick trau mir jar nich hinzusehn!
Der
Pole stiehlt zu günstigen Zeiten,
in
Rußland stiehlt der Bolschewik;
es
stiehlt sich trotz der großen Pleiten
noch
mancher in die Politik.
Im
Kriege sah man ihn verfechten
das
„Siegen oder Untergehn“!
Heut
donnert er von Bürgerrechten –
Ick trau mir jar nich hinzusehn!
Und
wählt nicht auch die liebe Claire
(längst
ist die Süße zwanzig Jahr!)
im
großen deutschen Frauenheere?
Wie
dünkt mich dieses wunderbar!
Was
kümmert sie der ganze Bettel –
sie
fragt mich ängstlich: Wähl ich den?
Und
dann nimmt sie den falschen Zettel –
Ick trau mir jar nich hinzusehn!
Und
kurz und gut: Der ganze Rummel
hängt
aller Welt zum Halse raus.
Sie
schätzt den Schummel und den Bummel
und
zieht sich keine Lehre draus.
Wir
danken für des Aufruhrs Gaben!
So
mußt es in die Binsen gehn.
Nur
Arbeit füllt die leeren Waben!
Und
wenn wir das begriffen haben,
trau ick mir wieder hinzusehn!
oben
________________________________________________
Textgrundlage: „Ein
Deutschland!“ Kurt Tucholsky unter dem Pseudonym
Theobald Tiger aus:Ulk
Jahrgang
48. Nummer 1. Seite 2, Erscheinungsdatum: 5. Januar 1919
Verlag:Rudolf Mosse Erscheinungsort: Berlin
Textgrundlage:
„Volk
in Not“, Kurt Tucholsky unter dem Pseudonym
Theobald Tiger, aus:Ulk Jahrgang
48. Nummer 19. Seite 66, Erscheinungsdatum: 9. Mai 1919, Verlag:
Rudolf Mosse, Erscheinungsort: Berlin
Textgrundlage:
„Weihnachten“
(Untertitel: In meiner Heimat), Kurt Tucholsky),
unter dem Pseudonym Theobald Tiger, aus: Ulk Jahrgang 47, Nummer 51,
Seite 202. ED: 20. Dez. 1918,
Verlag Rudolf Mosse, ED: Berlin
Textgrundlage: „Ausblick“, Kurt Tucholsky unter dem
Pseudonym Theobald Tiger
aus: Ulk Jahrgang 48. Nummer 4. Seite 10, ED:
24.01.1919, Verlag: Rudolf Mosse, Ort: Berlin
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412: "Stilleben
mit Birnen und Trauben in Kupferschale, Otto Scholderer, gemeinfrei
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