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Literatur


04.2



Erlebte Gedichte

Otto Julius Bierbaum


Merkreime für Moralisten

 

I.

Die Sittlinge müssen sich immer genieren,
Wenn Einer recht herzhaft von Liebe spricht,
Sie denken halt immer ans – Amüsieren,
An des Räthsels Heiligkeit denken sie nicht.
 
II.

Ihr armen Schächer, wie thut ihr mir leid
In eurer Tugend engem Kleid,
Darunter die Triebe zu Kranklheiten werden,
Zu bösen Dünsten und allen Beschwerden
Der Leibeslüge und Heuchelei.
Nie seid ihr froh, nie seid ihr frei,
Denn euer Wahn hat zur Sünde verdacht,
Was Creaturen selig macht.
Des Lebens Quell mit Schmutz zu verschlammen,
Tragt alle Unnatur ihr zusammen;
Was fröhlich, rein, lebendig fliesst,
Wird euch und uns zum faulen Bache,
Zur giftigen Sünden-Unken-Lache,
Wenn eure „Moral“ hinein ihr giesst.
Oh Jammermissbrauch mit dem Wort!
Was blüht, ist Leben, todt, was dorrt;
Ihr aber streut Salz auf des Lebens Fluren,
Was keimt und treibt, ist euch verhasst,
Dem Leben grabt ihr ohne Rast
Das Grab, ihr „sittlichen“ Lemuren.
 
III.

Natur, mein Freund, ist immer sittlich.
Der Staatsanwalt freilich ist unerbittlich.
Jüngst hat er ein Andachtsbuch konfiszirt,
Weil sich zwei Fliegen drauf kopulirt.


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Lichtglaube
(An Karl Henckell)


 
Gestern die Welt in Grau,
Rieselnder Regen troff,

Himmel und Erde ersoff;

Heute der Himmel blau.
Sonnenschein goldgüssig träuft,
Ueber die Halbe läuft
Wogewind lau.
 
Zürnegotts Reich zerfällt!
Heiteres Heidenthum
Leuchtet das Leidenthum
Froh aus der fröhlichen Welt.
Siegendes Licht zerriss
Hockende Finsterniss.
Alles erhellt!


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Sonne!
 

 

     Nach langen Nebelwochen voll kaltem
Schattengrau heute der erste Tag, da sich der
Himmel hellt, die Sonne wieder scheint, das
heilige Licht des Lebens.
     Ich erkenne Dich, gütige Gottheit, und
meine Augen beten Dich an mit hellen Blicken,
im Lichte beten sie das warme Leben an und
saugen seine gütigen, goldenen Strahlen ein
mit Kindeswollust, das an der Mutterbrust
Nahrung aus heiligem Leibe saugt.
     Also trink ich mit strahlenden Augen den
Gnadenstrom unerschöpflicher Werdenskräfte
mit Lust, der von der Sonne, dem heiligen,
liebeflammenden Leibe kommt.
     Lebensgluth-schürender Feuerwein sind die
goldenen Strahlen der Sonne, und der begnadete,
betende Trinker taumelt im Herzen begeisterten
Tanz, ob auch sein Fuss bedächtig hin über der
Erde rauhen Rücken geht, denn seine Seele ist
auf der Sonne, denn seine Seele brennt in den
Gluthen lebensschenkender Güte.
      In der seligsten Liebesbrunst brennt sie,
tanzgewirbelt ein stäubender Funken in dem
riesigen Sonnenfeuer, sie, auch sie ein jauchzen-
des Flackertheilchen der großen Liebeslohe,
die in die kreisende Dunkelheit ihre lebenan-
fachenden Fackeln reckt.

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Fieberlied

 

Dieses Lebens Jammerthal
Steht voll schwarzer Schmerzensrosen,
Die an grauem Dornenstrauche,
Zwischen scharfgezackten dunkel-
Grünen Blättern blüh’n.
Grosse, schwarze  Schmerzensrosen
Nicken über meinem Haupte
Und entschütten ihrem Schoosse
Giftig gelben Samenstaub.
 
Dicker, dumpfer Duft umschwillt mich
Sichbarlich in sammetblauer
Schwüler, feuchter Wetterwolke,
Und von ferne hör’ich Geigen.
Geigen hör’ ich ein wildes Lied.
Schmerzenschrill und voller Wollust,
Voller Gier und greller Helle,
Und im Takte meines Herzschlags,
Stossweis wechselnd, klingt das Lied.
 
Lullt mich ein zu Schlaf und schreckt mich
In ein athemloses Wachen,
Drückt die Lider mir wie Bleilast,
Reisst mein roth entzündet Auge
Auf in eine blutige Sonne - -
Und die schwarzen Schmerzensrosen
Nicken über mir . . .


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Genesung



Lange lag ich krank im Haus
Unter dicken Decken,
Heut zum ersten Mal hinaus
Darf den Kopf ich stecken.
 
Vor dem Fenster Wipfelgrün,
Ach, wie ist das helle,
Und es treibt mich frühlingskühn
Bis zu Thor und Schwelle.
 
Fliegt mein Blick sehnsüchtig weit
Ueber Blühewonnen,
Ist Gedenken zager Zeit
Wie ein Dunst zerronnen.
 
In mein Auge schwillt ein Schein
Himmelheller Reine:
Leben! Leben! Bist Du mein?
Und ich weine, weine . . .

   
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