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Literatur


04.2



Gedichte - Luise Deusch
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Einst
 
Wir alle, alle sind gebunden;
Die frei sich wähnen, sind es nicht.
Wir alle, alle tragen Wunden
Und tiefe Sehnsucht nach dem Licht.
 
Wir müssen dulden rauhe Zügel,
Mühsame Steige, dornumhegt;
Um stolzgespannte Geistesflügel
Wird uns ein wehes Band gelegt.
 
Wir suchen, unverdrossne Ringer,
Uns frei zu machen immer noch;
Bis uns zuletzt ein stärkrer Finger
Bezwingt und führt in hartem Joch.
 
Und endlich müssen wir uns legen
Noch lassen in ein eng Verlies,
Um vollzureifen für den Segen,
Den uns ein weiser Herr verhieß.
 
Bis einmal er die dunkle Zelle
Zerbricht, und sich die Stunde zeigt,
Da in die Freiheit, in die Helle
Die stauberlöste Seele steigt.
 
Dann sind die Fesseln all gesprungen,
Um keine ist uns fürder leid,
Und ewig wird der Sieg gesungen,
Wo Stimme sich an Stimme reiht.


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Der Mächtigste
 
Man sagt, wenn jemand arglos überschritte
Die Stelle unsrer künft’gen Ruhestätte,
Uns kalter Schauer jählings überglitte.
 
Ich frage, ob man nie vernommen hätte
Voraus der Freude wonnigleichten Gang,
Das feine Klirren ihrer Silberkette?
 
Sie wirkt so zart nach ihrem Frauenrang;
Viel fester greift der Schmerz nach seinen Rechten,
Ein Herr ist er, der jeden noch bezwang.
 
Und wenn wir einmal festlich Kränze flechten,
Bereitet seine Fesseln schon der Tod
Und wird uns unbarmherzig alle knechten.


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Textgrundlage: „Einst“, "Der Mächtigste,  Luise Deusch,
aus: Gedichte, Verlag v. J. F. Steinkopf, Stuttgart,
gedruckt bei J. F. Steinkopf, Stuttgart,
Digitized bei google, Original from Princton University

Logo 299: "The sleeping Princess" - Frances MacDonald Mc Nair, 
1910,  gemeinfrei

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