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Literatur


04.2


Literarische Epochen

Verzeichnis der literarischen Epochen
Realismus



 Frühling 1853

Welch‘ schauriger Lenz, der Sonne beraubt,
Um Pfingsten die Bäume noch nicht belaubt!
Der Eisbär sperrte den Nachen auf,
Propheten hemmten der Erde Lauf;
Die Hochgebildeten und Geweihten
Knieten vor Tischen, die prophezeiten!
Es war eine stechende Maienluft,
Das Säulein schrie in der Menschenbrust.



 Sonntags

Lässig bald und wieder schneller
Greifend in den blauen Himmel
Dreht sich eine graue Mühle
Hoch am schweigenden Friedrichshain.

Drüben glänzt des Königs Kuppel,
Still ist’s auch in jener Gegend;
Schmollend läßt er Gras ergrünen
Vor dem riesigen Schloßportal.

Aus den Thoren summt und brummt es,
Und das Weichbild schwirrt von Geigen;
Fernhin watet in dem Sande
Staubaufregendes Volk Berlins.

Aber auf dem trägen Flusse
Fahren stille Wendenschiffe;
Durch die Wipfel in die Ferne
Hoch die sonnigen Segel zieh’n.



 Im Thiergarten

Ich bin ein Fremder hier zu Lande,
Wo Krongewalt herrscht allerwärts,
Mich binden nicht die starren Bande,
Doch dieser Hain erfreut mein Herz!

Um dieses grünen Lebens willen,
Um dieser Weiher sanfte Fluth,
Um diese ruhgewiegten, stillen
Baumwipfel in der Abendgluth,

Um diesen tiefen milden Frieden,
Den mir ein braver Todter beut,
Sei ihm ein voller Dank beschieden
Des Herzens, das dies Grün erfreut!








oben
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Textgrundlage: „Frühling 1853“ ,  „Sonntags“ und
"Im Thiergarten", Gottfried Keller aus Neuere Gedichte, Berlin,
Zweite vermehrte Auflage, Braunschweig, Druck und Verlag
von Friedrich Vieweg und Sohn, 1854
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"Die Wellen", Gustav Courbet, 1869, gemeinfrei
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