lifedays-seite

moment in time



Literatur


04.2



Marceline Desbordes-Valmore
Das Lebensbild einer Dichterin

Zweiter Teil: Gedichte






Suchende Seele

Ich bin das Gebet, das die Breiten
Der Erde besitzlos durchflieht,
Bin die Taube, die hoch in den Weiten
Zur Stätte der Liebe zieht.
Ich durchflog und durchspähte vergebens
An beiden Flanken der Welt,
Due fruchtbaren Wege des Lebens,
Das Gottes Atem erhält.
 
Der Atem weht meines Sanges
Vielklagende Inbrunst an,
Daß er hell und begeisternden  Klanges
Die Armen erheben kann.
Dann preise ich deine Wonnen,
Erinnerung, ewige du,
Und kreise von Sonne zu Sonnen,
Unendlicher Zukunft zu.
 
Ich suche, die Schwingen zu baden,
Die Wasser der Wildnis auf,
Denn ich weiß, zu andern Gestaden
Steigt endlich ein jeder hinauf,
Die Völker, die drunten auf Erden
Der Hunger verstört und zerbricht,
Wie gefallene Engel werden
Sie heimberufen ins Licht.
 
Nehmt mich mit; ich bin Mutter, ich habe
Eine einzige Bitte zu tun,
Um die köstlichen Früchte im Grabe,
Um die Kleinen, die drunten ruhn.
Du Herr über Weinen und Wähnen,
Du Schöpfer von Leben und Glück,
Ich gebe dir all meine Tränen,
Gib mir meine Kinder zurück!


zurück





Der entblätterte Kranz
 
Ich gehe und trage hinauf in des Vaters Garten,
Wo jede zertretene Blume lebendig loht,
Meinen entblätterten Kranz; ich will knieen und warten:
Mein Vater hat viele geheime Arznei für den Tod.
Ich gehe und sage – und sei’s nur mit schweigenden Tränen:
„Ich habe gelitten, sieh her!“
Und da sieht er mich an:
Wie hohl auch die Wangen und bläulichen Schläfen gähnen,
Mein Vater schaut lange, und liebend erkennt er mich dann.
„Bist du es, verzweifelte Seele?“ erhebt mich sein Fragen.
„So war deinen irrenden Füßen die Erde zu klein?
Blick auf, ich bin Gott! Wirf ab deinen Gram und dein Klagen,
Hier wartet dein Haus, hier wartet mein Herz – tritt ein!“
O Gnade! O Vater! O heilige Zufluchtsstätte!
Dein weinendes Kind – du hast es in Güte erhört!
Ach, wenn ich auf Erden die himmlische Hoffnung nicht hätte,
Daß du mich errettest, wie wär’ ich vergrämt und verstört.
Du verwirfst nicht die Blume, nur weil ihre Schönheit vergangen,
Diese irische Schuld – der Himmel sieht sie nicht an;
War treulos dein Kind, es wird dennoch Verzeihung empfangen,
Wenngleich es alles verschenkt und gar nichts gewann.









   lifedays-seite - moment in time